Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 632—637

Online verfügbar unter www.sciencedirect.com

ScienceDirect journal homepage: http://journals.elsevier.de/zefq

SCHWERPUNKT

Umgang mit diagnostischer Unsicherheit in der Hausarztpraxis Dealing with diagnostic uncertainty in general practice Magdalena Wübken, Jana Oswald, Antonius Schneider ∗ Institut für Allgemeinmedizin, Klinikum rechts der Isar, TU München Eingegangen/submitted 2. August 2013; überarbeitet/revised 10. Oktober 2013; akzeptiert/accepted 10. Oktober 2013

SCHLÜSSELWÖRTER Allgemeinmedizin; diagnostische Unsicherheit; Diagnostisches Denken; Prävalenzen; Bio-psycho-soziales Modell; Kommunikation



Zusammenfassung Die hausärztliche Arbeit findet im sogenannten Niedrigprävalenzbereich statt. Dem zu Folge ist aufgrund der niedrigen Prävalenz von Krankheiten die diagnostische Genauigkeit von Tests eingeschränkt. Darüber hinaus kommen die Patienten mit den initialen Symptomen einer Erkrankung in die Praxis, hinter denen eine Vielzahl von Erkrankungen stehen kann, sodass hieraus eine diagnostische Unschärfe resultiert. Letztlich ist eine gewisse diagnostische Unsicherheit in der Hausarztpraxis also systemimmanent. In der Übersichtsarbeit werden die verschiedenen Ursachen von Unbestimmtheit und mögliche Strategien zum Umgang mit Unsicherheit im Kontext der wissenschaftlichen Literatur diskutiert. Angst vor Unsicherheit geht mit höheren diagnostischen Aktivitäten einher. Eine ablehnende Haltung gegenüber Unsicherheit scheint einen Einfluss auf die spätere Wahl der Facharztrichtung zu haben. Eine Ursache für den Hausärztemangel könnte eine wachsende Intoleranz gegenüber Unsicherheit sein, die bei stetigem technischem Fortschritt weiter zunimmt. Von hoher diagnostischer Bedeutung ist der bio-psycho-soziale Kontext der hausärztlichen Tätigkeit. Unter kognitionspsychologischen Gesichtspunkten besteht ein Spannungsfeld zwischen Nutzen und Schaden von Heuristiken und Intuition bzw. Bauchgefühl. Sehr wichtig ist eine gute Kommunikation, um die Patienten bei bestehenden Unsicherheiten im medizinischen Entscheidungsprozess adäquat einzubinden. Umgang mit Unsicherheit sollte als Komponente des hausärztlichen Berufes vermehrt Beachtung finden und weiter untersucht werden, um diesbezügliche Strategien optimieren zu können.

Korrespondenzadresse: Magdalena Wübken, cand. med., Institut für Allgemeinmedizin, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, Orleansstraße 47, 81667 München, Tel.: +49 6146589-13; Fax:+49 6146589-15 E-Mail: [email protected] (M. Wübken).

1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2013.10.017

Umgang mit diagnostischer Unsicherheit in der Hausarztpraxis

KEYWORDS General practice; diagnostic uncertainty; diagnostic reasoning; prevalence; bio-pyscho-social model; risk communication

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Summary In general, the prevalence of diseases is low in primary care. Therefore, the positive predictive value of diagnostic tests is lower than in hospitals where patients are highly selected. In addition, the patients present with milder forms of disease; and many diseases might hide behind the initial symptom(s). These facts lead to diagnostic uncertainty which is somewhat inherent to general practice. This narrative review discusses different sources of and reasons for uncertainty and strategies to deal with it in the context of the current literature. Fear of uncertainty correlates with higher diagnostic activities. The attitude towards uncertainty correlates with the choice of medical speciality by vocational trainees or medical students. An intolerance of uncertainty, which still increases as medicine is making steady progress, might partly explain the growing shortage of general practitioners. The bio-psycho-social context appears to be important to diagnostic decision-making. The effect of intuition and heuristics are investigated by cognitive psychologists. It is still unclear whether these aspects are prone to bias or useful, which might depend on the context of medical decisions. Good communication is of great importance to share uncertainty with the patients in a transparent way and to alleviate shared decision-making. Dealing with uncertainty should be seen as an important core component of general practice and needs to be investigated in more detail to improve the respective medical decisions.

Zum Berufsalltag eines hausärztlich tätigen Arztes1 gehört die Auseinandersetzung mit ,,diagnostischer Unsicherheit‘‘ [1]. Die Gründe für die diagnostische Unschärfe sind vielfältig und es gibt unterschiedliche Strategien zum Umgang mit Unsicherheit — dies soll im Folgenden reflektiert werden.

Niedrigprävalenzbereich im Kontext der hausärztlichen Arbeit Das Institute of Medicine (IOM) formulierte bereits 1994 die Basisaufgaben der hausärztlichen Medizin. Im Sinne der Primärversorgung ist es die Aufgabe des Hausarztes, Ansprechpartner seiner Patienten in allen möglichen medizinischen Belangen zu sein, durch stetiges Begleiten des Patienten eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und ihn im sozialen und familiären Kontext zu betreuen [2]. Dazu gehört ein niederschwelliger Zugang bei der Bereitstellung von medizinischer Versorgung. Im besten Fall kennt der Hausarzt seine Patienten über viele Jahre und zieht in seine diagnostischen Überlegungen das Wissen um das private, berufliche und familiäre Umfeld der Patienten mit ein. Dies wird als ,,erlebte Anamnese‘‘ bezeichnet [3]. Im Sinne der Primärmedizin fungiert der Hausarzt somit als erster Ansprechpartner seiner Patienten, der über die weiteren Schritte entscheidet und ein breit gefächertes, unausgelesenes Patientenklientel behandelt, Patienten gegebenenfalls an einen Spezialisten überweist oder ins Krankenhaus einweist. Die damit einhergehende Selektion im Gesundheitssystem wurde in einer großen epidemiologischen Studie von Green et al. [4] beschrieben und bestätigte im Wesentlichen die Ergebnisse von White et al. [5], der dies vierzig Jahre zuvor untersuchte: 1000 in die Studie einbezogene Personen beanspruchten unterschiedliche Ebenen medizinischer Versorgungsangebote. Am Ende der Selektion wurden nur 8 Personen in ein Krankenhaus und einer in ein

1 Zur Einfachheit wird im Text nur die maskuline Form verwendet. Gemeint sind beide Geschlechter.

Universitätsklinikum eingewiesen. In diesem Zusammenhang steht der Hausarzt mit seiner Steuer- und Filterfunktion am Anfang der Kaskade. Passend hierzu betont auch die ,,Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin‘‘ (DEGAM) in ihrer Fachdefinition des hausärztlichen Arbeitsbereichs, dass Allgemeinärzte darauf spezialisiert sind, ,,als erste ärztliche Ansprechpartner bei allen Gesundheitsproblemen zu helfen.‘‘ [6]. Dieser Arbeitsauftrag hat zur Folge, dass sie tagtäglich mit Anfangsstadien von Erkrankungen und unspezifischen Symptomen konfrontiert werden, die eine große Spannbreite möglicher Differentialdiagnosen mit sich bringen [1]. Des Öfteren ist es nicht möglich, eine exakte Diagnose zu stellen und einen eindeutig passenden therapeutischen Weg einzuschlagen. Braun hatte bereits in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Bedeutung der diagnostischen Unschärfe im hausärztlichen Arbeitsbereich herausgearbeitet und konstatiert, dass nur in circa 10% der Fälle eindeutige Diagnosen vorliegen, gesichert z.B. durch Biopsien oder Kulturanzüchtung von Bakterien [7]. Die Vielzahl von uncharakteristischen ,,Symptomen‘‘ und ,,Symptomgruppen‘‘ stellen den Allgemeinarzt täglich vor die nicht immer einfache Entscheidung, entweder sofort eine weiterführende Diagnostik bzw. Therapie zu veranlassen oder das Beratungsergebnis ,,abwartend offenzulassen‘‘. Das Fehlen einer definitiven Diagnose löst bei vielen Ärzten die Sorge aus, eine schwerwiegende Erkrankung mit gefährlichem Verlauf zu übersehen. Dabei werden sie vor die Herausforderung gestellt, die Balance zwischen adäquater und überzogener Diagnostik, die letztlich auch den Patienten schädigen kann, zu wahren [8]. Aufgrund des niederschwelligen Patientenzugangs und der Konfrontation mit den ersten Symptomen einer Vielzahl möglicher Erkrankungen ist die Auftretenswahrscheinlichkeit und in der Regel auch die Intensität der einzelnen Erkrankung geringer als beispielsweise im Krankenhaus [9]. Die hausärztliche Arbeit findet somit im Niedrigprävalenzbereich statt [10]. Dabei gilt es, unter den häufigen harmlosen Fällen die abwendbar gefährlichen Verläufe zu erkennen und zugleich die erforderliche Therapie und Diagnostik zu gewährleisten. Problematisch ist hierbei, dass aufgrund der niedrigen Prävalenz der jeweiligen Erkrankung die positiven

634 Vorhersagewerte von diagnostischen Tests (=Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit einem positiven Testergebnis auch wirklich krank ist, engl.: positive predictive value, PPV) geringer sind als beispielsweise im Krankenhaus. Dieser Zusammenhang, der durch das Bayes’che Theorem beschrieben wird, wurde bereits in den fünfziger Jahren von Lusted und Ledley herausgearbeitet [11]. Die diagnostische Treffsicherheit ist also insbesondere in der Hausarztpraxis vermindert. Diese Problematik ist systemimmanent und kann durch eine Stufendiagnostik nur teilweise reduziert werden [10]. Dafür ist allerdings der negative Vorhersagewert (Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit negativem Testergebnis auch wirklich gesund ist, engl.: negative predictive value, NPV) in der Hausarztpraxis höher als im Krankenhaus [10].

Der bio-psycho-soziale Kontext der hausärztlichen Arbeit Die ,,Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin‘‘ (DEGAM) weist dem Allgemeinmediziner als Haus- und Familienarzt die Aufgabe zu, die Grundversorgung aller Patienten mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen in der Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung zu gewährleisten. Diese Prinzipien machen deutlich, dass ein Hausarzt nicht nur fachliche, sondern auch Kompetenz in zwischenmenschlichen Bereichen vorweisen muss. Nur durch gute Kommunikation kann er eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung aufbauen - die Bedingung einer ,,erlebten Anamnese‘‘ im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells. So betonen die Pioniere der psychosomatischen Medizin, Uexküll und Wesiack, ,,dass der Arzt ständig vor der Frage steht, ob und inwieweit Symptome eines Kranken oder der Verlauf einer Krankheit durch physische, psychische oder soziale Determinanten oder durch eine Kombination aus allen dreien bedingt sind,(. . .)‘‘ [12]. Daraus resultiert, dass jeder auch scheinbar kleine Beratungsanlass immer drei verschiedene Informationsebenen beinhaltet: ,,Geschichte einer Krankheit‘‘, ,,Geschichte eines Kranken‘‘ und die ,,Geschichte einer Arzt-Patient-Beziehung‘‘ [12]. Im bio-psycho-sozialen Modell wird die Gesundheit des Patienten als Prozess und dynamische Interaktion von Körper, Geist und Umwelt verstanden. Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein stetiger Prozess [12]. Der Mensch stellt nach diesem Modell eine ,,ganzheitliche organische Einheit‘‘ dar. Dieser Ansatz verlangt nicht nur Diagnostik und Therapie auf drei Ebenen, somatisch, psychologisch und sozial, sondern auch drei Kompetenzen seitens des Arztes: ,,psychosoziale bzw. kommunikative Kompetenz‘‘, ,,psychosomatische und psychotherapeutische Kompetenz‘‘ und ,,naturwissenschaftliche Kompetenz‘‘ [13]. Das biopsychosoziale Verständnis bietet also vor allem in der Hausarztmedizin Unterstützung beim Umgang mit diagnostischer Unsicherheit, vor allem bei Nutzung des hohen Potentials der ,,erlebten Anamnese‘‘. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der hohen psychischen Komorbidität von Bedeutung, mit der sich die Patienten in der Hausarztpraxis präsentieren — circa 25% weisen eine Depression, Angst-/ Panikstörung oder eine somatoforme Störung auf [14].

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Emotionale Aspekte zum Umgang mit Unsicherheit Sowohl die geringe Auftretenswahrscheinlichkeit der einzelnen Erkrankungen als auch die Mannigfaltigkeit von möglichen Erkrankungen — insbesondere im ganzheitlichen Sinne des bio-psycho-sozialen Modells — stellen eine hohe diagnostische Herausforderung dar, die häufig mit Unsicherheiten im hausärztlichen Alltag einhergeht. Insofern gilt der souveräne Umgang mit Unsicherheit als Kernkompetenz des Hausarztes [1]. Dabei ist das Gefühl diagnostischer Unsicherheit ein vielseitiges Phänomen, mit dem Ärzte nicht nur im Berufsleben, sondern auch während ihrer langjährigen Ausbildung immer wieder aufs Neue konfrontiert werden. Fox beschrieb 1957 verschiedene Auslöser von diagnostischer Unsicherheit, die schon während des Studiums an Relevanz gewinnen. Medizinstudenten und approbierte Ärzte werden sowohl mit eigenem fehlenden oder fehlerhaftem Wissen, als auch mit den Grenzen heutiger medizinischer Erkenntnis konfrontiert. Nicht immer sind sie dazu fähig, beide Quellen medizinischer Unwissenheit auseinanderzuhalten [15]. Gerade das ,,Nicht-Wissen‘‘ und ,,Nicht-Wissen-Können‘‘ stellen insbesondere für Medizinstudenten eine große Herausforderung mit niedriger Frustrationsgrenze dar. In diesem Zusammenhang unterstreicht Beresford drei verschiedene Arten von Unsicherheit: ,,Technische‘‘, ,,Persönliche‘‘ und ,,Konzeptuelle Unsicherheit‘‘. Unter ,,Technischer Unsicherheit‘‘ versteht er die fehlende wissenschaftliche Datenlage, durch die der medizinische Fortschritt mit all den neuesten technologischen Untersuchungen und Therapien nicht korrekt in die Praxis umgesetzt werden kann. Die ,,Persönliche Unsicherheit‘‘ bezieht er auf die fehlende Klarheit über die Wünsche des Patienten innerhalb der Arzt-PatientenBeziehung und die ,,konzeptuelle Unsicherheit‘‘ auf die Unfähigkeit, abstrakte Kriterien/Leitlinien in einer konkreten Situation anzuwenden [16]. Die Konfrontation mit diagnostischer Unsicherheit, auch schon während des Studiums, bedingt je nach Alter, Praxiserfahrung, Geschlecht und Einstellung unterschiedliche Formen von Toleranz und Bewältigungsstrategien [15,17]. So belegt eine Studie von Gerrity et al., dass die Berufswahl von Medizinstudenten und ihre Toleranzbereitschaft miteinander zusammenhängen. Anhand einer Befragung von verschiedenen Arztgruppen machte sie deutlich, dass die Spezialisierungsfächer wie Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Innere Medizin als besonders von diagnostischer Unsicherheit belastet gesehen werden. Die Fächer Anästhesie, Chirurgie und Radiologie wurden somit bei geringer Toleranz und die Fächer Psychiatrie, Innere Medizin und Allgemeinmedizin bei höherer Toleranz gewählt [18]. Denkbar ist, dass aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts gleichzeitig auch die Grenzen des Wissens immer deutlicher werden, einhergehend mit zunehmender Intoleranz gegenüber Nicht-Wissen(-Können). Als Reaktion auf dieses Spannungsfeld könnte der Rückzug auf das sichere Wissensterrain des Spezialisten eine Ursache für den Generalistenmangel, also auch Hausärztemangel, sein. Insofern wäre eine bessere Akzeptanz von Unsicherheit auf ärztlicher und medizinisch-gesellschaftlicher Ebene wünschenswert, um die diesbezügliche Toleranz zu erhöhen. Bislang wurde jedoch nicht untersucht, inwiefern der

Umgang mit diagnostischer Unsicherheit in der Hausarztpraxis notwendige detektivische Spürsinn, letztlich auch der damit einhergehende intellektuelle Anreiz, auch positiv auf das eigene Berufsbild rückwirken könnte, so dass im Lauf der Jahre die Unsicherheit nicht nur toleriert, sondern auch als abwechslungsreiche Herausforderung erlebt werden könnte. Diagnostische Unsicherheit muss aber nicht nur toleriert, sondern auch bewältigt werden. Sie kann sowohl beim Arzt als auch beim Patienten Unzufriedenheit und Besorgnis hervorrufen. Im schlimmsten Fall stellt sie für die ArztPatienten-Beziehung eine Belastung dar [18]. Um diese Herausforderung zu meistern, wird auf unterschiedliche Strategien zurückgegriffen, die im Folgenden skizziert werden.

Handlungsaspekte zum Umgang mit Unsicherheit Diagnostische Tests stellen eine verlockende Möglichkeit dar, die eigene Unsicherheit zu reduzieren und eine Diagnose zu stellen [8]. Angst vor Unsicherheit scheint dabei auch mit vermehrten diagnostischen Aktivitäten einherzugehen [19]. Jedoch verleiten die immer besseren und risikoärmeren technischen Möglichkeiten der modernen Medizin den Arzt, diagnostische Tests ungezielt einzusetzen, um alle diagnostischen Möglichkeiten auszunutzen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass im Niedrigprävalenzbereich der positive Vorhersagewert reduziert und damit einhergehend der falsch positive Vorhersagewert (FPPV) erhöht ist, denn es gilt: FPPV = 1-PPV [10]. Letztlich ist es also eine Illusion, dass durch den Einsatz von immer weiteren Tests sich die Unsicherheit beliebig reduzieren ließe, denn jedem positiven Testergebnis folgen weitere Tests, sodass neben enormen Kosten auch Gesundheitsrisiken durch Überdiagnostik für den Patienten entstehen [8]. Gegenpart des Anordnens von Tests ist das sogenannte ,,abwartende Offenlassen‘‘ [7]. Diese Strategie ist bei diagnostischer Unschärfe nicht nur ökonomischer, sondern auch schonender und damit schützender für den Patienten, wenn das eindeutige Zuordnen einer Diagnose zum Zeitpunkt der Symptompräsentation noch nicht möglich ist. Der Arzt verzichtet bewusst auf weitere Diagnostik und Therapie und beobachtet den Fall über einen definierten Zeitraum, um aus den sich vielleicht verändernden Symptomen Schlüsse zu ziehen. International wird dies auch als ,,watchful waiting‘‘ oder ,,test of time‘‘ bezeichnet.

Kognitive Aspekte zum Umgang mit Unsicherheit Das klassische Paradigma des Diagnostizierens bezieht sich auf das hypothetiko-deduktive Kognitionsmodell, wobei eine finale diagnostische Entscheidung getroffen wird, indem verschiedene Hypothesen der Reihe nach ausgeschlossen werden [20]. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die frühe Phase, in der es dem Patienten durch zurückhaltende Gesprächsführung ermöglicht wird, Symptome und Auffälligkeiten umfassend aufzuzählen. Diese offene Phase, von Donner-Banzhoff & Hertwig ,,induktives Streifen‘‘ genannt, liefert breite Informationen ohne den Bias vorgefasster ärztlicher Hypothesen [21]. Bei Untersuchung der

635 Frage, auf welche Weise ärztliche Entscheidungen getroffen werden, treten die kognitiven Prozesse in den Vordergrund. Gigerenzer beschreibt hierzu Faustregeln, die den sogenannten ,,effizienten Entscheidungsbaum‘‘ bilden [22] und in ihrer Einfachheit Ärzte bei der Diagnosefindung helfen. Beispielhaft sei die ,,Suchregel‘‘ genannt, die den Arzt auffordert, nach entscheidungsrelevanten Zeichen zu suchen. Die ,,Stoppregel‘‘ lässt ihn dann die Suche unterbrechen, wenn ein gefundenes Zeichen die Entscheidung ermöglicht. Derartige Entscheidungsregeln (Heuristiken) erlauben dem Arzt, anhand eines gefundenen klinischen Zeichens rasch zu einer medizinischen Entscheidungsfindung zu gelangen. Die Effektivität eines derartigen Ansatzes, mit dem bewusst eine Vielzahl von komplexen medizinischen Optionen ,,ausgeblendet‘‘ wird, um effizienter handeln zu können, konnte im Setting einer Notfallambulanz belegt werden [23]. Der Arzt verzichtet somit auf die Fülle der Informationen, um sich rascher bei der medizinischen Entscheidungsfindung orientieren zu können. Derartige Faustregeln werden unter Umständen als Bauchgefühl erlebt, ein intuitives Gefühl, das der Mensch nicht erklären kann und dennoch bereit ist, danach zu handeln [22]. Passend hierzu haben André et al. bereits herausgearbeitet, dass Hausärzte schon bei der ersten Präsentation von gesundheitlichen Problemen als Faustregel einschätzen, ob es sich um einen Notfall, um ein körperliches oder psychosoziales Problem handelt [24]. Hall bezeichnete Intuition als ,,kognitiven Kurzschluss‘‘, bei dem eine Entscheidung getroffen wird, ohne dass die Gründe für die jeweilige Entscheidung klar beschrieben werden können [25]. Es wird diskutiert, ob das Bauchgefühl dabei eine eigene Entität in Abgrenzung zur Intuition bildet. Stolper et al. beschreiben, dass das Bauchgefühl entweder eine warnende oder beruhigende Rolle einnimmt [26]. Es basiert einerseits auf dem Wissen und der Erfahrung des Hausarztes und andererseits auf der Information des Patienten. Es ist wie das Aneignen von Wissen und Erfahrungen einem stetigen Reifungsprozess unterworfen und kann dabei als Form von Intuition nicht bewusst kontrolliert werden [27]. Bezogen auf die medizinische Entscheidungsfindung zählt es zum nicht-analytischen System, das schnell und automatisch bei der Bewertung und Wiedererkennung von Situationsmustern abläuft. Die oben skizzierten Aspekte von Heuristiken und Intuitionen sind jedoch nicht unumstritten. Kahnemann & Klein kritisieren die Fehleranfälligkeit von Entscheidungen unter Intuition [28]. Im Verlauf ihrer Forschungsarbeiten skizzierten Tversky & Kahnemann zwei kognitive Systeme, die bei Entscheidungsfindungen mehr oder weniger gleichzeitig ablaufen [29]. Ein Verfahren überprüft Wahrscheinlichkeiten anhand vorgegebener Muster und bedient sich der Erinnerung erlebter Situationen, Intuition erfolgt in Form von Wiedererkennung (System 1). Diese Fähigkeit setzt voraus, dass erstens die Umgebung verlässliche Zeichen bereitstellt und zweitens Personen durch häufige Konfrontation diese Zeichen deuten lernen, um die Vorhersagbarkeit von Ereignissen optimieren zu können [28]. Heuristiken sind jedoch auch mit dem Risiko von Fehlentscheidungen behaftet, wenn vorschnell Entscheidungen getroffen oder entscheidende Informationen vernachlässigt werden. Quasi im Hintergrund mahnt das langsame, anstrengende, analytische ,,System 2‘‘ zur Vorsicht und unterstützt im Idealfall selbst-reflexive, gut durchdachte und damit zeitintensivere Entscheidungen.

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Je komplexer ein System ist (z.B. Wettervorhersagen oder Börsenentwicklungen), desto größer ist das Risiko, dass Heuristiken bzw. das System 1 scheitern, da bei komplexen Systemen spezifische Ereignisse schlechter vorhersagbar sind. Die Präsentation der Informationen, das positive Selbstbild des Hausarztes, der Charakter des Patienten oder des Arztes sowie die Arzt-Patienten-Beziehung können Heuristiken verzerren und damit die intuitiven Entscheidungen ungünstig beeinflussen. Unter Berücksichtigung des komplexen Umfeldes der hausärztlichen Arbeit, gegeben durch den Niedrigprävalenzbereich [10], die diagnostische Unschärfe [7] und die hohe psychische Komorbidität der Patienten [14], müsste weitere Forschung klären, wie sich System 1 und System 2 im hausärztlichen Arbeitsumfeld gegenseitig beeinflussen, um optimale Strategien zum Umgang mit unsicheren Situationen besser verstehen zu können.

• Insbesondere eine gute Kommunikation ist notwendig, um die Patienten adäquat in die Entscheidungsprozesse einzubinden und mit Ihnen gerade wegen der Unsicherheit eine gute Vertrauensbasis zu bilden. • Die diagnostische Unsicherheit sollte als bedeutsame Komponente des hausärztlichen Berufes vermehrt Beachtung finden und weiter untersucht werden, um den Umgang damit optimieren zu können. Dies könnte nicht nur bei der Selbstreflexion der eigenen Tätigkeit helfen, sondern auch dazu beitragen, diese Aspekte strukturiert in die studentische Ausbildung und ärztliche Weiterbildung einzubringen. • Auch die positiven Aspekte im Hinblick auf die intellektuelle Herausforderung und den notwendigen detektivischen Spürsinn, die eine ,,Diagnostik von Anfang an‘‘ einfordert, sollten dabei berücksichtigt werden.

Einbindung des Patienten: Kommunikation von Unsicherheit

Interessenkonflikte

Die Strategie des ,,abwartenden Offenlassens‘‘, die im weitesten Sinne auch einen Test darstellt (,,test of time‘‘ [10]), bedingt das Offenlegen der diagnostischen Lage und der damit einhergehenden Optionen, welche dem Patienten laienverständlich vermittelt werden müssen. Ghosh legt bei dem ,,communicating of uncertainty‘‘ besonderen Wert auf eine ehrliche Kommunikation mit Patienten und auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung der Risiken. Hinsichtlich dessen wird empfohlen, die gegebene Unsicherheit und die möglichen Risiken zu benennen, aber gleichzeitig auch deutlich zu machen, dass dem Patienten in allen Fragen und Problemen zur Seite gestanden wird [30]. In einer großen Studie verglichen Bokhoven et al. die beiden Strategien ,,Anordnen von Tests‘‘ (,,test ordering‘‘) und ,,abwartendes Offenlassen‘‘ (,,watchful waiting‘‘) in Bezug auf Zufriedenheit und Besorgnis von 498 Patienten [31]. Es wurde deutlich, dass eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient eine führende Rolle bei der Zufriedenheit der Patienten einnimmt. Die Patienten waren mit der Konsultation dann zufrieden, wenn sie sich ernst genommen fühlten, die Bedrohlichkeit ihres Anliegens einschätzen konnten und der behandelnde Arzt die diagnostische Situation mit ihnen besprach. Bindet der Arzt den Patienten in seine Planung mit ein und baut er durch eine gute Kommunikation eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung auf, kann der Patient den Moment der diagnostischen Unsicherheit besser verstehen und akzeptieren. Das Anfordern von diagnostischen Tests alleine war für die Beruhigung des Patienten von geringerer Bedeutung. In einer kürzlich erschienenen Metaanalyse wurde passend hierzu aufgezeigt, dass die Anforderung von diagnostischen Tests bei niedriger Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung keinen signifikanten Effekt auf die Behandlungszufriedenheit hat [32].

Fazit • Das Phänomen der diagnostischen Unsicherheit gehört systemimmanent zur Hausarztmedizin. • Diagnostische Unsicherheit ist kein unüberwindbares Problem, sondern eine Herausforderung, die durch unterschiedliche Strategien bewältigt werden kann.

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit der Publikation.

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