Originalarbeit e69

Herausforderungen einer integrativen und personalisierten Gesundheitsversorgung für die Gesundheitsökonomie und das Versicherungssystem*

Autoren

G.-G. Schoch, E. Würdemann

Institut

Hauptverwaltung, Fachbereich Arzneimittel, Techniker Krankenkasse, Hamburg

Schlüsselwörter ▶ Personalisierte Medizin ● ▶ Stratifizierende Medizin ● ▶ gesetzliche Krankenversi­ ● cherung ▶ Biomarker ●

Zusammenfassung

Abstract

Einleitung:  „Stratifizierende Medizin“ ist ein Thema von zunehmender Bedeutung. Es gibt eine Vielzahl offener Fragen im Zusammenhang mit „Stratifizierender Medizin“. Dieser Artikel erläutert Definitionen, Chancen und Risiken sowie die wichtigsten Herausforderungen der „Stratifizierenden Medizin“ aus Sicht einer gesetzlichen Krankenkasse. Definition:  Eine wichtige offene Frage ist die Verwendung des Begriffs und der Definition. Es werden Termini wie „Personalisierte Medizin“, „Individualisierte Medizin“ oder „Stratifizierte Medizin“ verwendet. Die Techniker Krankenkasse bevorzugt „Stratifizierende Medizin“, da meist eine anhand von Biomarkern auf bestimmte Patientengruppen zugeschnittene Therapie gemeint ist. Chancen und Risiken:  An die „Stratifizierende Medizin“ richten sich diverse Hoffnungen, u. a. das Vermeiden wirkungsloser Therapien und die Früherkennung von Erkrankungen. Die „Stratifizierende Medizin“ birgt jedoch auch Gefahren, z. B. eine Zunahme der Fallzahl durch Behandlung von Erkrankungsrisiken, eine Pflicht zur Gesundheit und das Aufweichen von Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Herausforderungen:  Die Komplexität der „Stratifizierenden Medizin“ ist eine große Herausforderung für alle Akteure im Gesundheitssystem. Es sind längst nicht alle Zusammenhänge verstanden. Die gesetzliche Krankenversicherung steht also vor der Herausforderung, innovative Therapiekonzepte frühzeitig allen Versicherten zugänglich zu machen, gleichzeitig jedoch nutzlose oder gar schadhafte Therapien von echten Innovationen abzugrenzen und die

Objectives:  “Stratifying medicine” is a topic of increasing importance in the public health system. There are several questions related to “stratifying medicine”. This paper reconsiders definitions, opportunities and risks related to “stratifying medicine” as well as the main challenges of “stratifying medicine” from the perspective of a public health insurance. Definition:  The application of the term and the definition are important points to discuss. Terms such as “stratified medicine”, “personalised medicine” or “individualised medicine” are used. The Techniker Krankenkasse prefers “stratifying medicine”, because it usually means a medicine that tailors therapy to specific groups of patients by biomarkers. Opportunities and Risks:  “Stratifying medicine” is associated with various hopes, e. g., the avoidance of ineffective therapies and early detection of diseases. But “stratifying medicine” also carries risks, such as an increase in the number of cases by treatment of disease risks, a duty for health and the weakening of the criteria of evidence-based medicine. Challenges:  The complexity of “stratifying medicine” is a big challenge for all involved parties in the health system. A lot of interrelations are still not completely understood. So the statutory health insurance faces the challenge of making innovative therapy concepts accessible in a timely manner to all insured on the one hand but on the other hand also to protect the community from harmful therapies. Information and advice to patients related to “stratifying medicine” is of particular importance. The equitable distribution of fees for diagnosis and counselling presents a particular challenge. The solidarity principle of public health insurance may be challenged by social and ethical issues of “stratifying medicine”.

Key words ▶ personalised medicine ● ▶ stratifying medicine ● ▶ statutory health insurance ● ▶ biomarkers ●

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1390408 Online-Publikation: 16.10.2014 Gesundheitswesen 2014; 76: e69–e73 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0941-3790 Korrespondenzadresse Dr. Goentje-Gesine Schoch Fachbereich Arzneimittel Techniker Krankenkasse Bramfelder Str. 140 22305 Hamburg [email protected]



 * Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde an manchen Stellen auf die Nennung beider geschlechtsspezifischer Formen verzichtet. Im Allgemeinen ist das jeweils andere Geschlecht ebenfalls gemeint.



Schoch G-G, Würdemann E. Herausforderungen einer integrativen und …  Gesundheitswesen 2014; 76: e69–e73

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Challenges of an Integrative and Personalised Health Care for Health Economics and the Insurance System

e70 Originalarbeit Gemeinschaft davor zu schützen. Der Information und Beratung von Patienten kommt im Zusammenhang mit der „Stratifizierenden Medizin“ eine ausgesprochene Bedeutung zu. Die gerechte Verteilung der Honorierung zwischen Diagnostik und Beratung stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung wird möglicherweise durch sozial-ethische Fragestellungen der „Stratifizierenden Medizin“ herausgefordert. Schlussfolgerung:  Die „Stratifizierende Medizin“ bietet großes Potenzial, die medizinische Versorgung zu verbessern. Falsche Hoffnungen müssen dabei jedoch vermieden werden. Leistungserbringer und Kostenträger sollten im fachlichen Dialog gemeinsam zum Wohl der Patienten Chancen und Risiken ­abwägen.

Conclusion:  “Stratifying medicine” offers great potential to improve medical care. However, false hopes must be avoided. Providers and payers should measure chances and risks of “stratifying medicine” together for the welfare of the patients.

Einleitung

Hoffnungen und Chancen – Gefahren und Risiken

Schlagworte wie „Personalisierte Medizin“, „Individualisierte Medizin“, „Stratifizierte Medizin“ oder auch „Stratifizierende Medizin“ erfreuen sich immer größerer Beliebtheit im Bereich der Gesundheitsversorgung [1]. Dennoch fehlt es an einer klaren Definition [1]. Die Krankenversicherungen sind aber bereits heute ganz konkret mit den Herausforderungen dieser neuen Therapiekonzepte konfrontiert [2]. Dieser Artikel versucht eine Näherung an das Thema aus Sicht einer gesetzlichen Krankenkasse.

Eine Publikation zu dem Thema personalisierte Medizin aus dem Jahr 2011 trug den treffenden Titel „Hope or hype?“ [6]. Zu den Hoffnungen gehören die Früherkennung oder gar Präven­ tion von (Tumor)Erkrankungen, z. B. anhand des Nachweises einer BRCA1/2-Mutation und die Vermeidung wirkungsloser oder unnötiger Therapien. Als Beispiele seien das schlechtere Ansprechen auf Tamoxifen bei Vorhandensein einer CYP2D6 Mutation („poor metabolizer“) oder der Einsatz prognostischer Genexpressionstests (z. B. Oncotype DX®, EndoPredict®) bei Frühstadien des Brustkrebses zur Entscheidung pro oder contra adjuvante Chemotherapie genannt. Die „Stratifizierende Medizin“ bietet darüber hinaus Hoffnung auf optimierte Arzneimitteltherapien. So werden zunehmend Arzneimittel zusammen mit „compa­ nion diagnostics“ zugelassen. Dabei handelt es sich um Biomarker, die bereits vor der Anwendung feststellen sollen, ob das Arzneimittel für einen bestimmten Patienten geeignet ist oder nicht [7]. Im Jahr 2012 war die Anwendung von 4 der 22 neuen Arzneistoffe an einen vorgeschalteten Test geknüpft, 2013 galt diese Bedingung für 5 der 27 neuen Wirkstoffe. Beispiele sind Crizotinib (Xalkori®, Pfizer, Einsatz nur bei ALK-positivem NSCLC) und Pertuzumab (Perjeta®, Roche, Einsatz nur bei HER2-positivem Brustkrebs). Insgesamt sind bisher 28 Arzneistoffe zugelassen worden, deren Einsatz erst nach vorgeschriebenem diagnostischem Test erfolgen darf (Stand April 2014) [8]. An den Einsatz von „companion diagnostics“ ist die Hoffnung geknüpft, dass man Patienten eine Therapie mit Nebenwirkungen ersparen kann, die bei ihnen ohnehin nicht wirken würde, bzw. dass man im Vorfeld auf die Patienten(gruppen) stratifizieren kann, die von dem Arzneimittel profitieren. Über die pharmakogenomischen und pharmakogenetischen Therapiekonzepte hinaus, erfordert die „Stratifizierende Medizin“ deutlich einen mündigen und informierten Patienten. Die Entscheidung für oder gegen die Durchführung einer BRCA-Mutationsanalyse kann bspw. eine Patientin nur nach sorgfältiger Information und Beratung treffen. An die „Stratifizierende Medizin“ ist also auch die Hoffnung geknüpft, dass sie „den informierten Patienten“ fördert. Nicht zuletzt versprechen gerade auch Hersteller von Arzneimitteln oder diagnostischen Tests dem Gesundheitssystem immer wieder Einsparungen, z. B. in dem nur die Patienten ein Medikament erhalten, bei denen es auch sicher wirkt, oder z. B. indem eine adjuvante Chemotherapie bei Brustkrebspatientinnen nicht durchgeführt wird, da das Risiko eines Rezidivs ohnehin gering ist.

Definition und Begrifflichkeit



„Personalisierte Medizin“ und „Individualisierte Medizin“ werden häufig synonym verwendet. Aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung handelt es sich um ein Versorgungskonzept, nach dem individuelle Erkrankungsrisiken und persönliche Behandlungschancen anhand von biologischen Merkmalen (Biomarkern) eingeschätzt werden. Das Konzept unterstellt außerdem Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenz („health literacy“) von Patienten [3]. Aus Sicht des Verbands der Ersatzkassen (vdek) suggeriert der Begriff „Personalisierte Medizin“ eine Stratifizierung auf die Einzelperson, und somit eine individuell für jeden einzelnen Pa­ tienten zugeschnittene Diagnostik und Therapie. Da jedoch aber genau diese „personenzentrierte Medizin“ in der Regel nicht mit dem Terminus „Personalisierte Medizin“ gemeint ist, fordert der vdek den passgenaueren Begriff „Sratifizierende Medizin“ zu verwenden [4]. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Patient nicht im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns steht, bzw. stehen sollte und die Therapieentscheidungen nicht gemeinsam mit dem jeweiligen Patienten und auf jeden Einzelfall zugeschnitten erfolgen. Vielmehr ist das Gegenteil seit jeher der Fall und somit der Ansatz, dass gutes ärztliches Handeln die Berücksichtigung der individuellen Situation des jeweiligen Patienten erfordert, nicht neu [5]. Umso wichtiger ist es, die neuen Entwicklungen einer z. B. anhand von Biomarkern ausgerichteten Therapiestrategie begrifflich von der persönlichen Hinwendung des behandelnden Arztes auf den jeweiligen Patienten abzugrenzen. Die Techniker Krankenkasse (TK) bevorzugt für diese neuen Therapieansätze ebenfalls den Terminus „Stratifizierende Medizin“.



Schoch G-G, Würdemann E. Herausforderungen einer integrativen und …  Gesundheitswesen 2014; 76: e69–e73

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Neben Hoffnungen ist die „Stratifizierende Medizin“ jedoch auch mit Gefahren verbunden. Droht die Umkehr von der Möglichkeit der Vorsorge/Früherkennung zur Pflicht der Gesundheit? Wird es zukünftig allen Frauen mit Brustkrebsfällen in der Familie vorgeschrieben sein, ihr genetisches Risiko ebenfalls zu erkranken, abklären zu lassen um frühzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen? Die „Stratifizierende Medizin“ zielt oftmals auf die Therapie von Risiken, nicht von Erkrankungen ab. Genetische Tests treffen zumeist Aussagen zur Wahrscheinlichkeit an etwas zu erkranken, sodass die Gefahr einer Zunahme der Fallzahlen droht. Ein weiteres Risiko ist die Gefährdung der evidenzbasierten Medizin (EbM). Durch die Stratifizierung entstehen immer kleinere Fallzahlen, sodass die Voraussetzungen für klinische Studien nach Kriterien der EbM erschwert werden [9]. Ein Trend zur Orphanisierung wird im Bereich der neu zugelassenen Arzneimittel immer wieder diskutiert [10]. Das bedeutet, dass die Zahl der möglichen Patienten durch vorgeschaltete Biomarker stark eingeschränkt wird, sodass das Präparat als „Orphan drug“, d. h. gegen eine seltene Erkrankung (EU:  

[Challenges of an integrative and personalised health care for health economics and the insurance system].

"Stratifying medicine" is a topic of increasing importance in the public health system. There are several questions related to "stratifying medicine"...
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