Leitthema HNO 2014 · 62:498–501 DOI 10.1007/s00106-014-2891-8 Online publiziert: 18. Juli 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

R. Siegert · C. Neumann Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, Prosper-Hospital, Recklinghausen

Vollimplantierbares Hörsystem bei   Atresia auris congenita Aktive implantierbare Hörsysteme sind ursprünglich primär für Schallempfindungsschwerhörigkeiten entwickelt worden. Die Ankopplung des Vibrators war auf eine normale Mittelohranatomie ausgerichtet. Für Patienten mit Atresia auris congenita und einer großen Individualität der Fehlbildung wäre ein vollimplantierbares System eine verbesserte Rehabilitationsmöglichkeit.

Hintergrund Patienten mit einer Atresia auris congenita haben typischerweise einen Schallleitungsblock von 50–60 dB bei normaler cochleärer Funktion. Ihre Mittelohranatomie ist fehlgeformt und weist eine große individuelle Variabilität auf. Sie können unter bestimmten Voraussetzungen tympanoplastisch im Rahmen der sog. Atresieoperation, die die Autoren dieses Beitrags meist mit einem Ohrmuschelaufbau kombinieren [1], versorgt werden. Alternativ können sie mit konventionellen oder teilimplantierbaren Knochenleitungshörsystemen mit offenen (perkutanen) oder geschlossenen (transkutanen) Implantaten versorgt werden. Auf die offenen und geschlossenen Implantate wird in dieser Ausgabe der HNO ausführlich eingegangen. Allen sowohl aktiven als auch passiven teilimplantierbaren Systemen gemeinsam ist der Nachteil, dass eben nur ein Teil implantiert ist und ein weiteres Bauteil extern getragen wird. In diesem befindet sich typischerweise die Stromversorgung, das oder die Mikrofone und die Elektronik.

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Vollimplantierbare Systeme bieten die Chance, diese Patienten wesentlich besser zu rehabilitieren, da ihr Hörsystem eben völlig unsichtbar ist und in jeder Lebenssituation, also auch beim Duschen oder Baden, getragen und funktionell genutzt werden kann. Sie benötigen neben einem implantierbaren, ggf. transkutan von außen aufladbaren und nach einer gewissen Zeit auszuwechselnden Akku ein Mikrofon. Es existieren zwei unterschiedliche vollimplantierbare aktive Hörsysteme: Das System Esteem nutzt das vorhandene Trommelfell als natürliches Mikrofon. Da es bei der Atresie kein Trommelfell gibt, kommt für diese Patienten nur ein System mit ebenfalls zu implantierenden Mikrofon infrage.

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Bei der Atresie kommt nur ein System mit zu implantierenden Mikrofon infrage Das erste vollimplantierbare Hörsystem stammte von der Fa. Implex GmbH, Deutschland, und wurde unter dem Namen Totally Integrated Cochlear Amplifier (TICA) klinisch eingeführt und vermarktet. Von 1999 bis 2001 wurde es bei etwa 32 Patienten implantiert [2]. Nach technischen und ökonomischen Problemen wurde die Fa. Implex 2004 jedoch liquidiert. Die zweite Generation der vollimplantierbaren Hörsysteme mit Mikrofon wurde von der Fa. Otologics, USA, entwickelt und in Europa klinisch eingeführt. Eine FDA-Zulassung wurde nie erreicht. Es war eine Weiterentwicklung ihres ak-

tiven teilimplantierbaren Systems SIMOS mit grundsätzlich gleicher Ankopplung an die Gehörknöchelchen. Dazu wurde mit einem vibrierenden Stift der Amboss unter leichter Vorspannung berührt. Über die ersten, noch vorläufigen Ergebnisse mit diesem System hatten die Autoren dieses Beitrags bereits zuvor berichtet [3]. Ziel des hier dokumentierten Projekts war es, das einzige vollimplantierbare, aktive Hörsystem mit ebenfalls zu implantierendem Mikrofon für die Applikation bei Mittelohrfehlbildungen zu modifizieren, klinisch einzuführen und die entsprechenden Ergebnisse zu analysieren.

Material und Methode Von 2006 bis 2012 haben die Autoren dieses Beitrags das System bei 28 Patienten implantiert. Es handelte sich um 13 Männer und 15 Frauen, im Alter von 13–70 Jahren. Davon wiesen 5 eine Atresia auris congenita mit Schalleitungsblock auf, 11 kombinierte Schwerhörigkeiten verschiedener Genese und 12 eine mittelbis schwergradige Schallempfindungsschwerhörigkeit. Bei den Patienten mit Atresia auris congenita wurde zunächst die Atresieplatte abgetragen und anschließend der fehlgeformte Hammer-Amboss-Komplex entfernt. Das Halteelement wurde wie auch bei nicht fehlgebildeten Mittelohren angepasst und mit Osteosyntheseschrauben am Planum mastoideum fixiert [4]. Eine speziell für diese Indikation konstruierte, modifizierte Bell-Prothese wird für die Schallübertragung genutzt (Fa. Kurz; . Abb. 1). Es handelt

Abb. 1 9 Modifizierte Bell-Prothese (1) und Stapesköpfchen (2) a kurz vor und b nach der Ankopplung

Abb. 2 9 Spezielle Zangenfixationsvorrichtung   a ohne, b mit Prothese fixiert am Transducer. 1 Haltearm für den Transducer,   2 Arme mit Stiften zum Andrücken des Röhrchen an den Draht der Prothese,   3 Handgriff für die 2 Arme, 4 Transducer, 5 Prothese

0

0,25

0,5

20

0,75

1

1,5

2

3

4

6

mit HG ohne HG

40

60 80 100

Abb. 3 8 Gesamtes implantiertes System Carina™. 1 Transducer, 2 Elektronik, 3 Mikrofon

sich um einen kleinen „Korb“ aus Titan, der mit einem Draht verbunden ist. Der Draht wird so gebogen, dass er nach optimaler Positionierung des Korbs über das Stapesköpfchen in Richtung Transducer zeigt. Der Draht wird so weit gekürzt, dass er 2 mm in den Transducer reicht. Mit einer speziell konstruierten Zangenvorrichtung wird der Draht mit der Hülse des Transducers verbunden (. Abb. 2).

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Abb. 4 8 Mittlerer tonaudiometrischer Hörgewinn im Freifeld. Abszisse Frequenz (kHz), Ordinate Hörschwelle (dB HL), HG Hörgerät

Der Transducer wird dann mit der Prothese in das am Knochen bereits fixierte Halteelement eingebracht und mit einer joystickähnlichen Vorrichtung endgültig auf den Stapes mit minimaler Vorspannung positioniert. Diese wird jetzt intraoperativ durch die Widerstandsänderung des Transducers gemessen und justiert.

Anschließend werden das elektronische Bauteil und das Mikrofon implantiert (. Abb. 3) und miteinander verbunden und eine abschließende akustisch-elektrische Funktionskontrolle des Geräts durchgeführt, bevor die Wunde verschlossen wird. Sechs Wochen postoperativ erfolgte die Aktivierung des Systems und eine HNO 7 · 2014 

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Zusammenfassung · Abstract

Ø Verständlichkeit für Einsiber bei 65 dB Ø Verständlichkeit für Einsiber bei 65 dB

80 60 40 20 0

mit Hörgerät

ohne Hörgerät

Abb. 5 8 Mittlerer Verständlichkeitsgewinn im Freifeld. Ordinate Verständlichkeit (%)

weitere, verfeinerte Anpassung nach weiteren 6 Wochen. Die tonaudiometrischen Hörschwellen wurden im Freifeld und ggf. unter maximaler Vertäubung des Gegenohrs im Abstand von 1 m und einem Winkel von 0° zum geeichten Lautsprecher. Die Verstärkung wurde nach der subjektiv angenehmsten Lautstärke bei 65 dB Sprache („most comfortable listening level“) gewählt. Für die Sprachverständlichkeitsmessungen wurde wie bei Hörgeräteüberprüfungen üblich der Freiburger Sprachtest verwendet.

Ergebnisse Die klinische Nachuntersuchungszeit betrug mindestens 3 Monate. Intra- oder postoperative Komplikationen oder eine Abwanderung der Knochenleitungsschwelle traten nicht auf. Der Hörgewinn in den 4 Hauptsprachfrequenzen 1, 2, 3 und 4 kHz betrug 36 dB HL (. Abb. 4). Im Sprachaudiogramm betrug die Verbesserung der Einsilberververständlichkeit 70% bei 65 dB HL (. Abb. 5). Der Hörgewinn für Zahlen lag bei 32 dB HL. Vereinzelt beklagten sich die Patienten über Nebengeräusche durch ihre eigenen Haare über dem Mikrofon. Obwohl dies nicht Teil der gezielten Nachuntersuchungen war, berichteten die Patienten gelegentlich auch über Schwierigkeiten bei vielen Nebengeräuschen. In dem Gesamtkollektiv mussten bei 11 von 28 Patienten die Geräte wegen Kabelbrüchen und Akkuproblemen neu implantiert bzw. explantiert werden.

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Diskussion Vollimplantierbare aktive Hörsysteme bieten potenziell optimale Rehabilitationsmöglichkeiten, insbesondere von Patienten mit schweren Mittelohrfehlbildungen wie der Atresia auris congenita. Da bei diesen Patienten auch kein Trommelfell angelegt ist, kommt für sie nur ein vollimplantierbares System vom Typ Carina™ infrage. Im Rahmen dieses Projekts haben die Autoren dieses Beitrags das System Carina™ dahingehend modifiziert, dass es nicht nur im Sinne seiner ursprünglichen Indikation bei Schallempfindungsschwerhörigkeiten, sondern auch bei Schallleitungsstörungen eingesetzt werden kann. Bei funktionierendem System sind die damit zu erzielenden Hörgewinne gut. Außerdem ist der Aspekt, kein Gerät außen tragen zu müssen, für viele Patienten äußerst erstrebenswert. Nachteilig ist dagegen die relativ aufwendige Operation, die nur bei ausreichender Pneumatisation der Mittelohrräume, funktionsfähigem Stapes und nicht bei Kindern durchzuführen ist. Die bisherigen technischen Probleme waren inakzeptabel hoch. Diese konnten jetzt angeblich gelöst werden. Trotzdem ist die Herstellerfirma Otologics liquidiert worden. Anteile davon sind von der Fa. Cochlear übernommen worden, die die Produktion des Carina™-Systems fortsetzen wollen.

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Nachteilig sind die relativ aufwendige Operation und technische Probleme Dennoch bleiben neben den technischen Risiken einige prinzipielle Probleme vollimplantierbarer Systeme. Dazu zählen die physikalischen Rahmenbedingungen eines implantierten Mikrofons, dass keine Richtcharakteristik ermöglicht, die Notwendigkeit der regelmäßigen Reoperation zum Austausch des Akkus bzw. der Elektronik, der Unmöglichkeit, die Hardware (Elektronik) ohne Operation zu aktualisieren, und die notwendigen patientenseitigen anatomischen und altersmäßigen Voraussetzungen für die Implantation.

HNO 2014 · 62:498–501 DOI 10.1007/s00106-014-2891-8 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 R. Siegert · C. Neumann

Vollimplantierbares Hörsystem bei Atresia auris congenita Zusammenfassung Aktive implantierbare Hörsysteme wurden primär für Schallempfindungsschwerhörigkeiten entwickelt worden. Die Ankopplung des Vibrators war auf eine normale Mittelohranatomie ausgerichtet. Im Rahmen dieses Projekts haben die Autoren dieses Beitrags das einzige vollimplantierbare, aktive Hörsystem, Carina™, mit ebenfalls zu implantierenden Mikrofon für die Applikation bei Atresia auris congenita modifiziert und klinisch eingeführt. Dazu wurde eine spezielle Prothese für den Transducer entwickelt und dessen individuelle Ankopplung mithilfe eines speziellen Zangensystems ermöglicht. Bei 5 Patienten mit Atresia auris congenita wurde dieses System eingesetzt. Die audiologischen Ergebnisse mit einem Hörgewinn über 30 dB HL waren gut. Auf die anatomischen Indikationsgrenzen und Probleme des Systems wird eingegangen. Schlüsselwörter Schallleitungsschwerhörigkeit · Hörgeräte · Knochenleitung · Magnet · Atresia auris   congenita

A fully-implantable active hearing device in congenital auricular atresia Abstract Active implantable hearing devices were primarily developed for sensorineural hearing loss. The vibrator coupling mechanisms were oriented towards normal middle ear anatomy and function. The aim of this project was to modify the only fully implantable hearing device with an implantable microphone for application in congenital auricular atresia, Carina™, and to introduce the modified device into the clinic. A special prosthesis was developed for the transducer and its individual coupling achieved by a special cramping system. The system was implanted in 5 patients with congenital auricular atresia. Audiological results were good; with patients’ hearing gain exceeding 30 dB HL. Anatomic limits to the system’s indications and technical drawbacks are also discussed. Keywords Conductive hearing loss · Hearing aids ·   Bone conduction · Magnet · Congenital   auricular atresia

Fachnachrichten Fazit für die Praxis F Das modifizierte vollimplantierbare aktive Hörsystem kann bei Schallempfindungsschwerhörigkeiten und bei Schallleitungsstörungen eingesetzt werden. F Voraussetzungen sind die ausreichende Pneumatisation der Mittelohrräume und ein funktionsfähiger Stapes. F Regelmäßige Reoperationen zum Austausch des Akkus oder zur Aktualisierung der Elektronik sind dabei erforderlich. F Für Kinder ist das System nicht geeignet.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. h.c. R. Siegert Klinik für Hals-Nasen-OhrenHeilkunde, Kopf- und Hals-  Chirurgie, Prosper-Hospital Mühlenstr. 27,   45659 Recklinghausen ralf.siegert@prosper-  hospital.de

Einhaltung ethischer Richtlinien

Tumor-Fatigue-Sprechstunde der Bayerischen Krebsgesellschaft e.V. Obwohl viele PatientInnen von Tumor-Fatigue betroffen sind, obwohl sie dadurch beeinträchtigt sind und trotz evidenzbasierter Therapieoptionen mangelt es in Deutschland an spezialisierten Einrichtungen. Um die Versorgungslücke zu schließen, bietet die Bayerische Krebsgesellschaft e.V. (BKG) in Zusammenarbeit mit dem Institut für TumorFatigue-Forschung (ITFF) eine kostenlose Fatigue-Sprechstunde an, die vom Förderverein des Tumorzentrums der Universität ErlangenNürnberg großzügig finanziell unterstützt wird. Es ist innerhalb der BKG e.V. das erste Angebot dieser Art. Es umfasst (Differential-) Diagnostik (v.a. Anamnese, Fragebögen, Tests), individualisierte Beratung und das Angebot evidenzbasierter, symptomatischer Therapien in Form von Kursen. Zudem können die Betroffenen psychoonkologische Begleitung und einen Kurzbefund z.B. zur Vorlage bei ihrem Rentenversicherungsträger erhalten. Weitere Maßnahmen (z.B. medikamentöse Therapien) erfolgen bedarfsweise extern.

Literatur

Die Sprechstunde ist in ein Forschungsprojekt eingebunden, an dem auch das Tumorzentrum der Universität Erlangen-Nürnberg (TUZ) und die Deutsche Fatigue Gesellschaft e.V. (DFaG) beteiligt sind. Die Pilotphase (September–Dezember 2013, Psychosoziale Krebsberatungsstelle Nürnberg) wurde erfolgreich abgeschlossen und die Ergebnisse beim DKK 2014 als Posterbeitrag vorgestellt.

1. Siegert R (2003) The combined reconstruction of congenital auricular atresia and severe microtia Laryngoscope 113:2021–2029 2. Zenner HP, Leysieffer H (2001) Total implantation of the Implex TICA hearing amplifier implant for high frequency sensorineural hearing loss: the Tubingen University experience. Otolaryngol Clin North Am 34:417–446 3. Siegert R, Mattheis S, Kasic J (2007) Fully-implantable hearing aids in patients with congenital auricular atresia. Laryngoscope 117:336–340 4. Jenkins HA, NiparkoJK, Slattery WH et al (2004) Otologics middle ear transducer ossicular stimulator: performance results with varying degrees of sensorineural hearing loss. Acta Otolaryngol 124:391–394

Es hat sich gezeigt, dass Bedarf für die Fatigue-Sprechstunde besteht. Zur Evaluation füllten alle PatientInnen anonym einen Fragebogen aus. Die Qualität der Sprechstunde wurde von allen PatientInnen als sehr hoch eingeschätzt. Um mittel-bis langfristig eine Versorgungsstruktur aufzubauen, soll die Sprechstunde nach dem „Nürnberger Modell der BKG e.V.“ auch in anderen Krebsberatungsstellen angeboten werden. Interessenten können sich bei der BKG e.V. oder dem ITFF melden.

Interessenkonflikt.  R. Siegert und C. Neumann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Der vorliegende Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Kontakt: Bayerische Krebsgesellschaft e.V. (BKG) Dipl. Psych. Markus Besseler -GeschäftsführungNymphenburger Straße 21A, 80335 München [email protected] Dr. phil. Irene Fischer Institut für Tumor-Fatigue-Forschung (ITFF) Buchklingen 19 91448 Emskirchen [email protected]

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[A fully-implantable active hearing device in congenital auricular atresia].

Active implantable hearing devices were primarily developed for sensorineural hearing loss. The vibrator coupling mechanisms were oriented towards nor...
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