Originalarbeit

Zahnmedizinethische Kenntnisse in der Praxis – eine Befragung von Zahnärzten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Dentists’ Knowledge of Ethical Questions Regarding Dental Medicine – A Survey of Dentists from Saxony, Saxony-Anhalt and Thuringia (Germany) Autoren

M. Schochow1, A. Christel1, C. Lautenschläger2, F. Steger1

Institute

1

Schlüsselwörter ▶ zahnmedizinethische ● ­Kenntnisse ▶ Selbstbestimmung des ● zahnärztlichen Patienten ▶ Patient-Zahnarzt-Verhältnis ● ▶ Sachsen, Sachsen-Anhalt ● und ­Thüringen Key words ▶ knowledge of dental ethics ● ▶ self-determination of patient ● ▶ patient-dentist relationship ● ▶ Saxony, Saxony-Anhalt and ● Thuringia

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0035-1548930 Online-Publikation: 2015 Gesundheitswesen © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0941-3790 Korrespondenzadresse Dr. Maximilian Schochow Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Magdeburger Straße 8 06112 Halle (Saale) maximilian.schochow@ medizin.uni-halle.de

Zusammenfassung

Abstract

Ziele der Studie:  Zahnmedizinethische Themen werden im Studium der Zahnmedizin oder in den Berufsordnungen der Zahnärztekammern nur ansatzweise berührt. Dennoch werden Zahnärzte in ihrem Berufsalltag mit solchen Themen konfrontiert. Die vorliegende empirische Untersuchung erhebt aktuelle Daten zu den zahnmedizinethischen Kenntnissen in der Praxis von Zahnärzten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Methodik:  Als Untersuchungsinstrument wurde ein strukturierter Fragebogen verwendet. Von den 600 zufällig ausgewählten und angeschriebenen Zahnärzten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen antworteten 290 Zahnärzte (Rücklaufquote 48,3 %). Die anonymisierte Daten­ erhebung fand von Juni 2013 bis November 2013 statt. Ergebnisse:  Zahnärzte treffen im Berufsalltag sehr häufig auf zahnmedizinethische Fragen. Die von uns befragten Zahnärzte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen favorisieren ein partizipatives Patient-Zahnarzt-Verhältnis. Gleichzeitig wird die Gesundheit mehrheitlich als ein höheres Gut betrachtet als die Selbstbestimmung des zahnärztlichen Patienten. Die Zahnärzte weisen gute Kenntnisse bei grundlegenden zahnmedizinethischen Fragen auf. Es zeigen sich jedoch vermehrte Unsicherheiten in komplexeren Situa­tionen beispielsweise beim Umgang mit HIV-positiven Patienten. Schlussfolgerungen:  Zahnmedizinethische Fragen spielen im Berufsalltag von Zahnärzten eine große Rolle. Um Zahnärzte in ihrer individuellen zahnmedizinethischen Kompetenz weiter zu stärken, sehen wir einen Bedarf an Weiterund Fortbildungen zu Fragen und Problemen im Bereich Ethik in der Zahnmedizin. Gleichzeitig sollten zahnmedizinethische Themen Bestandteil der curricularen Lehre des Studiums der Zahnmedizin werden.

Background:  Subjects regarding ethical questions in dental medicine are only slightly touched in the study of dental medicine or in the working regulations of the dentists’ association. However, dentists are confronted with these matters in everyday working life. The empirical study at hand collects current data regarding the ethical knowledge about dental medicine in the practical experience of dentists in Saxony, Saxony-Anhalt, and Thuringia. Methods:  The tool used in the survey was a structured questionnaire. Out of 600 randomly chosen and contacted dentists from Saxony, Saxony-Anhalt, and Thuringia, 290 replied (response rate: 48.3 %). The anonymised assessment took place between June and November 2013. Results:  Dentists frequently encounter ethical questions regarding dental matters. The dentists interviewed in the study are in favour of a participative relationship between patient and dentist. Simultaneously, the patient’s health is predominantly seen as the good of higher value than his or her self-determination. The dentists show competent knowledge of ethical dental subjects, although increased uncertainties could be observed in more complex situations, e. g. considering contact with patients who are HIV-positive. Conclusions:  Questions dealing with dental ethical questions do play a major role in the daily professional life of dentists. In order to further support and strengthen dentists in their individual dental ethical competence, we see a need for advanced training and further education regarding questions and problems in the area of ethics in dental medicine. Also, these topics should become a component in the curriculum of the study of dental medicine.





Schochow M et al. Zahnmedizinethische Kenntnisse in der …  Gesundheitswesen

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 Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale) 2  Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)

Originalarbeit

9. Fallbeispiel „Eine junge Frau mit primär gesundem Gebiss kommt in Ihre Sprechstunde. Sie hat eine leichte Form der Fluorose und stört sich an den weißen Flecken ihrer Frontzähne. Ihr Wunsch ist es, die Zähne für eine ansprechendere Ästhetik überkronen zu lassen.“ Einerseits ist es möglich, ihr die therapeutischen Maßnahmen aufzuzeigen und sie dann die Entscheidung treffen zu lassen. Andererseits könnten Sie als Zahnarzt versuchen, die junge Frau davon zu überzeugen, keine invasive Maßnahme an ihren unversehrten Zähnen durchführen zu lassen. Wie beurteilen Sie folgende Aussagen? 9,1 Dieses Beispiel stellt einen ethischen Konflikt dar.

stimme voll zu

stimme gar nicht zu

weiß nicht

9,2 Die Kosten entscheiden darüber, wie sich die Patientin entscheidet.

stimme voll zu

stimme gar nicht zu

weiß nicht

Fragestellung



Das Patient-Zahnarzt-Verhältnis oder der Umgang mit der Selbstbestimmung des zahnärztlichen Patienten* sind Beispiele aus dem zahnärztlichen Berufsalltag, die zahnmedizinethisches Wissen erfordern [1]. Hierfür sind standesethische Prinzipien, Richtlinien und Gesetzestexte als Orientierung notwendig, um fundierte therapeutische Entscheidungen zu treffen. Im internationalen Vergleich sind diese Grundlagen in Deutschland nur ansatzweise vorhanden [2, 3]. So gibt die Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer nur den Hinweis, dass der Zahnarzt „seinen Beruf gewissenhaft und nach den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit“ ausüben soll [4]. Zahnmedizinethische Prinzipien werden in der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer nicht ausgeführt. In vielen Berufsordnungen der Länderzahnärztekammern beispielsweise von Sachsen-Anhalt [5] oder Thüringen [6] werden zahnmedizinethische Aspekte nicht erwähnt. Andere Berufsordnungen der Länderzahnärztekammern, beispielsweise des Freistaats Sachsen, zitieren den angeführten Wortlaut aus der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer [7]. Dennoch erleben Zahnärzte in Deutschland zahnmedizinethische Konfliktsituationen im Berufsalltag [8], wie unter anderem die empirische Arbeit von Wottrich 2005 gezeigt hat [9]. Zwar sind die Ergebnisse dieser bisher letzten deutschlandweiten Untersuchung kritisch zu hinterfragen, da die Rücklaufquote (11 %) sehr niedrig ausfiel und nur Vorbereitungsassistenten befragt wurden [9]. Doch zeigt die Arbeit erste Tendenzen: 50,8 % der Befragten sind regelmäßig mit einem zahnmedizin­ethischen Konflikt konfrontiert, zahnmedizinethische Aspekte hätten erhebliche Relevanz und Aus- sowie Weiterbildungsangebote für zahnmedizinethische Fragen würden benötigt [9, 10]. Um einen aktuellen Stand zahnmedizinischer Kenntnisse in der Praxis zu erhalten, haben wir eine Befragung von Zahnärzten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (Mitteldeutschland) durchgeführt. Folgende Fragen standen im Mittelpunkt unserer Untersuchung: (1) Wie häufig erleben Zahnärzte in Mitteldeutschland zahnmedizinethische Konfliktsituationen im Berufsalltag? (2) Welches Modell des Patient-Zahnarzt-Verhältnisses bevorzugen die *  Wo im Folgenden zur besseren Übersichtlichkeit die maskuline Formulierung verwendet wird, sind selbstverständlich Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Schochow M et al. Zahnmedizinethische Kenntnisse in der …  Gesundheitswesen

Zahnärzte aus Mitteldeutschland? (3) Wie gewichten die Zahnärzte in Mitteldeutschland die Selbstbestimmung im Verhältnis zur Gesundheit des zahnärztlichen Patienten? (4) Treten bei den Zahnärzten aus Mitteldeutschland Unsicherheiten im Umgang mit HIV-positiven Patienten auf?

Methode



Untersuchungsteilnehmer und Fragebogenentwicklung

Um die angeführten Fragen zu untersuchen, wurde mit dem Programm „Evasys“ ein strukturierter Fragebogen entwickelt, der in Papierform an je 200 Zahnärzte in Mitteldeutschland verteilt wurde, die zu diesem Zeitpunkt bei der jeweiligen Landeszahnärztekammer gemeldet waren. Die Rückantwort war in Papierform möglich, enthielt jedoch zusätzlich auf dem Fragebogen eine Internetadresse bzw. einen QR-Code mit Passwort, sodass dieser auch online ausgefüllt werden konnte. Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte über eine Zufallsstichprobe im Zeitraum von Ende Juni 2013 bis November 2013 mittels eines Zufallsgenerators. Im Fall von Sachsen und Thüringen wurde die Zufallsstichprobe von den Landeszahnärztekammern erstellt. Die Zufallsstichprobe für Sachsen-Anhalt konnte über das Internetportal der Landeszahnärztekammer Sachsen-Anhalt [11] und über das Internetportal der Universitätsklinik ermittelt werden [12]. Die Frage-Items waren auf einer fünfstufigen Skala zu bewerten, wobei 1 für „stimme voll zu“ und 5 für „stimme gar nicht zu“ steht. Zudem gab es eine Kategorie „weiß nicht“. Zugunsten ­einer besseren Auswertbarkeit der Ergebnisse wurden die Antwortkategorien 1 und 2 als Zustimmung (Zst), 3 als unentschieden (u) und 4 sowie 5 als ablehnende Haltung (Abl) gewertet. Der Fragebogen umfasst 67 Items. Er unterteilt sich in einen inhaltlichen und einen demografischen Teil. Dieser enthält Fragen zum Geschlecht sowie zu Alter und Religionszugehörigkeit [13, 14]. Der inhaltliche Teil besteht aus Fallvignetten und Items ▶  Kasten 1) zum Patient-Zahnarzt-Verhältnis, dem Umgang ( ● mit der Selbstbestimmung des zahnärztlichen Patienten, der Schweigepflicht sowie dem Umgang mit HIV-positiven Patienten. Um Verständnisprobleme bei der Beantwortung des Fragebogens zu verringern, wurde ein Pretest durchgeführt.

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Kasten 1

Originalarbeit

Die Auswertung der Fragebögen erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS Version 20. Die Antwortmöglichkeit „weiß nicht“ wurde als fehlender Wert behandelt. Einzelne Items bildeten die Grundlage für Scorebildung und für neue Variablen entsprechend bestimmter Fragestellungen, wie z. B. nach den zahnmedizinethischen Kenntnissen, der Patientenselbstbestimmung und zu Unsicherheiten im Umgang mit HIV-positiven Patienten. Nach Deskription aller Merkmale über Häufigkeitsverteilungen wurden einfaktorielle Zusammenhänge untersucht, um Unterschiede im Antwortverhalten zu erkennen. Die entsprechenden Hypothesenprüfungen dazu erfolgten in Abhängigkeit von der Besetzung der jeweiligen Häufigkeitsverteilungen mit Chi-Quadrat-Tests oder exakten Tests nach Fischer, um die Signifikanz des Zusammenhangs festzustellen. Untersuchte Einflussfaktoren waren dabei die Bundeslandzugehörigkeit, ein Vertrag mit den gesetzlichen Krankenkassen, die Anzahl der behandelnden Zahnärzte einer Praxis, die Art der Praxis, die Einwohnerzahl des Standorts der Praxis, die Religionszugehörigkeit, das Geschlecht, die Praxiserfahrung, eine mögliche Qualifikation als Fachzahnarzt oder ein Behandlungsschwerpunkt sowie thesenspezifische Einflussfaktoren. Abhängigkeiten mit einem p-Wert kleiner 5 % wurden als statistisch signifikant erachtet, wobei bei multiplen Hypothesen eine Bonferronikorrektur der Signifikanzschranke erfolgte.

Ergebnisse



Charakteristika der Teilnehmer und Response

Bis Ende November 2013 antworteten 290 der 600 angeschriebenen Zahnärzte. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 48,3 %. Von den insgesamt 290 zurückgesandten Fragebögen waren zwei Fragebögen nur teilweise ausgefüllt, sodass 288 (48 %) Fragebögen ausgewertet werden konnten. Der Rücklauf betrug in Sachsen 50 %, in Sachsen-Anhalt 44,5 % und in Thüringen 48,5 %. Die Geschlechtsverteilung lag bei 58 % Frauen und 42 % Männern, der Altersdurchschnitt bei 48 Jahren mit einer Standardabweichung s = 10,6 Jahren und einer Spannweite von 24– 72 Jahren. 118 Zahnärzte gaben an, einer Religion anzugehören (115 Christentum, 1 Islam, 1 Judentum, 1 sonstige).

Zahnmedizinethische Fragen im Berufsalltag

284 der antwortenden Zahnärzte machten Angaben zur Häufigkeit, mit der sie auf zahnmedizinethische Fragen im Berufsalltag treffen: 82 Zahnärzte (28,9 %) gaben täglich, 101 (35,6 %) wöchentlich, 74 (26,1 %) monatlich und 21 (7,4 %) jährlich an. 6 Zahnärzte (Sachsen n = 1, Sachsen-Anhalt n = 3, Thüringen n = 2), trafen nie auf zahnmedizinethische Fragen. Das bedeutet, eine Mehrheit von 64,5 % der Zahnärzte trifft mindestens wöchentlich auf zahnmedizinethische Fragen. Dabei lässt sich einfaktoriell ein signifikanter Zusammenhang zu dem Bundesland (p = 0,022) zeigen. So nahmen Zahnärzte aus Thüringen (täglich: 34,4 %, wöchentlich: 32,3 %) häufiger zahnmedizinethische Probleme wahr als Zahnärzte aus Sachsen (täglich: 20,2 %, wöchentlich: 45,5 %) oder Sachsen-Anhalt (täglich: 33,3 %, wöchentlich: 26,4 %). Weiterhin besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Wahrnehmung von zahnmedizinethischen Fragen im Berufsalltag und der persönlichen Einschätzung der Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit Ethik in der Zahnmedizin (p = 0,001). Von den 190 Zahnärzten, welche die Auseinandersetzung mit Ethik in der Zahnmedizin als wichtig einschätzten, nahmen 38,4 % täglich, 40,5 % wöchentlich und 17,4 % monatlich zahnmedizinethische Fragen im Berufsalltag wahr.

Patient-Zahnarzt-Verhältnis

Die Ansichten der befragten Zahnärzte über das Patient-Zahnarzt-Verhältnis wurden anhand von Aussagen erhoben, die man drei Modellen (paternalistisches, partizipatives und Kli▶  Abb. 1). Fast alle ent-Dienstleister-Modell) zuordnen kann (  ● Zahnärzte (98,3 %) bevorzugten ein partizipatives Modell des Patient-Zahnarzt-Verhältnisses, in dem der Zahnarzt als beratender Experte aufklärt und bei der Entscheidungsfindung dem zahnärztlichen Patienten angemessen zur Seite steht. Sowohl das Verständnis des Zahnarztes als Dienstleister (Zst = 26,8 %; Abl = 47,1 %) als auch das paternalistische Rollenverständnis des Zahnarztes (Zst = 21,9 %; Abl = 54,3 %) wurden eher abgelehnt. Die Ansichten bezüglich des paternalistischen Modells korrelierten mit der Praxiserfahrung (p 

[Dentists' Knowledge of Ethical Questions Regarding Dental Medicine - A Survey of Dentists from Saxony, Saxony-Anhalt and Thuringia (Germany)].

Background: Subjects regarding ethical questions in dental medicine are only slightly touched in the study of dental medicine or in the working regula...
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