Editorial Der chronische Schmerz P. Luwin, I. Gralow

Das Phänomen chronischer Schmerzen hat in den letzten drei Jahrzehnten in den verschiedenen Fachgebieten zunehmende Bedeutung erlangt. Chronische Schmerzen sind weder als nosologische Entität zu verstehen, noch ausschließlich zeitlich-quantitativ von akuten Schmenen abzugrenzen. Ihnen können Funktionsstörungen in den neuronalen Strukturen der Nozizeption, Schmemeiterleitung und -verarbeitung sowie deszendierenden Konaollsystemen zugrunde liegen. Chronische Schrnemn können auch aus einer komplexen Störung in der Interaktion dieser Systeme resultieren. Neurophysiologische Untersuchungen d e i n sind allerdings nicht imstande, die beobacht- und meßbaren Erregungsabläufe mit dem Für das Individuum entscheidenden subjektiven Erlebnisinhait, wie der Schmerz es darstellt, in Beziehung zu setzen. Eine ausschliei3lich auf organpathologische Verursachung reduzierte Betrachtungsweise ist daher nicht hinreichend, um den Chronifiziemngsprozeg und daraus resultierende Beeinträchtigungen vieler Lebensbereiche mit weitreichenden sozialmedizinischen Konsequenzen zu erklären. Bereits entwickiungsgeschichtlich spielen Schmerzen eine bedeutende Rolle, vermitteln sie doch als biologische Ausstattung Erfahrungen des Körpers in seiner Umwelt. So warnen sie vor potentieller Schädigung oder signalisieren eine solche bei Störungen des Organsystems. Über diese biologische Funktion hinaus und ungeachtet des somatischen Korrelats stellen Schmerzen auch eine erlernte Interaktion des Individuums mit seinen Bezugspersonen dar. Für den Therapieerfolg prognostisch bedeutsame Faktoren sind psychosomatische Störungen, die an der Entstehung chronischer Schmerzen mitbeteiligt sein oder als deren Folgeerscheinung auftreten können, sowie soziale Bedingungen, wie Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Renten- oder Regrei3ansprüche, die chronische Schmerzen verstärken oder eine berufliche Rehabilitation erschweren können. Der Komplexität chronischer Schmerzen kann daher nur eine interdisziplinäre Betrachtungsweise gerecht werden. Es war der Verdienst Boniuzs, diesen interdisziplinären Ansatz vor 40 Jahren zu initiieren und konsequent weiterzuentwickeln. 1973 wurde die "International Association for the Study of Pain" (IASP) gegründet, sie hat zur Zeit mehr als 4000 Mitglieder in 65 Landern. Die deutschsprachige Sektion entstand 1976 als „Gesellschaft zum Studium

Anästhesiol. Intensivmed. Notfallrned. Schmemher. 27 (1992) 333-334 0 Georg Thierne Verlag Stuttgart . New York

des Schmerzes Fiir Deutschland, Österreich und die Schweiz". Nach Gründung des ersten deutschen multidisziplinären Schmenzentrums in Mainz entstanden in den letzten 20 Jahren, vorwiegend unter Leitung von Anästhesisten, an zahlreichen Kliniken weitere Schmenambulanzen. Zunehmend werden der Schmerztherapie eigenständige Aufgaben in Forschung, Lehre und Krankenversorgung zuerkannt. 1988 wurde die Schmentherapie in die anästhesiologische Weiterbildungsordnung aufgenommen, allerdings ohne bisher einen standardisierten Nachweis theoretischer und praktischer Kenntnisse zu fordern. 1989 wurde an der Universität Göttingen eine Professur für Aigesiologie eingerichtet. Auch in der Ausbildung von Medizinstudenten findet die Algesiologie als Lehreinheit Berücksichtigung. So wurde am Institut für Medizinische Prüfungsfragen in Mainz dieser Bereich in den Gegenstandskatalog aufgenommen und soll 1993 in den ärztlichen Prüfungsfragen berücksichtigt werden. Trotz vielfältiger Fortschritte in der Erforschung chronischer Schmenphänomene spiegeln die therapeutischen Verfahren, die zur Schmerzbekämpfung eingesetzt werden, häufig noch eher das jeweilige fachspezifische Methodeninventar wider als das Resultat einer rational aus der Ätiologie begründbaren Entscheidung. Die aus der peri- und postoperativen Schrnerzbekimpfung übernommenen anästhesiologischen Techniken, die hier ihre pathophysiologisch begründbare Legitimation erfahren, sind auf die unterschiedlichen chronischen Schmemyndrome nur begrenzt übertragbar. Es ist daher zu fordern, dai3 zunächst unter Berücksichtigung der jeweils zugrundeliegenden Pathophysiologie eine standardisierte Diagnosestellung zu erfolgen hat, als Basis einer rationalen Therapieentscheidung. Eine ausreichende Quditätssicherung in der Patientenversorgung kann nur gewährleistet werden durch Schaffung international anerkannter Diagnose- und Therapiestandards, so wie es das 1986 von der ISAP publizierte Konzept einer Taxonomie vorsieht. Erst auf dieser Gmndlage sind Studien zur Therapieevaluation vergieichbar. Der multifaktoriellen Genese der meisten chronischen Schmerzphänomene kann nur der Einsatz einer multidisziplinären Therapie gerecht werden, wie die Entwicklung der Schmenzentren aufgezeigt hat.

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Klinik und Poliklinik h r Anästhesiologie und operative Intensivmedizin. Wesdälischc Wilhclms-UniversitätMünster

334 Anästhesioi. lntensivmed. NotfaUrned. S c h m d e r . 27 (1992)

Dies erfordert auch den Einbaug psychose matischer Stömngen und sozialmedizinischer Faktoren, die für den Chronifiziemngsprozeß entscheidende Bedeutung haben. Bei Vernachlässigung dieser Faktoren in Diagnostik und Therapie ist die nur organmedizinisch orientierte Vorgehensweise zum Scheitern verurteilt. Umgekehrt bleibt zu beachten, daß bei inadäquater somatischer Therapie und Nichtberücksichtigung pathophysiologischer VeränderunRegen. wie es z.B. bei vielen Patienten mit svrn~athischer , flexdystrophie nachweisen ist, sich komplexe psychosomatische Befindlichkeitsstöruneen entwickeln können. die ihrerseits den Erfolg einer zu spät einsetzenden Rehabilitation erschweren. -

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P. Lawin, I. Gralow: Der chronische Schmerz

Prof Dr. Dr. h.c. P. Lawin, FCCM ~li,,ikund poli~inik Für Anästhesiologie und operanve IntensivmediUn Westfälische Wilhelrns-UniversitätMünster Alben-Schwei~er-Straße33 Münster

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Es ist zu wünschen, d& die Forderung nach Standardisiemng und Quaiitätskontrolle, so wie sie für das Fachgebiet der Anästhesiologie als eine conditio sine qua non gilt, auch für Diagnostik und Therapie chronischer Schrnemn übernommen wird. Die Beiträge dieses Minisyrnposiums sollen dazu als Anregung dienen.

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[Chronic pain].

Editorial Der chronische Schmerz P. Luwin, I. Gralow Das Phänomen chronischer Schmerzen hat in den letzten drei Jahrzehnten in den verschiedenen Fach...
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