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Übersicht

Animal Hoarding: eine psychische Störung mit Implikationen für die Öffentliche Gesundheit

Autoren

M. Gahr, B. J. Connemann, R. W. Freudenmann, M. A. Kölle, C. J. Schönfeldt-Lecuona

Institut

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

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Animal Hoarding (AH) ist eine psychische Störung, die durch eine übermäßige Zahl von gehaltenen Tieren, die Unfähigkeit, minimale Standards der Tierpflege und Hygiene aufrechtzuerhalten, und fehlende Einsicht in die entstehenden Defizite charakterisiert ist. Obwohl AH als Störungsbegriff weder im DSM-5 noch im ICD-10 repräsentiert ist, lässt es sich als Unterform der im DSM-5 bei den Zwangsstörungen neu aufgenommenen Hoarding Disorder (DSM5 300.3) klassifizieren. Infolge der hygienischen Defizite der Wohnräume und der mangelhaften Tierhaltung besteht ein erhöhtes Risiko für Tierseuchen und Zoonosen. Gezielte epidemiologische Studien fehlen gegenwärtig, doch scheinen Frauen häufiger betroffen zu ein. AH wird meist erst im späten Erwachsenenalter diagnostiziert. Neben einer sorgfältigen somatischen und psychiatrischen Diagnostik ist meist eine Kooperation mit den Veterinärämtern und Behörden notwendig. Komorbide psychische Störungen (insbesondere depressive, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen) sind häufig. Aktuell sind keine evidenz-basierten Therapien verfügbar. Soziotherapeutische und kognitiv-behaviorale psychotherapeutische Maßnahmen sowie die adäquate Behandlung von komorbiden psychischen Störungen werden empfohlen.

Animal hoarding (AH) is a mental disorder that is characterised by an excessive number of kept animals, inability to maintain minimal standards of animal care and hygiene, and deficient insight into the thereby developing failures and problems. Although AH as a disease concept is neither represented in the DSM-5 nor the ICD-10, it may be classified as a subform of the hoarding disorder (DSM-5 300.3) that was implemented in the DSM-5 as an obsessive-compulsive disorder. Due to the hygienic deficiencies of the living spaces and the insufficient keeping of animals there is an increased risk of epizootic diseases and zoonoses. Specific epidemiological studies do not exist, however, women seem to be affected more frequently. AH is diagnosed mostly in late adulthood. Besides thorough somatic and psychiatric medical diagnostics, cooperation with the veterinary offices and authorities is usually necessary. Comorbid mental disorders (particularly depressive, obsessive-compulsive and personality disorders) are frequent. Currently, no evidence-based therapies exist. Social therapy and cognitive-behavioural psychotherapeutic interventions as well as sufficient treatment of comorbid mental disorders are recommended.

● DSM-5 ● hoarding disorder ● Impulskontrollstörung ● Zwangsstörung " " "

Key words

● DSM-5 ● hoarding disorder ● impulse control disorder ● obsessive-compulsive " " " "

disorder

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1366445 Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 330–336 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0720-4299 Korrespondenzadresse Dr. Maximilian Gahr Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm Leimgrubenweg 12–14 89075 Ulm [email protected]

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Animal Hoarding: A Mental Disorder with Implications for Public Health

Übersicht

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Das Sammeln und Aufbewahren von Objekten ist ein bei zahlreichen Tierarten und Menschen erkennbares Verhalten, das aus evolutionärer Perspektive unter bestimmten Umständen einen Vorteil im Hinblick auf die Sicherung des Überlebens darstellt [1]. Die Zuschreibung von Krankhaftigkeit muss deshalb in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext erfolgen. Eine medizinisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit als dysfunktional kategorisiertem menschlichen Sammelverhalten erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts [2, 3], nachdem 1947 in New York ein spektakulärer Fall von bizarr anmutendem häuslichen Horten mit Todesfolge1 eine vielfältige mediale und wissenschaftliche Resonanz erzeugt hatte [4 – 6]. Im weiteren Verlauf wurde „Hoarding“ als psychiatrisches Symptom betrachtet [7] und in den 90er Jahren im Zusammenhang mit Schizophrenie sowie Zwangs-, Tic- und Impulskontrollstörungen diskutiert [8 – 10], wobei überwiegend Ähnlichkeiten zu den Zwangsstörungen gesehen wurden und die Störung diagnostisch entsprechend dort eingeordnet wurde („Compulsive Hoarding“) [3, 11]. Seit etwas mehr als zehn Jahren ist „Hoarding“ Gegenstand einer regen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zahlreichen auch experimentellen Studien [12 – 15], was dazu beigetragen hat, dass in der fünften Revision des Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM5) eine eigenständige diagnostische Kategorie für dieses Störungsbild („Hoarding Disorder“) eingeführt worden ist [16, 17]. Bei Störungen aus dem Spektrum der „Hoarding Disorder“ (HD) werden zwar überwiegend unbelebte Objekte („Object Hoarding“ [18]) gesammelt, doch können grundsätzlich auch belebte Objekte (Tiere) Gegenstand dysfunktionalen Sammelverhaltens sein [12]. Die Tagebücher des französische Schriftstellers Paul Léautaud (1871 – 1956), der im Jahr 1914 in seinem Haushalt im Pariser Vorort Fontenay-aux-Roses mit 39 Katzen, 22 Hunden, einer Ziege und einer Gans lebte [19], sind Zeugnis einer auffälligen Tierhaltung, möglicherweise vor dem Hintergrund einer HD. Eine erste Kasuistik über pathologisches Sammeln und dysfunktionales Halten von Haustieren datiert in der wissenschaftlichen Literatur auf das Jahr 1981 [20]. Für diese Sonderform einer HD hat sich der Begriff „Animal Hoarding“ (AH; deutsch häufig: „Tierhortung“ oder „Tiersammelsucht“) etabliert [18], der erstmals im Jahr 1999 in einer Publikation gebraucht wurde [21] und als eigenständiger Störungsbegriff erst seit einigen Jahren in der psychiatrischen Literatur diskutiert wird. Infolge der spezifischen Objektwahl ergeben sich bei AH Implikationen für die Öffentliche Gesundheit und die Veterinärmedizin, die bei anderen Formen von HD nicht in dieser Weise zum Tragen kommen. Ziel dieser Übersichtsarbeit ist die Darstellung einer möglichen diagnostischen Klassifikation von AH, der klinischen Erscheinung, epidemiologischer Gesichtspunkte, psychiatrischer Komorbiditäten und möglicher Therapieansätze sowie der konzeptuellen Schwächen der Diagnose AH. Dabei wird AH als

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Anwohner eines Hauses in Harlem (Manhattan, New York) hatten im März 1947 die Polizei verständigt, da sie sich Sorgen um die seit langem nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehenen Bewohner (die Brüder Homer and Langley Collyer) gemacht hatten. Bei der Eröffnung des Hauses wurden die beiden Leichen der Collyer Brüder sowie eine den gesamten Innenraum erfassende, labyrinth- und tunnelartig strukturierte Anordnung von Müll und wertlosen Gegenständen sowie Sprengfallen aufgefunden. Retrospektiv konnte rekonstruiert werden, dass Langley Collyer Opfer einer seiner selbst gebastelten und drapierten Sprengfallen geworden war und daraufhin der körperlich schwer kranke und auf die Hilfe seines Bruders angewiesene Homer Collyer ebenfalls verstorben war.

Sonderform einer „Hoarding Disorder“ aufgefasst. Zugleich werden mögliche Zusammenhänge mit der Öffentlichen Gesundheit diskutiert sowie die Rolle der Psychiatrie in diesem komplexen Gefüge verdeutlicht. Gelegentlich ist dabei eine Bezugnahme auf das verfügbare Wissen zu HD notwendig, wobei die Übersichtsarbeit grundsätzlich auf AH abzielt.

Methode !

Im September 2013 erfolgte eine systematische Literraturrecherche in Embase, Google Scholar, Medline und Scopus mit dem Suchbegriff „animal hoarding“. Initial ergaben sich dabei n = 296 Treffer. Für die Erstellung der Übersichtsarbeit wurden Originalarbeiten, Übersichtsartikel und Kasuistiken berücksichtigt, die einen Beitrag zu AH darstellten.

Definition, Klassifikation und klinisches Bild von „Animal Hoarding“ !

Die Erfassung und Beschreibung von dysfunktionalem Sammelverhalten mithilfe eines der beiden diagnostischen Systeme zur Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 F oder DSM-IV) war bisher nur durch Rückgriff auf diagnostische Kategorien möglich, deren genuine Störungsbilder einen meist phänomenologischen Zusammenhang zu HD/AH suggerierten (meist Zwangs- oder Impulskontrollstörungen) [14, 22, 23]. In der fünften Revision des DSM wurde eine eigenständige diagnostische Kategorie geschaffen, die bei den Zwangsstörungen eine Klassifikation pathologischen Sammelverhaltens als „Hoarding Disorder“ erlaubt [16]. Nach der Definition des DSM-5 (Diagnostic criteria, Hoarding Disorder DSM-5 300.3) müssen für die Vergabe der Diagnose einer HD folgende Kriterien erfüllt sein [16, 17] (Übersetzung der Autoren): a) Anhaltende Schwierigkeiten beim Wegwerfen oder Sich-Trennen von Besitztümern unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert. b) Diese Schwierigkeiten sind Folge eines starken Drangs, Gegenstände zu sammeln, oder von ausgeprägtem Distress beim Wegwerfen oder Sich-Trennen von diesen. c) Die Schwierigkeiten, Gegenstände wegzuwerfen, resultieren in einer Anhäufung von Besitztümern, die die aktiven Wohnbereiche überhäufen, dort Unordnung erzeugen und in erheblichem Ausmaß die beabsichtigte oder gewöhnliche Nutzung der Wohnbereiche beeinträchtigen. Wenn Wohnbereiche nicht unordentlich sind, dann nur als Folge von Interventionen Dritter (z. B. Familienmitglieder, Reinigungskräfte oder Behörden). d) Das Sammelverhalten verursacht klinisch signifikante Beeinträchtigungen im sozialen oder beruflichen Bereich oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (inkl. der Aufrechterhaltung einer gefahrlosen Umgebung für sich selbst und andere). e) Das Sammelverhalten kann nicht auf eine körperliche Erkrankung (z. B. Gehirnverletzung, zerebrovaskuläre Erkrankung, Prader-Willi-Syndrom) zurückgeführt werden. f) Das Sammelverhalten ist nicht durch Symptome einer anderen psychischen Störung erklärbar (z. B. Anhäufen von Gegenständen im Rahmen einer Zwangsstörung, reduzierter Antrieb im Rahmen einer depressiven Störung, Wahn bei Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung, kognitive Defizite bei einer neurokognitiven Störung, eingeschränkte Interessen bei Autismus-Spektrum-Störung).

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Einleitung

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Übersicht

Auch AH wird gelegentlich in einen sowohl ätiologischen als auch nosologischen Zusammenhang mit der Zwangsstörung gestellt [24]. AH ist als Störungsbegriff jedoch weder im ICD-10 (Kapitel F) noch im DSM-5 repräsentiert und kann damit lediglich als Subform der HD klassifiziert werden, sofern die oben genannten Kriterien erfüllt sind. In der aktuell publizierten S3-Leitline Zwangsstörungen (http://www.dgppn.de/fileadmin/ user_upload/_medien/download/pdf/kurzversion-leitlinien/S3Leitlinie_Zwangsstörungen_lang.pdf) wird AH nicht als mögliche Unterform oder klinische Ausprägung einer Zwangsstörung erwähnt. In der gegenwärtigen Literatur besteht weitestgehend Konsens darüber, dass für AH und HD grundsätzlich dieselben diagnostischen Kriterien gelten [18, 24], dennoch wird AH häufig als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet [20, 21, 25]. Zwar sind die Formulierungen des DSM-5 für HD stellenweise ungenau, da die Begriffe „possession“ und „item“ gebraucht werden und damit sowohl belebte als auch unbelebte Objekte bezeichnet werden können. Dennoch ist bei der Operationalisierung von HD eine Tendenz zur Beschränkung auf unbelebte Objekte erkennbar. Wird AH als eine Form von HD gemäß DSM5 eingeordnet, führt dies implizit dazu, dass Tiere grundsätzlich als Gegenstände betrachtet werden, was nicht unproblematisch und Gegenstand entsprechender Diskussionen ist [26]. Das ICD10 ermöglicht lediglich eine unspezifische Einordnung des AH, die entweder bei den abnormen Gewohnheiten oder Störungen der Impulskontrolle (F63.8 sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle) oder den Zwangsstörungen (F42.9 nicht näher bezeichnete Zwangsstörung) erfolgen kann. Neben den operationalisierten diagnostischen Kriterien für HD wurden drei für AH charakteristische weitere Symptome beschrieben, die jedoch lediglich auf einem Expertenkonsens basieren und nicht als diagnostische Kriterien gelten können [24]: ▶ Anzahl an Haustieren, die das gewöhnliche Maß deutlich überschreitet, ▶ Unfähigkeit, selbst minimale Standards der Tierpflege einzuhalten, mit der Konsequenz von Hunger, Krankheit und Tod der Tiere und ▶ der Patient zeigt keine Einsicht in die Defizite und möglichen Konsequenzen (Tiere sterben infolge von Hunger oder Erkrankungen, Funktionalität des Haushalts und der Wohnräume ist deutlich beeinträchtigt) [24]. Meist legen die Patienten ein starkes Bemühen an den Tag, die Anzahl der Tiere zu vergrößern oder zumindest zu halten [21, 24]. Die Patienten tragen sowohl durch aktive als auch passive Verhaltensweisen zu einer Vergrößerung der Anzahl der gehaltenen Tiere bei (z. B. durch Inszenierung als Person, bei der ungewollte Tiere abgegeben werden können, oder aktives Suchen und Beschaffen von Tieren; Unterlassen der Durchführung von Kastrationen mit der Konsequenz unkontrollierter Vermehrung der Tiere) [24]. Zahlreiche klinische Beobachtungen zeigen, dass Patienten mit AH ihr „Sammelverhalten“ im Sinne einer Selbstwahrnehmung als Tierschützer als „ich-synton“ erleben [24, 27, 28]. Dies wird insbesondere durch Ergebnisse einer Untersuchung von amerikanischen Zeitungsartikeln über medienwirksame Fälle von AH (n = 118 Fälle von AH; Beobachtungszeitraum 2000 bis 2003) und den Aussagen der verantwortlichen Tierhalter nahegelegt, die ihr Verhalten häufig unter Rekurs auf ihre Rolle als Samariter („good Samaritan“) oder „Opfer des Systems“ („professing to be victims of the system“) rechtfertigten [28]. Infolge der begrenzten empirischen Untersuchungen von Patienten mit AH muss bemerkt werden, dass „Ich-Syntonie“ der AH-assoziierten Symptome nicht als Charakteristikum von AH gelten

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kann. Vielmehr muss bemerkt werden, dass lediglich bei einigen Patienten mit AH beobachtet wurde, dass diese ihr „Tiersammelverhalten“ als „ich-synton“ beschrieben. Da bei Zwangsstörungen, in deren Nähe AH häufig gestellt wird [24], gerade das Gegenteil der „Ich-Syntonie“ typisch ist (ICD-10 F42: „… mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt“), ist eine Abgrenzung von AH zu den Zwangsstörungen zumindest im Hinblick auf einzelne psychopathologische Phänomene notwendig. In Einzelfällen sollte diagnostisch auch die anankastische Persönlichkeitsstörung diskutiert werden. In einer deutschen Untersuchung wurden von Patienten mit AH als ursprünglicher Zweck der Tierhaltung Zucht/Handel (38,5 %), Rettung (33,2 %), Hobby (20,6 %) sowie Ersatz für Sozialkontakte/Familie (10,3 %) [29] genannt. In diesem Zusammenhang wurde von Patronek et al. eine bisher nicht validierte Klassifikation von Patienten mit AH in vier Typen vorgeschlagen: Overwhelmed Caregiver („Typ des übertriebenen Pflegers“), Rescuer Hoarder („Typ des Retters oder Befreiers“), Breeder Hoarder („Züchtertyp“) und Exploiter Hoarder („Typ des Ausbeuters“) [26]. In einer Untersuchung von bei deutschen Veterinärämtern gemeldeten Fällen von AH waren der „Typ des übertriebenen Pflegers“ und der „Typ des Retters“ am häufigsten (jeweils 39,7 %), gefolgt vom „Typ des Züchters“ (35,2 %) und dem „Typ des Ausbeuters“ (13 %) [29]. Die durchschnittliche Zahl der gehaltenen Tiere liegt je nach Studie zwischen 39 [21] und 105 [29] Tieren pro Haushalt und Patient. Nur etwa die Hälfte der Patienten mit AH konnte die Zahl der gehaltenen Tiere korrekt bestimmen [29]. Am häufigsten werden Katzen und Hunde, aber auch Nager und Vögel gehalten [21, 29]. Etwa ein Drittel der Patienten hält eine einzige Spezies, ein weiteres Drittel zwei und in den restlichen Fällen werden drei oder mehr Spezies gehalten [21, 29].

Prävalenz, Alter bei Erstdiagnose und Geschlechterverteilung !

Grundsätzlich muss berücksichtigt werden, dass sich die gegenwärtige empirische Evidenz im Hinblick auf AH auf zwei Querschnittstudien [21, 30], eine Fallserie [31], eine systematische Auswertung von Medienberichten über Fälle von AH [32] sowie eine publizierte veterinärmedizinische Dissertation aus Deutschland gründet, im Rahmen derer durch Befragung von Amtsveterinärinnen und -veterinären Daten von bei deutschen Veterinärämtern gemeldeten Fälle von AH gewonnen und ausgewertet wurden [29]. Daten zur Prävalenz oder Inzidenz des AH liegen nicht vor. Bei der deutschen Studie zeigte sich jedoch, dass jedes zweite Veterinäramt in Deutschland bereits in Fälle von AH involviert gewesen war (Erhebungszeitpunkt 2010) [29]. Epidemiologische Untersuchungen, die gezielt das Ersterkrankungsalter von Patienten mit AH untersucht hatten, sind gegenwärtig nicht verfügbar [24]. Die Ergebnisse der verfügbaren Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Erstdiagnose meist erst im späten Erwachsenenalter gestellt wird [21, 30]. In einem Patientenkollektiv von Patienten mit AH (n = 56) waren 46,3 % älter als 60 Jahre und 37,0 % zwischen 40 und 59 Jahren alt [21]. In einer Studie der 1997 gegründeten interdisziplinären Arbeits- und Forschungsgemeinschaft HARC (Hoarding of Animals and Research Consortium; http://www.tufts.edu/vet/ hoarding/) wurden 71 behördlich gemeldete Fälle von AH untersucht [30]. Das mediane Alter lag in dieser Population für Männer bei 53 und für Frauen bei 55 Jahren [30]. Bei im Rahmen

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Übersicht

Psychiatrische Komorbidität, Risikofaktoren und weitere patientenbezogene Merkmale !

Gegenwärtig sind keine Studien verfügbar, in deren Rahmen gezielt die Prävalenz komorbider psychischer Störungen bei Patienten mit AH untersucht wurde [18]. Persönlichkeitsstörungen werden jedoch als häufige komorbide Störungen bei AH diskutiert [18, 21]. Darüber hinaus werden dissoziative und wahnhafte Störungen genannt [24]. In der bisher größten Untersuchung eines Kollektivs von Patienten mit AH (n = 318) wurden in mehr als einem Drittel der Fälle (35,8 %) „seelische Erkrankungen“ angegeben [29]. Zwangsstörung (24,0 %), Alkoholabhängigkeit (20,5 %) und Depression (20,5 %) waren die dabei am häufigsten genannten Erkrankungen [29]. Gezielte Untersuchungen existieren lediglich für HD. Im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden zeigten Patienten mit HD signifikant häufiger Symptome einer Persönlichkeitsstörung [33]. In einer gemeindebasierten Studie fand sich ein Zusammenhang zwischen paranoiden, schizotypen, vermeidenden und anankastischen (zwanghaften) Persönlichkeitszügen und dem Auftreten von pathologischem Sammelverhalten („Hoarding“) [34]. Die Assoziation zwischen „Hoarding“ und akzentuierten Persönlichkeitszügen war bei Frauen deutlicher ausgeprägt als bei Männern [35]. In einer Untersuchung von Patienten mit Zwangsstörungen [36, 37] und auch in einer kontrollierten klinischen Studie [38] zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung von „zwanghaftem Sammeln“ oder „Horten“ und traumatischen Lebensereignissen. Belastende Lebensereignisse gingen in einer weiteren Untersuchung von Patienten mit HD der Entwicklung von pathologischem Sammelverhalten unmittelbar voraus [39]. Für AH sind hinsichtlich dem Krankheitsbeginn vorausgehender Lebensereignisse nur wenige Daten verfügbar. Es wurde sowohl eine schleichende als auch eine abrupte Symptomentwicklung beschrieben, wobei traumatische Lebensereignisse, schwerwiegende körperliche Erkrankungen oder plötzlicher Stabilitätsverlust bestehender sozialer Strukturen häufig in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur klinischen Manifestation von AH stehen [24]. Patienten mit AH scheinen zudem häufig keine feste Partnerschaft zu haben sowie sozial isoliert zu sein und den Kontakt mit der Herkunftsfamilie abgebrochen zu haben [21, 29, 30].

Gleichzeitig existieren jedoch auch Berichte über Patienten mit AH, die im Rahmen von Tierschutzaktivitäten über ein umfangreiches und aktiv genutztes soziales Netzwerk verfügen [24]. Trotz der meist erheblichen Einschränkungen, denen die Patienten in ihrem unmittelbaren Wohnraum ausgesetzt sind, gelingt es einigen Patienten, dies über verhältnismäßig lange Zeiträume zu verbergen und einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachzugehen [25]. In der Untersuchung von Daten deutscher Veterinärämter waren 75,5 % der Tierhalter bzw. mutmaßlichen Patienten mit AH nicht berufstätig [29]. Es fiel auf, dass 12,1 % der Patienten medizinische oder soziale Berufe ausübten wie Altenpfleger, Arzt, Arzthelferin, Ergotherapeut, Erzieher, Krankenschwester, Lehrer, Medizinisch- oder Pharmazeutisch-Technischer Assistent, Pastor [29].

Verlauf !

Studien zeigen, dass die Entwicklung von zwanghaftem Sammelverhalten oder „Horten“ von Gegenständen bei Patienten mit Zwangsstörungen als prognostisch negativ zu bewerten ist [39]. Hierzu passend suggeriert die verfügbare Evidenz, dass HD mit einem chronischen, therapeutisch nur schwer beeinflussbaren Verlauf assoziiert ist [12]. Für AH ist die klinische Erfahrung im Hinblick auf den Verlauf gering. Es scheint jedoch auch hier eine Tendenz zu einem eher chronisch rezidivierenden Verlauf zu bestehen [24, 27, 29, 32]. Die Bereitschaft, aktiv professionelle medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, scheint bei Patienten mit AH im Vergleich zu Patienten mit Zwangsstörungen geringer zu sein [24, 29]. In der Mehrheit der Fälle von AH war die Inanspruchnahme medizinischer Behandlung fremdmotiviert [24]. Die Untersuchung von Daten deutscher Veterinärämter zeigt, dass die Einleitung oben beschriebener behördlicher Maßnahmen zwar in 45,3 % zu einer vorläufigen Verbesserung der Situation (gemessen am Pflegezustand der Tiere und den hygienischen Bedingungen der Wohnung) geführt hatte, jedoch nur in 5,1 % der Fälle eine dauerhafte Verbesserung (i. S. einer Beendigung der „Tierhortung“) nachweisbar gewesen war [29].

Therapie !

Es existieren keine publizierten Daten zur Therapie von AH. Konsens besteht jedoch dahin gehend, dass komorbide psychische Störungen, wie affektive und Persönlichkeitsstörungen, wie bei Patienten ohne AH behandelt werden sollten [31]. Für HD gibt es aus offenen Studien zwar Hinweise auf eine Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und kognitiv-behavioraler Verhaltenstherapie (entweder als Monotherapie oder in Kombination mit SSRI) [40 – 44], jedoch fehlen auch dazu kontrollierte klinische Studien [41]. In der bereits genannten deutschen Untersuchung zu AH konnte in 18,3 % durch die behördliche Intervention eine „psychologische Nachbetreuung“ erwirkt werden [29]. Dies zeigt, dass behördliche Maßnahmen bei Patienten mit AH, die eine geringe Krankheitseinsicht und Therapiemotivation aufweisen, in Einzelfällen wirksame Impulse für eine weitere Behandlung sein können. Grundsätzlich bewirken behördliche Maßnahmen zwar meist eine Verbesserung für die Lebenssituation der Tiere, haben jedoch keinen rezidivprophylaktischen oder echten therapeutischen Effekt auf die Störung [26].

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einer Befragung an deutschen Veterinärämtern (teilnehmende Ämter n = 318, entsprechend einer Rücklaufquote von 81,6 %) 615 registrierten Fällen von AH lag der Altersdurchschnitt der gemeldeten Patienten mit AH bei 50 Jahren [29]. Auch in dem sich auf eine Untersuchung von amerikanischen Medienberichten (n = 133; Beobachtungsintervall 2001 – 2002) gründenden AH-Kollektiv war die Mehrheit der Patienten zwischen 50 und 59 Jahren alt [32]. Die insgesamt geringe Datenlage legt nahe, dass Frauen von AH häufiger betroffen sein könnten [24]. In zwei größeren Studienpopulationen (n = 54 [21] bzw. n = 71 [30]) von Patienten mit AH waren Frauen deutlich überrepräsentiert (76 % [21] bzw. 83,1 % [30]). In einer kleineren Fallserie (n = 6) waren fünf von sechs Patienten weiblich [31]. Auch in der Untersuchung der Daten deutscher Veterinärämter sowie der bereits genannten Analyse von Medienberichten waren Frauen häufiger vertreten (64,1 % [29] und 73,2 % [32]). Hervorzuheben ist, dass bei den deutschen Fällen von AH in 5,6 % auch Paare oder ganze Familien als Tierhalter benannt wurden [29].

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Übersicht

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Tierhaltung unterliegt in den meisten Ländern gesetzlichen Bestimmungen. In Deutschland werden im § 2 des Tierschutzgesetzes (TierSchG) die Grundlagen und Bedingungen für die Haltung von Tieren aufgeführt2. Die Haltung von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen, Geflügel (außer Tauben) und Pferden muss gemäß Tierseuchengesetz bei der jeweiligen Tierseuchenkasse des Bundeslandes gemeldet werden [29]. Das TierSchG stellt ein allgemeines Regulativ für die Tierhaltung dar, während weitere Verordnungen wie die Tierschutz-Nutztierverordnung oder Tierschutz-Hundeverordnung spezifischere Richtlinien formulieren [29]. Des Weiteren existieren verschiedene Gutachten, Merkblätter und Leitlinien und von der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz Empfehlungen zur Haltung von z. B. Hauskatzen, Kaninchen, Meerschweinchen etc., die für den Tierhalter verbindlich sind [29]. Verstöße gegen das TierSchG sind vom zuständigen Veterinäramt zu verfolgen. Die Veterinärämter haben die Pflicht, durch Anordnungen oder Maßnahmen gegenwärtige Tierhaltungsverstöße zu beseitigen und künftige Verstöße zu verhindern. In der bereits erwähnten Untersuchung von Daten deutscher Veterinärämter war die erste Maßnahme nach einer Meldung der Amtskontakt mit dem Tierhalter. In 87,9 % der Fälle war auch ein Gespräch möglich. Mittel der Wahl waren im weiteren Verlauf der behördlichen Intervention schriftliche Verfügungen oder Auflagen (86,4 %; Abgabe oder Reduktion einzelner/aller Tiere, Aufnahmestopp, Pflegemaßnahmen, Haltungsverbesserungen, tierärztliche Versorgung, Hygienemaßnahmen, Schädlingsbekämpfung etc.), gefolgt von Bußgeldern (37,7 %) [29]. Neben der Sicherstellung und Beschlagnahme von Tieren (53,1 % bzw. 45,7 %) wurden in 43,6 % auch gerichtliche, mitunter strafrechtliche Verfahren eingeleitet, die in 19 % auch zu Verurteilungen geführt hatten [29].

Implikationen für die Öffentliche Gesundheit !

Die für AH typische Vernachlässigung der Tierpflege sowie die dadurch entstehenden hygienischen Beeinträchtigungen implizieren ein Gesundheitsrisiko für die Öffentlichkeit, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Tierseuchen und die Übertragung von humanpathogenen Erregern i. S von Zoonosen [29, 30]. In der Mehrheit der Tierpopulationen von Patienten mit AH waren neben Verletzungen (27,8 %) und Unterernährung (41,9 %) auch infektiöse Erkrankungen mit potenziell humanpathogenen Erregern (u. a. Chlamydien, Giardien, Kokzidien, Leishmanien,) sowie Parasiten (50,3 %; Endo- und Ektoparasiten wie Protozoen, Würmer, Flöhe und Milben) nachweisbar [29]. Unabhängig vom Risiko für Zoonosen, das Folge der dysfunktionalen Tierhaltung ist, stellen die infolge der großen Zahl von Tieren beeinträchtigten Funktionsbereiche des Haushalts eine indirekte Gesundheitsgefährdung für den Halter und das unmittelbare soziale Umfeld dar [30]. Die verfügbaren Studien zeigen, dass in den meisten Fällen die Benutzung der sanitären Bereiche und der Küche infolge von Verschmutzung oder Zerstörung nicht mehr möglich war

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„Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden, muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“

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[30]. In der Untersuchung von Daten deutscher Veterinärämter zeigte sich, dass nur in 9,6 % der behördlich erfassten Fälle von AH die Wohnung in einem „vernünftigen Maß sauber aufgeräumt war“ (in 18,7 % „moderat unaufgeräumt mit etwas Abfall/ Müll [kein Urin oder Faeces in Wohn- oder Essbereich]“, in 25,1 % „stark verschmutzt mit Abfall/Müll, unsauberer Wohn- und/oder Essbereich, Geruch bemerkbar. Mit Urin und/oder Faeces verschmutzte Tierkäfige und -bereiche“, in 20,8 % „stark verschmutzt mit Abfall/Müll, unsauberer Wohn- und/oder Essbereich. Starker Geruch und frischer Urin und/oder Faeces im menschlichen Wohnbereich“ und in 25,8 % „stark verschmutzt mit Abfall/Müll, übermäßig Urin und/oder Faeces im menschlichen Wohn- und Schlafbereich“) [29].

Die Rolle des Psychiaters !

Da letztlich weder eine klare nosologische Zuordnung von AH zu einer der anerkannten psychischen Störungen möglich ist noch eine wirksame evidenzbasierte Therapie existiert und die Patienten zusätzlich meist keine Krankheitseinsicht und Behandlungsmotivation zeigen, ist die Rolle des Psychiaters beim Umgang mit Patienten mit AH unbestimmt [21]. Es ist nicht zu erwarten, dass Patienten mit AH spontan professionelle psychiatrische, psychooder soziotherapeutische Hilfe aufsuchen [24]. Dennoch fand sich, dass 87,9 % der Patienten mit AH bei einem häuslichen Besuch durch Vertreter des Veterinäramts Gesprächsbereitschaft zeigten [29]. Um die Inanspruchnahme weiterer professioneller Hilfe zu erleichtern, empfiehlt sich die Vermittlung eines Kontakts mit dem sozialpsychiatrischen Dienst, was jedoch in erster Linie durch das Veterinäramt erfolgen muss, da in der initialen Kontaktsituation medizinisches Personal meist nicht beteiligt ist. Ingesamt kommt gemeindepsychiatrischen Versorgungsansätzen bei der Behandlung von Patienten mit AH eine wichtige Rolle zu, da diese am ehesten in der Lage sind, bei Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen und geringer eigenmotivierter Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfen frühzeitig auf AH-assoziierte Verhaltensweisen aufmerksam zu werden. Die Durchführung therapeutischer Maßnahmen, insbesondere psychiatrischer und/oder psychotherapeutischer Behandlung, sollte im Rahmen der behördlichen Intervention angeregt werden [29]. Patronek et al. weisen darauf hin, dass in allen Fällen von AH eine Zusammenarbeit zwischen Psychiater/Psychotherapeut und der involvierten behördlichen Einrichtung stattfinden sollte [24], wobei selbstverständlich die Schweigepflicht berücksichtigt werden muss. Prinzipiell sollten, sofern der Patient therapiemotiviert ist, nach einer ausführlichen psychiatrischen und somatischen Diagnostik, die auch mögliche organische Ursachen für die Verhaltensstörung berücksichtigen sollte, primär psychotherapeutische, am ehesten kognitiv-behavioral orientierte Maßnahmen durchgeführt werden [24]. Patronek et al. empfehlen insbesondere die Motivierende Gesprächsführung („motivational interviewing“), um zunächst eine Änderungsmotivation bei den Patienten zu erzeugen [26]. Komorbide psychische Störungen wie Suchterkrankungen, depressive, Persönlichkeits- oder Zwangsstörungen erfordern selbstverständlich ebenfalls eine adäquate Behandlung [24, 26].

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Gesetzlicher Rahmen und behördliche Maßnahmen

Übersicht

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Die gegenwärtige Studienlage erlaubt keine zuverlässigen wissenschaftlichen Aussagen zum Phänomen des AH, was die fehlende Berücksichtigung des Begriffs „Animal Hoarding“ sowohl im ICD-10 als auch im DSM-5 sowie die problematische nosologische Einordnung illustrieren. Die wenigen vorliegenden Arbeiten zu AH mit empirischem Ansatz [21, 29 – 32], weisen im Hinblick auf eine mögliche psychische Störung mit dem Namen „Animal Hoarding“ erhebliche Schwächen auf. Insbesondere das Fehlen einer unmittelbaren, von psychologischer oder psychiatrischer Seite durchgeführten psychopathologischen Diagnostik, der häufig indirekte (von nicht-medizinischem Personal verfasste Berichte) Zugang sowie deren überwiegend veterinärmedizinische Herkunft lassen an der Validität der behaupteten psychiatrischen Komorbiditäten und psychischen Merkmale (z. B. Persönlichkeitsmerkmale) von Patienten mit AH zweifeln. Die Zuschreibung der Diagnose AH wird häufig auf der Basis der vorgefundenen Konsequenzen der präsumptiven Diagnose AH (wie Anzahl der gehaltenen Tiere oder mangelhafte hygienische Zustände) gestellt. Die in dieser Arbeit dargestellten epidemiologischen Daten sind insofern wenig aussagekräftig. Gleichzeitig muss deshalb auch die Berechtigung der Zuordnung von Begriffen wie „Patient“ oder „psychische Störung“ bei als AH-Patienten kategorisierten Personen infrage gestellt werden; die Verwendung dieser Begriffe setzt eine psychiatrische oder psychologische Diagnostik nach den Regeln der Kunst voraus. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden diese aus konzeptueller Sicht problematischen Zuschreibungen auch in der vorliegenden Übersichtsarbeit vorgenommen. An dieser Stelle sei deshalb auf die fragliche Berechtigung dieser Kategorisierungen hingewiesen. Grundsätzlich besteht hinsichtlich des hier vorgestellten Phänomens AH erheblicher weiterer Forschungsbedarf. Detaillierte Fallbeschreibungen und entsprechende Katamnesen von Personen mit AH, die eine von psychologischer und/oder psychiatrischer Seite durchgeführte (standardisierte) Diagnostik inkl. somatischer Ausschlussdiagnostik, ggf. auch Beschreibung evtl. Therapieansätze umfassen sollten, wären ein erster Schritt zu einer differenzierten psychopathologischen Betrachtung von AH. Systematische Untersuchungen größerer Kollektive, insbesondere im Hinblick auf psychopathologische Merkmale und psychiatrische Komorbiditäten sowie den klinischen Verlauf, sollten zur weiteren Überprüfung der Konsistenz der Diagnose AH durchgeführt werden, bevor spezifische Therapieansätze entwickelt werden können.

Zwangsstörungen sowie Suchterkrankungen, scheinen bei AH häufig zu sein. Implikationen für die Öffentliche Gesundheit ergeben sich vor allem durch die deutlichen hygienischen Defizite des Wohnraums und der mangelhaften Tierhaltung, sodass das Risiko für Tierseuchen und Zoonosen erhöht ist. Da AH meist ebenfalls Verstöße gegen das Tierschutzgesetz impliziert, sind beim Erstkontakt mit Patienten meist Veterinärämter involviert. Im Rahmen der weiteren behördlichen Intervention sollte die Durchführung psychiatrischer, psycho- oder soziotherapeutischer Maßnahmen angeraten werden. Evidenzbasierte Therapien existieren gegenwärtig nicht. Falls Patienten mit AH psychiatrische Hilfe aufsuchen, sind neben einer sorgfältigen somatischen und psychiatrischen Diagnostik, die organische Ursachen berücksichtigen muss, am ehesten kognitiv-behaviorale psychotherapeutische Maßnahmen sowie die adäquate Behandlung von komorbiden psychischen Störungen zu empfehlen.

Take Home Message

▶ Animal Hoarding (AH) ist eine psychische Störung, die etwa ▶





seit den 1980er Jahren als Störungsbegriff in der wissenschaftlichen Literatur existiert und seither sowohl humanals auch veterinärmedizinisch beforscht wird. AH lässt sich als Unterform der im DSM-5 bei den Zwangsstörungen neu aufgenommenen „Hoarding Disorder“ (DSM-5 300.3) einordnen, während im ICD-10 nur eine unspezifische Klassifikation bei den abnormen Gewohnheiten oder Störungen der Impulskontrolle (F63.8 sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle) oder den Zwangsstörungen (F42.9 nicht näher bezeichnete Zwangsstörung) erfolgen kann. Infolge der meist erheblichen hygienischen Defizite der Wohnungen von Patienten mit AH bestehen insofern Implikationen für die Öffentliche Gesundheit, als bei AH das Risiko für die Entwicklung von Tierseuchen und die Übertragung von humanpathogenen Erregern i. S. von Zoonosen deutlich erhöht ist. Wichtig ist eine suffiziente somatische und psychiatrische Diagnostik; gegenwärtig existieren keine evidenzbasierten psychotherapeutischen oder -pharmakologischen Therapien; am ehesten kommen kognitiv-behaviorale psychotherapeutische Maßnahmen, evtl. auch „motivational interviewing“ sowie soziotherapeutische Interventionen in Frage; komorbide Störungen müssen identifiziert und adäquat behandelt werden; gemeindepsychiatrischen Versorgungsansätzen kommt bei der Behandlung von Patienten mit AH eine große Bedeutung zu.

Zusammenfassung !

AH ist eine psychische Störung, die als Störungsbegriff in der wissenschaftlichen Literatur erst seit etwa 30 Jahren gebraucht wird und seither sowohl humanwissenschaftlich als auch veterinärmedizinisch beforscht wird. Gegenwärtig ist AH weder im DSM-5 noch im ICD als Störungsbegriff repräsentiert. AH lässt sich jedoch am ehesten als Unterform der im DSM-5 bei den Zwangsstörungen neu aufgenommenen „Hoarding Disorder“ einordnen. Gezielte epidemiologische Studien zu AH sind gegenwärtig nicht verfügbar, jedoch scheinen ein deutliches Übergewicht weiblicher Patienten sowie eine Erstdiagnose im späten Erwachsenenalter vorzuherrschen. Komorbide psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, depressive und

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Gahr M et al. Animal Hoarding: eine … Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 330–336

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Konzeptuelle Schwierigkeiten der Diagnose „Animal Hoarding“ und weiterer Forschungsbedarf

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Übersicht

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[Animal hoarding: a mental disorder with implications for public health].

Animal hoarding (AH) is a mental disorder that is characterised by an excessive number of kept animals, inability to maintain minimal standards of ani...
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