Mini-Symposium Der chronische Schmerz P. Lawin, J. Gralow, Hrsg.

H.-]. Hannich Instimt fur Medizinische Psychologie der Universitat Münster

Schmerz. ist ein leib-seelisches Geschehen: Kein Therapeut wird diese Erkennmis ernsthaft bestreiten wollen. Ein Blick in die Praxis zeigt jedoch, daß der Behandler der Komplexität der seelisch-körperlichen Zusammenhänge oftmals hilflos und damit unsicher gegenübersteht. Es fehlen in der Regel Begrifflichkeiten zur Benennung der wahrgenommenen Phänomene. Der Rückgriff auf gewohnte, somatisch ausgerichtete Behandlungsmuster reduziert dann zwar die Unsicherheit des Therapeuten, auf Seiten des Patienten fuhrt er aber zu einer Anpassung an ein aiztgerechtes Beschwerdebild mit der Folge der iatrogenen Fixierung auf rein somatische Abläufe. Hienu ein Beispiel:

gewinnt der Patient in seinen umfassenden seelisch-körperlichen Bezügen an Bedeutung. Psychologie des chronischen Schmerzes Bereits 1895 wies Freud (5) am Beispiel einer Patientin mit Astasie, Abasie und Schmerzzuständen auf die intrapsychischen Wirkfaktoren bei der Entstehung dieses Beschwerdebildes hin. Seine Annahmen fanden ihren Ausdruck in dem Konzept der Konversion, das weitgehend auch heute noch Gültigkeit besitzt.

Eine 37jhrige P a t i e n ~klagt seit einer fileiteninterbindung im Jahre 1978 im Anschld an die Geburt ihres 2. Kindes mit Sectio caesarea unter ziehenden Schmerzen im Unterbauch. Es erfolgen 5 Laparoskopien und sieben Laparotomien zur Adhäsiolyse, 1980 die Hysterektomie und 1986 die Ovarektomie. Da sich Beschwerdefreiheit nicht einstellt, bekommt die Patientin 1986 Buscopan, nach einem halben Jahr Valoron N zur Schmerzbekimpfung. Zum Zeitpunkt der Vorstellung in der Schmenambulanz liegt die Tagesdosis des Valoron bei 8- 10 mal 30 Tropfen. Außerdem bestehen extreme VerdauungsStörungen, die mit 3mal 20 Tropfen Laxoberal bekampft werden. Bei der Patientin hat sich eine Abhängigkeit von den Medikamenten eingestellt.

Der eigentliche Durchbruch zu einem psychologischen Verständnis des Schmerzes blieb aber Engel (4) vorbehalten, der aufgrund seiner klinischen Beobachtungen eine Schmerzpersönlichkeit postulierte. Er stellte fest, daß manche Individuen sich anfälliger gegenüber Schmerzen erweisen als andere, unabhängig davon, ob der Schmerz ursprünglich organisch verursacht war oder nicht. Engel nahm an, daß der Schmerz bei diesen Menschen zur Regulation des psychischen Gleichgewichts eingesetzt würde (sog. "pain-pronenessn).Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei bewußt oder unbewußt motivierte Schuldgefühle ein, die über das Schme~erlebengesühnt werden sollen (4).

Dieses Beispiel ist kein Sonderfall. Es findet sich fast regelhaft in Behandlungsverläufen von Patienten nchronische Schmerwieder, die mit dem zen" und versehen mit dem Etikett ,therapieresistentU die Schrnerzambulanzen als Ultima ratio aufsuchen. Aus diesem Fall laßt sich ein Interaktionsprozeß zwischen Arzt und Patient herauslesen, der durch die rein somatische Ausrichin die Sackgasse der Medikamentenning des abhängigkeit gefuhrt hat. Trotz des offensichtlichen Scheitems dies's Ansatzes wurde an diesem Behandlungsweg festgehalten.

Klinische Untersuchungen zur "pain-pronekonnten das Konzept einer n~c.,merz.persönlichkeit" weitgehend belegen (2). Es konnte festgestellt werden, daß chronische Schmerrpatienten in Familien aubc.,sen, in denen ein Elternteil, meistens das gleichgeschlechtliche, bereits unter chronischen Schmenen litt. Das häusliche und enieherische Klima war durch Mangel an Zuwendung und Geborgenheit geprägt. Vielfach waren die Eltern gegeneingegenüber dem Kind gewalaätig, wobei - nach ander eigenen klinischen Beobachtungen - sexueller Mißbrauch des Kindes oftmals nicht auszuschließen war.

Die Hinwendung des Therapeuten von einern einseitigen nozizeptiven Schmerzkonzept zu einem bio~ ~ c ~ o s-wie o ~es~ ~ in l der e ~ Version der gate-control-Theorie (10) enthalten ist - ist offensichtlich vonnöten, um schrnentherapeutisches Handeln nicht zu einer „Übung in Vergeblichkeit" werden zu lassen. Damit

Häufig sind auch Neigungen zur Selbstverauf der einen Seite die Zuneigung der Eltern mittels Schmerzen zu gewinnen, auf der anderen Seite auch den eigenen aggressiven Impulsen ihren indirekten Ausdruck zu geben.

Anästhesiol. Intensivrned. Notfallmed. Schmerzther. 27 (1992) 361-36s o Georg Thieme Verlag Smngart . New York

letzung feststellbar,

Die Erfahrung, daß Schmerz und Leiden zu Zuneigung fuhren, findet sich Groen ( 6 ) in einer Haltung von besonderer Tüchtigkeit wieder. Hartes Arbeiten, Pflichterfullung, Klaglosigkeit und Sachlichkeit im Lo-

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Der chronische Schmerz als psychosomatisches Syndrom

362 Anästhesiol. Intensimed. NotfaUmed. Schmenther. 27 (1992

Eine Betrachtung der Patientin im Eingangsbeispiel unter den Gesichtspunkten der "pain-proneness" Iäßt ihr Beschwerdebild in einem deutlich anderen Licht erscheinen. Ein Blick in die Biographie der Patientin ergibt, da13 sie als zweites von 9 Kindern (als erstgeborene Tochter) schon f h i t i g die Aufgaben der an Utems-Ca erkrankten Mutter übernehmen mußte. Sie berichtet, da13 sie im Gegensatz zu den Jungen der Familie kein Recht auf Eigenständigkeit gehabt habe. Statt dessen sei sie seitens der Mutter ständig zur Arbeit angehalten worden, wobei sie sich ihrer Sicht nach den Anforderungen wehrlos ausgeliefert fühlte. Dementsprechend ist ihre Haltung gegenüber der Mutter durch starke Aggressionen geprägt, die aber nur gehemmt ausgedrückt und durch Schuldgefühle abgewehrt werden. In der Ehe findet eine Reinszenierung der Erfahrungen aus der Ursprungsfamilie statt. Der 12Jahre l t e r e Mann ist Alkoholiker und von ihr volikommen abhängig. Auf der einen Seite lehnt sie ihn wegen seines Alkoholismus ab, auf der anderen Seite meint sie, da13 sie für ihn verantwortlich sei. Ihre eigene Stellung im Leben beschreibt sie mit den Worten: ,Ich habe nur ein Recht auf der Welt, nämlich, für andere da zu sein und zu arbeiten." Aufgmd dieser biographischen Hintergmndinformationen bekommt die Behandlung der Patientin einschlieglich der Bewertungder Schmerziokalisation eine andere Wendung. Die "verborgene Ebene' des Schmengeschehens wird zum Thema der Therapie. Dazu zghlen: - die sich in der Organwahl ausdrückende Überidentifikation mit der am Utems-Ca erkrankten Mutter (im Sinne der .Identifikation mit dem Aggressor' zur Abwehr unerwünschter aggressiver Eigenimpulse) sowie - die in der Beziehung zur Mutter bestehende Ambivalenz zwischen Aggressionen einerseits und Wunsch nach Zuwendung andererseits, f w die der Schmerz Ausdmck und Lösung zugleich ist: in ihm symbolisieren sich gleichzeitig unterschweiiige Selbsrbestrafungstendenzen (2.B. als Hintergrund hir die operativen Eingriffe) sowie das Bemühen nach Sicherung von Zuwendung und Versorgung.

Die rechtzeitige Idennfiziemng des Schmerzes als Regulator für die innerpsychische Stabilität des Patienten ist durch den Schmentherapeuten nur dann möglich, wenn er einen diagnostischen Faden verfolgt, mit dessen Hilfe die anatomischen, physiologischen und biochemischen Schmedaten mit denen zum individuellen Werdegang des Patienten zu einem ganz persönlichen SchmenmuSter verwoben werden. Auf diesem Wege sind Hinweise darüber zu gewinnen, inwieweit die chronische Schmerzsymptomank Ausdruck einer fehlerhaften Erlebnisverarbeitung in der friihen Kindheit ist und somit den Charakter einer Sekundarstömng trägt. Folgende intrapsychischen Wirkfaktoren können den psychodynamischen Hintergrund für Ätiologie und Aufrechterhaltung von Schmemständen bilden (8). Schmerzen vor dem Hintergrund einer nam/3tiscben Krise

stentielle naizißtische Krise gestürzt werden. Die Erfahmng von Hilflosigkeit infolge des Geschehens reaktualisiert bei ihnen früheste infantile Ohnmachts- und Ausgeliefertseinszustände. Diese haben ihre Wurzeln in der vorsprachlichen Entwickiungsphase des Kindes. Sie sind Folge fehlender liebevoller Zuwendung seitens früher Bezugspersonen in der Zeit der taktil symbiotischen Beziehung des 1. Lebenshaib jahres (9). Ist es dem Individuum unter günstigeren Lebensbedingungen bislang gelungen, die Folgen dieser Mangelerfahmng (nämlich ein ständig um seine Kohärenz bedrohtes Selbstgefühl) durch Phantasien der Grandiosität. der Unverleubarkeit und Einmaligkeit zu kompensieren, ist es ihm durch die nun eingetretene Verlust- bzw. Beeinträchtigungssituation nicht mehr möglich. Es läuft jent Gefahr, die bisher gewahrte innere Struktur zu verlieren. Patienten mit gering ausgeprägten Fahigkeiten zur Realitätsprüfung (Ich-Stärke), wie Borderline-Patienten, können dadurch bis an den Rand der psychotischen Entgleisung geraten. Der Schmen hilft nun, die Bedrohung durch innere Auflösung und Entleemng zu umgehen. Er stellt eine neues Ordnungsprinzip dar, um dem intrapsychischen Geschehen wieder Richtung und Struktur und damit Stabilität und Kohärenz zu verleihen. Er ist ein ,Heilungsund Rekonstruktionsversuchu (5,8), wobei es um die Aufrechterhaitung bzw. Wiederherstellung des psychischen Funktionierens überhaupt geht. Hirsch (7) führt zur Psychodynamik dieses Geschehens an, daß über den Schmerz der eigene Körper zu demjenigen Objekt gemacht wird, dessen Verlust oder Abwesenheit nicht anders, 2.B. durch sprachlichen Ausdruck, bewältigt werden kann. Damit stellt die Schmerzsymptomatik eine Symbolisiemng des Verrnißten dar. Hierzu ein Beispiel: Eine 47jährige Patientin wird aufgmnd chronischer Schmerzzustände in der linken Brust in der S c h m e m b u l a n z vorstellig. Die zugrundeliegende Diagnose lautet: Zustand nach subkutaner Mastektomie und prothetischer Augmentationsplastik. Das Anamnesegespräch ergibt, da13 die Mutter an einem Mamma-Ca der linken Bmst im Jahre 1972 verstorben ist. Seit dem Tag nach der Beerdigung leidet die Patientin unter Schmemn der linken Bmst, für die als organischer Befund eine Mastopathie 2. Grades verantwortlich gemacht wird. Es erfolgt eine Reihe von PES mit jeweils benignem Befund. 1978wird eine Mastektomie der linken B m t durchgeführt. Da sie keinen therapeutischen Erfolg zeigt, schließen sich im Laufe der Jahre mehrfache Revisionsoperationen an. In der psychologischen Befunderhebung beschreibt die Patientin ihre Beziehung zur Mutter als symbiotisch. Die Mutter habe die absolute Verfügungsgewait über sie gehabt. Auf Willensäußemngen des Kindes habe sie mit Prügel bzw. mit der Drohung, es in ein Heim zu schicken, reagiert. Innere und äußere Körpergrenzen, welche zur Fähigkeit der sprachlichen Symbolisierung von Affekten notwendig sind (7), hat das Kind nicht entwickeln können. So war das Kind wehrlos sehr schmerzhaften und invasiven Manipulationen an seinem Körper durch die Mutter ausgesetzt. Dementsprechend beschreibt die Panentin ihr Verhältnis zur Mutter mit den Worten: ,,Mutter und ich waren eins. Sie hat durch mich gelebt und ich durch sie." Die Verschmelzung beider

Ausgelöst durch ein plötzlich eintretendes beeinträchtigendes Geschehen, z. B. einen Unfall, einen akuten verlust einer B~~~~~~~~~~ ä., können patienten mit einem schwach ausgeprägten selbstgefühl in eine ei-

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Sen eigener Probleme sollen - so Croen - die Zufriedenheit der Eltern bzw. anderer Bezugspersonen (u.a. auch Arzte) hervorrufen und damit das Gefühl des Selbstwertes vermitteln.

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An ästhesiol. lntensivmed. NotfaUmed. Schmenther. 27 (1992) 363

manifestiert sich auch in dem Anspmch der Muner, da13 die Tochter bei ihrem T o d ,mit in den Sarg gehen müßte*. Auch der Vater vertieft die Erfahrung des Kindes, fur die Eltern verfügbar zu sein und kein Recht auf Abgrenzung zu besitzen, indem er sie sexuell mißbraucht.

Aus diesem Beispiel geht deutlich hervor, daß über die körperliche Symbolisierung der Verlust der Mutter dargestellt und gleichzeitig ersetzt wird. Da sie innere Eigenständigkeit nicht hat entwickeln können, bewahrt sie sich über die Aufrechterhaitung der Symbiose (durch den Schmerz) vor dem phantasierten Fall ins ,Nichtsu. Zugleich suhnt die Patientin die Schuld, die sie mit ihrem Weiterleben angesichts des Todes der iMutter auf sich geladen zu haben vermeint. Und nicht zuletzt ermöglicht der Schmerz einen nanißtischen Rückzug auf sich selbst. indem er gegen den als bedrohlich erleb& Vater, der jn dem späteren Partner wiedererlebt wird, schützt. Fatal ist, daß die Patientin in ihrer Beziehung zu den Arzten die frühkindliche Dramatik reinszeniert. Ihr Verhältnis zu den ais omnipotent erlebten Arzten ist geprägt durch Verschmelzungsphantasien. Die operativen Eingriffe stellen fur sie ein vertrautes Beziehungsmuster dar, über das sie ihre ausgeprägten Abhängigkeitswünsche ausagieren kann. Dieser Fall verdeutlicht, daß die Wendung seelischer Vorgänge ins Körperliche eine adaptive Funktion fur das in seinem psychischen Weiterleben bedrohte Individuum hat. Eine derartige Konversion findet auch bei Traumatisierungen auf späterer Entwicklungsstufe statt. Dann spielen vor allem Schmerzzustände auf dem Hintergrund einer hysterischen Psychodynamik eine Rolle. Schmerz vor dem Hintergrund einer (hysterischen) Konversion Beim Konversionsgeschehen als Folge späterer Traumatisierungen, d. h. zu einem Zeitpunkt relativ reifer Ich-Organisation, steht der kommunikative Aspekt des Schmerzbildes im Vordergrund. Die Erkrankung richtet sich an einen realen oder phantasierten Beobachter des Symptoms (,Krankheit als Bühneu) (8). Dementsprechend gestaltet sich die Darstellung der Beschwerden seitens des Patienten als sehr expressiv, so da@es dem Therapeuten oftmals schwerfällt, sich der Dramatik des Geschehens zu entziehen. Die Überflutung von Gefuhlen bei solchen ,hysterischenu Konversionsvorgängen kann bis zur Wahrnehmungseinengung und zu einer Störung der Realitätskontrolle, in seltenen Fällen bis zur Bewußtseinsspaltung kulminieren. Gemeinsames Ziel dieser Symptome ist die Symbolisierung von Schwäche, Hilflosigkeit, Unschuld, Anlehnungsbedürftigkeit usw. (11). Hierzu ein Beispiel: Eine 27jahrige Patientin leidet seit 2 Jahren unter heftigen persistierenden Zahn-Kiefer- und Kiefergelenkschmerzen, die vor allem morgens nach dem AuFwachen s o stark sind, daß die Parientin den Mund nicht mehr öffnen kann. Vorausgegangene zahnäntliche Behandlungen einschließlich Untersuchungen in der MyoarthropathieSprechstunde haben keine Lindemng erbracht.

In den Therapiegesprächcn in der S c h m e m b u l a n z imponicrt die Patientin durch ein Verhalten, welches durch den Wunsch nach Beachtung und Umsorgung geprägt ist. Sie spricht leise, fast tonlos, mit zusammengebissenen Zahnen, mit langen Pausen Mi. schcn den Fragen des Therapeuten und ihren Anrwortcn. Über ihrem Gesicht licgt cine demonstrativ lcidende Miene. Die Beschreibung ihrer Bcschwcrden ist ungenau und vage. Das Ende der Therapiesieungen zögert die Patientin heraus, indem sie durch Hypervcntilation sich in einen Errcgungszustand hineinatmet, mit dem Ziel, sich der Aufmerksamkeit des medizinischen Personals über die Bchandlungszeit hinaus zu versichern. lnsgcsamt fuhlt sich der Therapeut durch ihr Verhalten zu bcsondcrcr Geduld und Nachsicht aufgcmfcn. Er hat den Eindmck, daR es ihr wichtig ist, im iMtrelpunkt zu stehen und umsorgt zu wcrdcn. U.U. aus dcr Angst heraus, übergangen zu werden. Nur schr zögcrlich und widerstrebend berichtet die Paticntin übcr ihrcn Werdegang. Sie ist die Jüngere eines gleichgeschlcchtlichcn Gcschwistcrpaares, das in cinem Altersabstand von drei Jahren geborcn wurde. Erst allmahlich stellt sich heraus, da13 die als vordergrindig ,schonu gcschildcrre Kindheit geprägt war durch die unnachgicbigcn Anfordcrungcn cincs als sncng und kontrollierend erlebten Varcrs. Die .Mutter wird als schwach und dem Vater untergeben beschrieben. Aus dcr Sicht der Patientin haben zudem die drei Jahre ältere Schwester und sie um die Zuneigung des Vaters rivalisiert, wobei sie häufig die Unterlegene gcwesen wäre. Sic schätzt sich sclbst als .das 5. Rad am Wagen' der Familie ein. Um die crlcbte Mangelsituation auszugleichen, erzielt die Patiennn im Gcgensaa zur Schwcstcr beste schulische und bcmflichc Leistungen. Sic sichert sich dadurch das Gefühl der Wertschaaung und persönlicher Überlegenheit. Ihre Kompensationsversuche scheitern jedoch, als sie anldlich eines beruflich bedingten Wechsels das Elternhaus verläOt. An ihrem neuen Arbeitsplatz wird sie mir höher aualifizicrtcn Mitarbeitern konfrontiert. denen sie sich unterlegen fuhit. Ihre in der Urspmngsfamilie angelegten Minderwertigkeitsgcfuhlc wrrdcn - gekoppelt an massive S~lbstbesrrahin~stendcnzen reaktiviert.

Zu diesem Zeitpunkt tretcn die Schmerzen auf und ermöglichen ihr den Rückzug von den bemflichcn h f o r d e m n g e n und damit aus der permanent ,kränkendenu Situation. Gleichzeitig ist ein sekundärer Krankheitsgewinn N verzeichnen, indem die Patientin sich Zuwcndung und Beachtung vom Therapeuten sichert. Dort ist sie, wie sie sagt, "endlich einmal die Erste'.

An diesem ,schillerndenu Beispiel wird der kommunikative Aspekt des Krankheitsbildes offenbar: Der Schmerz garantiert das Fortbestehen von Beziehungen. Solange er vorhanden ist, bleibt auch die tröstliche Phantasie bestehen, daR ein allmächtiges Gegenüber (ein allmächtiger Vater, eine allmächtige Mutter, ein allmächtiger Therapeut) kommen und alles heilen wird. Geht der Schmerz fort - so die unbewugte Angst -, ist auch der andere fort und man selber verlassen. Diese zutiefst irrationale Annahme machte z. B. bei der obigen Patientin eine über viele Jahre währende Psychotherapie notwendig. Weiterhin lassen sich am Faiibeispiel andere Merkmale herausarbeiten, die für die Aufrechterhaltung der Konversionssyrn~tometypisch sind. Besonders augenfällig ist die indirekte Außerung von Aggressionen, die der Patientin über das Schmerzverhalten möglich wird. In diesem Sinne muß z. B. ihre ,VerbissenheitL' bewertet werden, die sich sowohl auf der Körperebene (in Verkrampfung und Schmerz der Kiefermuskulatur) wie auf der Beziehungsebene (z. B. in dem Festhalten an dem Therapeuten angesichts

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Der chronische Schmerz

364 Anästhesiol. Intetr~ivmed.Notfalmed. Schmetzther. 27 (1992)

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Hinzu kommt, d d der Schmerz oftmals als ,Nebenkriegsschauplaa" eingesetzt wird, um sich selbst und andere von den ursprünglichen quälenden Affekten abzulenken. Dieses äußert sich in der bei Schmetzpanenten häufig festzustellenden Tendenz, ihren Werdegang in einem günstigen Licht darzustellen (vgl. auch 0.a. Patiencin). Tauchen Probleme auf, werden sie sehr schnell nivelliert bzw. verleugnet. Eine typische Äußerung ist z.B. die: ,Das hat aber mit dem Schmerz nicht zu tunu - so, als ob Zusammenhänge plötzlich erahnt, aber um so schneller wieder verdrängt werden. Erst allmählich werden - mit wachsendem Vertrauen zum Therapeuten - vorsichtige Hinweise auf frühe Zurücksetzungen und Mißhandlungen offenkundig. Den Behandelnden bringt diese Dynamik häufig in eine paradoxe Situation: geht er - entsprechend dem Angebot des Patienten - allein auf die körperliche Seite ein, kann er ihm nicht helfen. Geht er auf das psychische ieiden ein, I Z t der Kranke sich nicht helfen. Vielleicht erklärt dieses Geschehen die häufig vorzufindenden wechselseitigen Enttäuschungen von sowohl Arzt als auch Patient. S c h m a vor dem Hintergrund einer Psychosomatose Zusätzlich zur Konversion ist auf einen weiteren ätiologisch bedeutsamen Faktor zur Schmerzgenese hinzuweisen. Gemeint ist eine Entwicklungsstörung im Prozeß der .Desomatisierungu von Affekten (13). Der Schmerz nimmt dann den Charakter einer psychosomatischen Erkrankung an. IVie aus der EnMicWungpsycholOgie benur (I kannt, werden Affekte Lust-Unlust-) Gefühle erlebt. Erst im Laufe der Zeit wird mit der zunehmenden Fahigkeit zur sprachlichen Begriffsbildung der Ausdruck von Gehihlen auf die psychische Ebene verlagen (Prozeß der Desomatisie~ng).Ein .vegetatives Korrelatu dieser Affekte bleibt gleichwohl erhalten. Der Erfolg dieses Prozesses ist stark abhängig von der Interaktion zwischen dem Kind und seiner Umwelt und damit von Lernprozessen, die durch familiäre Normen/Semngen bestimmt sind. Die Art und Weise, wie Eltern auf Affektäußerungen reagieren, die Güte des Dialogs zwischen Bezugspersonen und Kind, bestimmen das Lebensgefuhl des Kindes. Gleichermaßen fördern bzw. verhindern sie die Entwicklung der Fähigkeit, Affekte sprachlich umzusetzen.

Kann eine adäquate Begffsbi'dung durch fehlende Anreize oder strenge Normen nicht entstehen, kommt es zu keiner psychischen Repräsentanz der Affekte. Es bleibt allein die somatische, die dann stellvertretend für das Psychische steht. In diesem Zusammenhang sind dann ~ ~ r n ~ t o m b e s c h r e i b u ndes ~ e nPatienten zu finden, die -

- ohne weiteres auf seinen seelischen übertragen werden können (z. B. ,Ich kann das Kreuz nicht mehr tragenu, ,Ich mui3 Haltung bewahren' u.ä.).

zwar auf seinen körperlichen Zustand bezogen

Die Unfähigkeit eines affektiv-gehemmten Menschen, seinen "seelischen Schmerzu in adäquate Kommunikation umzusetzen, zeigt sich am folgenden Beispiel: Ein 45jähriger Patient mit rezidivierenden Lumbalgien und BWS-Schmerzen seit 20 Jahren berichtet aus seiner Kindheit. d& er im Alter von 1 M Jahren bei einem Bombenangriff seine Mutter verloren habe. Er selbst sei dabei längere Zeit verschüttet gewesen und nur rein zufälligauf dem Schoß der toten Mutter sitzend aufgefunden worden. Aus seinem weiteren Werdegang ist zu erwähnen, daß er 1964 seine damalig Ehefrau in flagranti mit einem Liebhaber erwischt, 1970 seinen Vater, der sich auf dem Dachboden erhängt hatte. gefunden und abgeschnitten habe. Das Erriehungsklima in der Familie schildert der Patient ais durch den gewainätigen Vater geprägt. Er habe eine "durchschlagende Erziehung mitgemacht, ,nie etwas zu sagen gehabt, gehorchen war alles'. Sein jetziges Leben sei - so der Patient - durch Arbeit geprägt und durch den Wunsch, .es allen recht zu machen'. Auffdig ist, daß der Patient sämtliche Ereignisse sachlich, ohne erkennbare Gemütsbewegungen schildert. Sie haben nebensächlichen Charakter. Im Minelpunkt stehen die körperlichen Vorginge, die er mit einem auffälligen Sprachbild umschreibt: ,Es ist ein Kreuzschmen, als ob meine Schultern von einer Dampframme ins Kreuz gestampft werden.'

Therapie Wie aus den Fallbeispielen hervorgeht, ist chronischer Schmerz aus pvchoanal~scher Sicht unter dem Aspekt der Konfliktverarbeitung zu verstehen. Gleichermden spiegelt sich in ihm in verzerrter Weise die Bezu seinen ,-.hen und aknicllen Beziehung des zugspersonen wider.

Es ist zu betonen, d d diese intrapsychischen Hintergründe und Wirkrnechanismen die Ausgestaitung des Schmeaerlebens auch bei einem eindeutig organbesteht - wie patholo~schenBehind mitbestimmen. Adler (1) anführt - bei diesem Beschwerdebild eine Verknüphng nvischen zwei Integranonsebenen, wobei die lische als die komplexere die ownismische zusammenschlieRt. Das therapeutische Vorgehen muß sich nun am weitgefächerten Beschwerdebild orientieren. Da Schmerzerleben und -verarbeitung durch die Persönlichkeit des Patienten gepräg sind, muß die Behandlung individuell auf den einzelnen ausgerichtet sein: Festgelegte therapeutisehe Schemata gibt es demnach nicht. Zurückhaltung zur Vermeidung vorschneller Entscheiduneen und Handlungen ist damit erstes Gebot der schmeGherapie. Der Gef&r des ärztlichen Agierens, die angesichts des hohen Erwartungs- und Leidensdrucks des Patienten in der Schmerztherapie besonders groß ist, ist auszuweichen. Behandlung um ihrer selbst d e n hilft weder dem Patienten noch dem Therapeuten.

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des Endes einer Behandungsstunde) äußert. Andere Schmerzpatienten drücken ihre aggressiven Motive durch die Art ihrer Symptomschilderung aus, indem sie Sprachbilder wie z. B. ,mörderischu, ,quälendu, ,zerreißendu U. ä. verwenden.

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Ausgangspunkt für die Therapie muß eine sorgfältige und umfassende Anamnese sein. Erst das Verstehen des Krankheitsgeschehens vor dem Hintergrund der Person des Patienten ermöglicht eine adäquate Therapieentscheidung. Festzuhalten ist, daß eine solche Entscheidung keinen Ausschließlichkeits-Charakter (im Sinne eines Entweder-Oder) tragen darf. Sie muß, abhängig vom Behandlungsverlauf, die Möglichkeit zum Wechsel in den jeweils anderen Bereich offen halten. An psychologischen Behandlungsverfahren bei chronischen Schmerauständen haben sich vor allem solche aus der sog. Verhaltensmedizin etabliert. So zielen z.B. Schmenbewältigungstrainings darauf ab, das patienteneigene Repertoire zur Schmerzlindemng zu erweitern (12). Weiterhin finden sich suggestive Verfahren wie das Autogene Training und die Hypnose. Ein psychoanalytisches Vorgehen ist im Vergleich zu den genannten in der Schmerzbehandlung eher unterrepräsentiert. Ein Grund mag darin liegen, daß vor allem Therapieansätze aus der Verhaltensmedizin dem handlungsbezogenen Denken des Arztes entgegenkommen. In ihrer funktionalen Ausrichtung sind sie an der erfolgreichen Beseitigung der Symptome orientiert, weniger an der Individualität des Patienten. Aufgrund eigener klinischer Erfahrungen I&t sich jedoch festhalten, d B die Bearbeitung und Bewußtwerdung der ,verborgenen Ebeneu des Schmerzgeschehens dem Patienten hilft, seine immer wieder mißlingenden ,Heilungs- und Rekonstmktionsversucheu in Form des Schmerzes aufzugeben. Erstaunlich ist dabei, wie rasch der Schmerz fur den Betroffenen an Bedeutung verliert, wenn es ihm gelmgt, zu den abgewehrten Gehhlen des Leidens, der Trauer und der Wut über die erlittenen Versagungen vorzustoßen. Vor dem Hintergrund einer bislang nicht erfahrenen, Sicherheit gewahrenden, nicht fordemden Haltung des Therapeuten kann er Mut gewinnen, sich selbst und anderen gegenüber offenere Formen der Lebensund Beziehungsgestaltung zu entwickeln. Kunsttherapeutische Ansäae, die über kreative Medien wie Musik und Malerei eine Erweiterung des Wahrnehmungs- und Empfindungsspektrums herbeifuhren, können diesen Prozeß unterstützen.' Nicht zuletzt sollte aber auch darauf hingewiesen werden, daß in den Fällen, in denen kompetente somatische wie auch psychotherapeutische Hilfen vergebens sind, nur noch die verständnisvoll-unterstützende F A rung durch den Arzt übrig bleibt. Diese kann über Jahre gehen und stellt nicht selten &r den Therapeuten eine schwierige Gratwanderung dar zwischen der Akzeptierung des Patienten in seinem Leiden und der Verweigerung unrealistischer Therapieangebote.

Die Verbindung von somatischen, psychoanalytischen und kreativen Behandlungskonzepten bei chronischen Schmenpaaenten ist zur Zeit Gegenstand eines Forschungsprogramms, das als TagesklinikProjekt an der Universitätsklinik Münster verwirklicht wird.

Angesichts der Grenzen der Schmentherapie eröffnet sich dann ein anderer Aspekt der Arzt-Patienten-Beziehung: statt Heilung steht Begleitung im Vordergrund. Sie ist keinesfalls als Ausdruck des Scheitems mißzuverstehen, sondern als eine wesentliche Grunddimension schmentherapeutischen Denkens und Tuns. Literatur Adler, R H.: Schmen. In: Uexküil, T. V. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwamnbcrg, München, Wien Baltimore (1986) 55 1-564 2 Adler, R H., S. Zlot, C. Hürny, C. Minder: Engel's ,psychogener Schmerz und dcr zu Schmerz ncigcnde Patient": Eine rctrospcktive, kontrollierte klinische Studie. Psychothcr. mcd. Psychol. 39 (1989) 209-218 3 EgJc. U. T.. D. Kissinger, R Schwab: Eltern-Kind-Beziehung als Pradisposition fur ein psychogenes Schmemyndrom im Envachsencnaltcr. Psychothcr. mcd. Psychol. 41 (1990) 247-256 Engel, G. L: Psychogenic pain and the pain-prone patient. Am. J. Med. 26 (1959) 899-918 5 Freud, S.: Studien über Hysterie. Ccsammcltc Werke, Bd. 1 (1895) Fischer-Verlag, Frankfurt 1975 6 Croen, J. J.: Das Syndrom des sogenannten ,unbchandelbaren Schmerzes'. Psychother. med. Psychol. 34 (1984) 27-32 7 Hirsch, M.: Psychogener Schmen. In: Hirsch, M. (Hrsg.): Der eigene Körper als Objekt. Springer, Hcidelberg, Berlin (1989) 278-306 8 Hoffrnann, S.O., U. T. Eglc: Der psychogen und psychosomatisch Schmerzkranke - Entwurf zu cincr psychoanalynsch oricntierten Nosologie. Psychother. mcd. Psychol. 39 (1989) 193-201 9 Mahler, M. S., F. Pine, A. Bergman: Die psychische Geburt des Menschen, Fischer-Verlag,Frankfurt 1978 10 Melzack, R, P. D. Wall: The challcnge of pain. Basic Books, New York 1983 11 Mentzos, S.: Hysterie. Kindler-Verlag,München 1980 12 Rehfkch, H. P.: Schmmbewältigungstechniken, 2. Aufl. Institut f. Med. Psychologie, Universitat Marburg 1987 13 Schur, M.: Zur Metapsychologie der Somatisierung. In: Brcde, K (Hrsg.): E i n u r u n g in die Psychosomatische Medizin, Fischer-Verlag, Frankfurt (1974) 335-395 1

Prof. DY.H.-]. Hannich Institut h r Medizinische Psychologie der Universität Münster Domagkstr. 3 4400 Münster

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Der chronische S c h e r z

[Chronic pain as a psychosomatic syndrome].

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