118 K/in. Mb!. Augenheilk. 197 (1990)

Das kongenitale Fibrosesyndrom Uberlegungen zur Atiologie, Genetik und chirurgischen Therapie K. P. Boergen', B. Lorenz', J. MQller-HOcker2 'Augenklinik der Universitdt Mdnchen (Direktor: Prof. Dr. O.-E. Lund) 2Pathologisches Institut der Universitat Munchen (Direktor: Prof. Dr. M. Eder)

Zusammenfassung Das Fibrosesyndrom ist seit mehr als 100 Jahren bekannt. Dennoch gibt es immer noch ungeklarte Fragen bezuglich der Atiologie, dem Verlauf und dem optirnalen Zeitpunkt für die Intervention. Aus unseren

eigenen Erfahrungen mit 12 Fallen (2 einseitigen, 10 beidseitigen, 7 mit Augenmuskel- und/oder Lidchirurgie) wird versucht, zu einer Antwort auf diese Frage beizutragen.

Congenital Fibrosis Syndrome: Etiologic, Genetic and Therapeutic Aspects Fibrosis syndrome has been a well-known

clinical entity for more than a century. Nevertheless, there are still some unresolved questions concerning its etiology, chronological course, and optimal timing of surgery. On the basis of their experience in 12 cases (2 unilateral, 10 bilateral, 7 with eye muscles and/or lid surgery), the authors attempt to help answer these questions.

Einleitung Vor 110 Jahren beschrieb Heuck (7) in den klinischen Monatsblattern ausfUhrlich bei einer Mutter mit 3 Kindern einen ,,angeborenen, vererbten Beweglichkeits-

defect der Augen", der spater als ,,Fibrosesyndrom" bezeichnet wurde (1, 2). Unter diesem Begriff wurden z. B. von Harley (6) mehrere Krankheitsbilder zusammengefal3t Tab.

Klinische Erscheinungsformen des Fibrosesyndroms (Harley, 1978) 1

* generalisierte Fibrose * congenitale Fibrose des M. rect. mt. mit beidseitiger Ptosis * Strabismus fixus * congenita(e einseitige Fibrose mit Enophthalmus und Ptosis * vertikales Retraktionssyndrom

KIm. Mb!. Augenheilk. 197 (1990) 118—122

1990 F. Enke Verlag Stuttgart

(Tab. 1), von denen die klinisch haufigste Form nach unserer Erfahrung die kongenitale bds. Fibrose des M. rectus inferior mit bilateraler Ptosis ist. Auch nach uber 100 Jahren wirft das Fibrosesyndrom noch Fragen auf, die sich in 3 Komplexe gliedern lassen: 1. .4tiologie und Pathogenese Handelt es sich primEr urn einen zentrai-nervosen (Ehnlich dern Duane- oder dern Moebius-Syndrom) oder primEr peripheren Prozei3? 2. Verlauf 1st die Erkrankung progredient oder, wie die einfache kon-

genitale Ptosis, stationEr? 3. Therapie Wann solite die operative Therapie einsetzen (Früh- oder Spatoperation) und in weicher Reihenfolge soliten die operierten Eingriffe erfolgen?

Anhand unseres eigenen Materials sowie den Literaturberichten soil versucht werden, zur Beantwortung dieser Fragen beizutragen. Eigenes Materiaj und Kasuistiken Ubersicht

In den letzten 12 Jahren haben wir 12 Patienten mit Fibrosesyndrom (10 beidseitige und 2 einseitige) beobachtet. Die einseitigen FaIle waren sporadisch. Von den 10 beidseitigen (ausschlielllich bds. Fibrosen des Rectus inferior + Ptosis, davon 6 weibhche und 4 mannliche Patienten) waren 3 sporadisch und 7 familiar, letztere in 4 verschiedenen Familien. In sieben beidseitigen Fallen wurden Ptosis- und/oder Augenmuskeikorrekturen durchgefuhrt. Eine Obersicht hieruber gibt die Tabelle 2. Die FElle 1, 3 und 5 wiesen klinisch bezüglich der

Therapie keine Besonderheiten auf, auller dat) im Fall 3 zuerst statt einer Frontalissuspension eine beidseitige Frontahsimplantation in das Oberhd erfolgt war mit gutem Erfoig. Anschliellend Iagerten wir beide Musculi recti inferiores urn 10 mm zurUck. Die ubrigen Fitile zeigten Besonderheiten, die im Zusammenhang mit den gestellten Fragen von Bedeutung sind und sollen daher detaillierter dargesteilt werden.

Kasuistiken Fall 2 (Tab. 2): Dieses Kind wurde irn Alter von 5 Monaten erstmals wegen Kopfzwangshaltung und Ptosis vorgesteilt. Es bestand eine Kinnhebung bis 300 bei starker Heber- und Senkereinschrankung und beidseits Ptosis (Abb. la). Mutter und Grollvater litten ebenfalls an einem Fibrosesyndrom gleicher Aus-

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Herrn Professor Dr. 0. -E. Lund zum 65. Geburtstag gewidmet

K/in. Mb/. Augenhei/k. 197 (1990) 119

Das kongenitale Fibrosesyndrom Tab. 2 Alter bei OP Operationen Sitzungen ErgebnEs

AF.

7M

I, II

2

gut

2 AD.

14 M

I, II

3

gut

3 0.8.

4J

II,

2

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6J2M

I, II, Ill, IV

3

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6J4M

I, II

1

gut

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12 J 10 M

II, V

1

gut

7 J.B.

33 J

I, VI

2

0 An-

26. 07. 85

fl7. 05. 83 18. 10. 76

4 MW.

18. 09. 81 5 K.T.

I

22. 08. 82 03. 11. 75 '30 07. 49 I)

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bds. Rect. nI. rOckl. bds. Front. susp. bds. Rect. ext. rUckl.

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1

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bds. Rect nt. res ems. Lev. exc. bds. Rect. sup. res.

S.

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Abb. 1

Fall 2

a) praeoperativer Betund b) postoperativer Befund

pragung. Wegen einer bds. Mikropapille und linksseitigen Hemiparese bei dem Kind erfolgte eine padiatrische Untersuchung. Dabei fand sich eine Septum-pellucidum-Agenesie im Sinne eines ,,de Morsier-Syndroms". Die Hemiparese 1st hierdurch nicht erklart. Im Laufe von 2 Wochen wurden, wie in der Literatur beschrieben

('.. Abb. 2 a) Fall 4 im Alter von 4 Monaten b) Fall 4 im Alter von 6 Jahren C) Fall 4 postoperativ

(8), Bulbus- und Lidstellungskorrekturen in 3 Schritten durchgefUhrt.

Zunächst erfolgte links die Rucklagerung des M. rectus inferior an 10mm 5 ,0-Vicrylschlingen, die 4mm hinter dem Muskelansatz fixiert wurden, so dal3 eine Gesamtstrecke von 14 mm zustande kam. Nach Abtrennen des Musculus rectus inferior war die passive Beweglichkeit deutlich besser und 10_150 uber die Mittellinie moglich. Als nächstes wurde rechts eine Frontalissuspension sowie eine Rectus inferior-Rucklagerung an 10 mm langen Schlingen durchgefuhrt. Da der Rectus inferior 9 mm hinter dem Limbus inserierte, unterblieb die zus8tzliche Rucklagerung

des Schlingenansatzes.

Zuletzt wurde links das Oberlid mit koriservierter Fascia lata am Frontalis suspendiert. Postoperativ bestand nur noch eine geringe Kinnhebung von max. 100 (Abb. Ib). Der Horizontaiwinkel schwankte zwischen —15 und + 15°.

6 Jahre spater hatte der Effekt der Suspension nachgelassen bei unveranderter Augenstellung. Da trotzdem Hornhautkomplikationen in Form einer beidseitigen Stippung bestanden, wurde beschlossen, beide Bulbi durch eine Rectus-supe-

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Fall

120 KIln. Mb!. Augenheilk. 197 (1990)

K. P. Boergen und Mitarb. Abb. 3 Stammbaum der Familie W (Fall 4)

fr'

WM

Fbosesyntom

elis. Fbrosesyn&om

- frau. betroffen

0 - enters&ht

rior-Resektion noch etwas nach oben zu verlagern und die Suspension mit Kunststoffmaterial zu wiederholen. Intraoperativ zeigte sich, daB die Bulbi in vertikaler Richtung nahezu immobil waren,

weshalb auf eine Nachkorrektur verzichtet wurde.

Fall 4 (Tab. 2): Dieser Junge wurde ebenfalls frUh, im Alter von 4 Monaten vorgestelit. Er wies ebenfalls em typisches Fibrosesyndrom mit Heber- und Senker- und Adduktionseinschrankung auf. Die Kopfzwangshaltung war mal3ig ausgepragt (Abb. 2). In der Familie waren zahlreiche weitere Falle von

Fibrosesyndrom unterschiedlicher Auspragungen beobachtet warden (Abb. 3). Der Stammbaum dieser Familie war 1984 von Roggenkamper und Mertz partiell verOffentlicht (11) worden. Der Vater des Jungen weist lediglich eine rechts deutlicher als links ausgepragte Hebereinschrankung auf (Abb. 4). Die GroBmutter väterlicherseits, die Gentragerin sein mull, da sie mehrere betroffene Kinder hat, zeigte im Alter von 75 Jahren eine weitgehend normale MotilitAt. Beim Enkel wurde eine Fruhoperation empfohlen, von anderer Stelle jedoch davon abgeraten, so daf3 die Eltern keinen Eingriff durchfuhren lieBen. Bei der Wiedervorstel-

Abb. 4 Vater von Fall 4: beidseitige, rechts mehr als links ausgeprägte Hebereinschrtnkung ohne Ptosis

lung mit 6 Jahren zeigte sich eine starke Kopfzwangshaltung (Abb. 2b), aullerdem eirie schwankende Divergenz bis zu 40°. Im Alter von 6 Jahren und 2 Monaten wurden im Abstand von 2 Wochen folgende Eingriffe in 2 Schritten durchgefUhrt:

bei Abblick trat eine Divergenzstellung (Abb. 6a) auf. AuBerdem

bestand cine Synkinesie des linken Oberlides im Sinne eines Marcus Gunn-Phänomens (Abb. 6b). Aus diesem Grund wurde der

linke Musculus levator palpebrae excidiert und beidseits eine Zunàchst beidseits Rucklagerung des M. rectus inferior an 10 mm langen 5,0-Vicrylschlingen; 2 Wochen später beidseits Rectus externus-Rucklagerung an 10 mm Schlingen sowie beidseits Frontalissuspension mit konservierter Fascia lata. Wegen einer trotz Rectus externus-Rucklagerung bestehenden Divergenz von 40—50° wurden /2 Jahr spater noch beide Recti interni um 7—8 mm reseziert. Das Ergebnis war maBig (Abb. 2c): Die Kopfzwangshaltung war zwar deutlich gebessert, aber es bestand immer noch eine erhebliche Divergenzstellung. Die histologische Untersuchung der resezierten MuskelstUcke ergab regular differenzierte Muskelfasern mit deutlicher Kollagenfaserbildung. Histochemisch (Abb. 5) fand sich eine positive Reaktion der Mitochondrien fur Zytochrom-C-Oxydase, dem terminalen Enzym der Atmungskette. Lediglich in einer Muskelfaser, die offenbar auch

deutlich atrophisch ist, war der Gehalt an Mitochondrien reduziert.

Fall 5 (Tab. 2): Dieser ebenfalls familiäre Fall (Mutter und Grofivater etwa gleich stark betroffen) wurde erstmals mit 10 Jahren vorgestellt. Hebung und Senkung waren stark eingeschrankt, es wurde nur eine geringe Kinnhebung eingenommen. Beim Aufblick kam es zu einer zunehmenden Konvergenz,

Frontalissuspension mit Fascia lata durchgefuhrt. Da der Effekt von letzterer wieder nachliefl, wurde mit Supramid resuspendiert. Das Ergebnis war zufriedenstellend (Abb. 6c).

Fall 7 (Tab. 2): Hierbei handelt es sich um die Mutter von Fall 3. Mit 5 Jahren war eine beidseitige Ptosis-Operation nach Hess durchgefuhrt warden (Abb. 7a und b). Die Kopfzwangshaltung blieb jedoch unverändert, da sie durch die Fixierung der Bulbi im Abblick und nicht durch die Ptosis bedingt gewesen war. Wegen der eingeschrankten Motilitgt und dem fehlen-

dem Bellschen Phanomen litt die Patientin aber seither an einer Expositionskeratitis. 27 Jahre spBter sicilte sie sich wieder vor mit eingeschrankter Hebung und Senkung aber auch Abduktion, so-

wie Divergenzstellung bei Abblick. Es wurde eine Kinnhebung von 30° eingenommen (Abb. 7c). Der Lidschlufl war insuffizient

und die untere Hornhaut gestippt. Wegen dieser Problematik wurden beide Recti inferiores um 6—7 mm zuruckgelagert. Nach Abtrennen der Muskeln war die passive Beweglichkeit nicht, wie dies bei jtingeren Patienten der Fall war, deutlich gebessert, sondern nahezu unveränder-t. Auch eine beidseitige Rectus superiorResektion um 5—6 mm, die in einem Schritt durchgefuhrt warden war, konute die Bulbusstellung nicht entscheidend ändern.

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U - bds

K/in. Mb!. A ugenheilk. 197 (1990) 121

Das kongenitale Fibrosesyndrom

a Abb. 5 Ultracytochemischer Nachweis der Cytochrom-c-Oxidase-AktivitdI der Mitochondrien: die Mitochondrien weisen eine normale Reaktivität auf )verstärkte Kontrastierung durch das Reaktionsprodukt). In einer atrophisch erscheinenden Faser ist jedoch der Gehalt an Mitochondrien vermindert )VergrdRerung 5000-fach).

S ci —p.

0

C

Abb. 7 FaIl 7 a) praoperativ deutliche Kinnhebung b) postoperativ beidseits PtosisOperation nach Hess): Zwangshaltung unverändert ci FaIl 7 mit 32 Jahren

Abb. 6 FaIl 5 a) paradoxe Augenbewegungen bei Auf- )Konvergenz) und Abblick )Divergenz) b) deuthches Marcus Gunn Zeichen links ci Zustand nach Levatorexcision links und beidseitiger Frontalissuspension

Einseitige Falle: Beide, em

zweijahriges Mad-

Abb. 8 einseitige komplette Fibrose mit Enophthalmus ohne Rtosis

chen (Abb. 8) und em 4 Monate alter Junge waren sproadisch und

ohne die sonst beschriebene Ptosis. Das Mädchen wies einen deutlichen Enophthalmus und ailseitige Motilitatseinschrankung auf.

Das Madchen wurde nicht operiert. Bei der letzten Refraktion im Alter von 3 Jahren fand sich em hoher Astigma-

Diskussion

tismus sowie eine Anisometropie. Binocularfunktionen waren nachweisbar und das Kind glich die fehiende Bulbusmotalität durch Kopfbewegungen aus. Bei dem Jungen bestand em ähnli-

Atiologie und Pathogenese

ches Bild, allerdings zusätzlich eine narbige Einziehung des nasalen Lidwinkels. Beim Yersuch der operativen Revision zeigten sich derbe, in die Tiefe reichende Narbenstrange nasal. Der Verdacht auf em intrauterines Trauma bestand, konnte aber anamnestisch nicht erhartet werden. Eine Amniocentese war nicht durchgefuhrt worden.

Bezuglich der Ursachen des Fibroses n-

.

droms stehen sich zwei Annahmen gegenuber:

Zum einen die Hypothese eines primär zentral-neurogenen Prozesses ähnlich dem MObius- und Duane-Syndrom, zum anderen die primar peripher-muskularer

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b

KIm. Mb!. Augenheilk. 197 (1990)

K. P. Boergen und Mitarb.. Das kongenitale Fibrosesyndrom

Veranderungen. Letzteres wurde bereits von Heuck (7) favorisiert, wobei als Hauptindizien erhebliche Ansatzanomallen sowie volliges Fehien einzelner Muskein herangezogen wurden. Auch in einem unserer Fälle zeigte sich eine Anomalie des Muskulus rectus inferior, der in 9 mm Limbusabstand inserierte (Fall 2). Die Aussparung der inneren Augenmuskein wird auch als Indiz fur die nicht neurogene Ursache des Fibrosesyndroms herangezogen. Interessanterweise beschrieb aber Heuck bei semen Patienten auch paradoxe Augenbewegungen wie Konvergenz bei Seitblick mit Miosis, die sich durch muskulär-mechanische Veranderungen nicht erklären lassen.

Fehlinnervationen (z. B. Konvergenz bei Aufblick eventuell verbunden mit Divergenz bei Abblick oder umgekehrt) wurden haufig beschrieben (3, 5, 6, 7, 10, 11) und finden sich auch in unserem Material (Fall 3, 4, 5, 7). Bei Fall 5 bestand zusätzlich noch em Marcus GunnZeichen, was auch von anderen Autoren gefunden wurde (6, 11). Sie stellen em starkes Indiz für eine primar neurogene Ursache der kongenitalen Fibrose dar. Weitere in diese Richtung weisende Befunde wurden von Cibis et al. (3) bei elektromyographischen Untersuchungen an zwei betroffenen Familien gefunden. In einer Familie waren zusatzlich die inneren Augenmuskein betroffen. Auch assoziierte zentralnervose Defekte wie z. B. beidseitige Mikropapillen oder Septum-pellucidum-Agenesie (Fall 2) konnten für eine primar zentrale Ursache sprechen (6). Eine mitochondriale Myopathie ist durch die ultrazytochemischen Befunde eher unwahrscheinlich. Genetisch lal3t sich die Variationsbreite der Erkrankung in einzelnen Familien (Fall 4), die von schwerer beidseitiger Fibrose bis zu angedeuteter einseitiger (10, 11) reicht, durch unterschiedliche Genexpressivitat erkla-

ren. Da verschiedene Auspragungsgrade in einer Familie moglich sind (siehe Fall 4 aus der auch von Roggenkamper beschriebenen Familie) erscheint die von Harley angegebene Einteilung (Tab. 1) der Fibrose zumindest fragwUrdig. Bei sporadischen einseitigen Fallen werden ursachlich vorgeburtliche Traumen diskutiert, wie von Effron et al. (4) beschrieben. Diese Genese konnte für unseren einseitigen atypischen Fall mit Narbenbildung nasal zutreffen. Verlauf:

Die Frage der Progredienz der Veranderungen ist noch nicht endgultig geklart. Bereits Heuck (7) glaubte in einem seiner Fälle Anhaltspunkte gefunden zu haben, dalI ,,mit zunehmendem Alter die GrolIe der Seitenbewegungen abnimmt". In neuerer Zeit haben Nemet et al. (9)111 einer Familie mit 10 Betroffenen eine Progredienz beschrieben, während Roggenkamper(l 1) bei 7 Mitgliedern einer Familie uber 2 Generationen dies nicht be-

obachtete. In einem Fall (Fall 4) hatten wir den Eindruck einer deutlichen Zunahrne der Kopfzwangshaltung Uber 6 Jahre. In unserem am langsten beobachteten Fall (Fall 7) wurde in den Unterlagen leider anfanglich nichts uber die Motilitht verrnerkt. Im Fall 2 verschlechterte sich die passive Motilitat zwischen der Fruhoperation im Alter von 14 Monaten und einer spateren Revision im

Alter von 7 Jahren. Es gibt also Indizien, daB eine Progredienz vorliegt, die aber weniger den ursächlichen und nach wie vor unbekannten Grundprozell betreffen durfte. Vielmehr durfte es sich urn Sekundarveranderungen am orbitalen Bindegewebe und den Augenmuskeln handeln.

Therapie Bezuglich der operativen Therapie stellt sich die

Frage nach dem optirnalen Zeitpunkt und der Reihenfolge der operativen Eingriffe. Es 1st vorstellbar und in Analogie zu anderen langer bestehenden Bulbusfehistellungen z.B. bei endokriner Orbitopathie durchaus berechtigt anzunehmen, dat) es durch eine

lange bestehende Fixierung des Bulbus in Abblick zu Sekundarveranderungen an Bindehaut, Tenonscher Kapsel und anderen orbitalen Bindegewebsstrukturen kommt. Einen deutlichen Hinweis fanden wir in Fall 7, bei dem sich auch nach Abtrennen der M. recti inferiores der Bulbus passiv nicht besser mobilisieren liel3. Bei den fruhoperierten Kindern war dies zunhchst ohne weiteres rnoglich, bei einer sphteren Revision wie in Fall 2, hat-

te sich die passive Beweglichkeit deutlich verschlechtert. Fine fruhzeitige Stellungskorrektur im Sauglingsalter erscheint daher sinnvoll. Urn allerdings den Effekt der hochdosierten Rucklagerung zu sichern, sollte gleichzeitig eine grofle Resektion der Recti superiores, sowie eine beidseitige Frontalissuspension mit Kunststoffmaterial (z. B. Mersilen R) durchgefuhrt werden. Das schrittweise Vorgehen, wie es von Laughlin (8) angegeben und auch von uns in einigen Fallen praktiziert wurde, erscheint nach unseren Erfahrungen nicht notwendig zu sein. Bei Hohen- und Seitenproblemen operieren wir allerdings nicht wie Nemet et al. (9) an allen 4 geraden Augenmuskeln wegen der Gefahr der Vorderabschnitts-

ischamie, sondern verbessern zungchst nur die Kopfzwangshaltung uber die vertikalen Recti. Letztlich stelit nhmlich das postoperative Ergebnis immer einen Kompromif) zwischeii kosmetischen Erwartungen und funktionellen Bedurfnissen dar.

Literatur

2

6

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Manuskript erstmals eingereicht 8. 11. 1989, zur Publikation in der vorliegenden Form angenommen 18. 12. 1989.

Prof Dr. K. P. Boergen Leiter der Sehschule der Augenklinik der Universitat Mathildenstr. 8 8000 MUnchen 2

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[Congenital fibrosis syndrome. Considerations on etiology, genetics and surgical therapy].

Fibrosis syndrome has been a well-known clinical entity for more than a century. Nevertheless, there are still some unresolved questions concerning it...
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