Wolter Diagnostik der Myasthenia gravis

Aktuelle Diagnostik

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 101 (1976), 968-970 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Diagnostik der Myasthenia gravis

M. Wolter Neurologische Abteilung (Chefarzt: Privatdozent Dr. M. Wolter) der Schloßpark-Klinik, Berlin

Gegenüber anderen neurologischen Erkrankungen ist die Myasthenie mit einer Morbidität von 1: 40 000 bis 1: 20 000 Einwohnern nicht besonders häufig, doch kommt der rechtzeitigen Diagnostik wegen der im Vergleich zu früher verbesserten therapeutischen Möglichkeiten eine große Bedeutung zu. Abgesehen von leichten myasthenischen Begleitreaktionen bei anderen neuromuskulären Erkrankungen und dem myasthenischen Syndrom bei malignen Tumoren (Eaton-Lambert-Syndrom) gehen heute auch bei der klassischen Myasthenia gravis pseudoparalytica einige Untersucher nicht mehr von einer Krankheitseinheit aus, sondern nehmen eine heterogene Störung an. Eine Myasthenie oder myasthenische Reaktion kennzeichnet eine abnorme Abnahme der Kraftleistung der quergestreiften Muskulatur während Willkürkontraktion, vor allem bei wiederholten Bewegungen, und eine verzögerte oder fehlende Erholung der Muskelkraft in Ruhe. Dabei können einzelne Muskeln, zum Beispiel die äußeren Augenmuskeln, oder viele Muskeln und Muskeigruppen betroffen sein. Charakteristische Angaben zur Anamnese sind Doppelbilder und Ptose wechselnder

Ausprägung, rasche Ermüdbarkeit beim Kauen, Schluckschwierigkeiten und schnelle Erschöpfung der Kraftleistung bei körperlicher Belastung allgemein oder nur bestimmter Muskeigruppen. Häufig, aber nicht immer, 'sind tageszeitliche Schwankungen vorhanden mit Zunahme der Ausfälle im Verlauf des Tages. Wenn nach den Beschwerden der Verdacht auf eine Myasthenie besteht, kann die Diagnose durch Belastungsproben, pharmakologische Tests und elektrophysiologische Untersuchungen geklärt werden.

Belastungsproben In Abhängigkeit von den Klagen des Patienten prüft man eine wiederholte Innervation der subjektiv gestörten Muskelleistungen, zum Beispiel fortgesetztes Augenöff nen und -schließen, um festzustellen, ob nach 30- bis SOmaliger Belastung eine Ptose auftritt oder sich eine eventuell schon vorhandene leichte Lidspaltendifferenz verstärkt, ferner wiederholte Kaubewegungen gegen Widerstand, lautes Vorlesen, wiederholtes Kopfanheben im Liegen oder Kniebeugen. Ein Vergleich der Kraft-

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leistung vor und nach den Belastungsproben, die bei einem Gesunden in dem skizzierten Rahmen unverändert bleibt, kann bei einer myasthenischen Reaktion einen erheblichen Abfall bis zu vorübergehendem Ausfall der Kontraktionsfähigkeit des untersuchten Muskels ergeben. Die Belastungsproben sind selbstverständlich sehr von der Kooperation des Untersuchten abhängig.

Pharmakologische Tests Wenn durch die Untersuchung auf eine Myasthenie verdächtige Paresen festgestellt oder durch die erwähnten Belastungsproben provoziert worden sind, kann in 80 bis 90% der Fälle durch pharmakologische Tests, die die bei der Myasthenie gestörte neuromuskuläre Obertragung vorübergehend verbessern, eine myasthenische Reaktion als Ursache der Parese nachgewiesen werden. Zur Verfügung stehen der Tensilon® (Edrophoniumchlorid-) und der Prostigmin- (Neostigmin-) Test. Tensilon ist in Deutschland nicht im Handel, wird aber von der Firma Hoffmann-La Roche Ärzten zur Verfügung gestellt. Gegenüber Prostigmin bietet Tensilon durch seine rasche Wirkung, den schnellen Abbau und geringere cholinergische Nebenwirkungen Vorteile. Falls kein Tensilori zur Verfügung steht, hat der ProstigminTest aber keine entscheidenden diagnostischen Nachteile.

Tensilon-Test. Man wählt einen Muskel, zum Beispiel bei Augenmuskelparesen, oder die Kraftleistung einer bestimmten Muskelgruppe als Kriterium. Es werden beim Erwachsenen 10 mg Tensilon aufgezogen, davon erst 2 mg intravenös injiziert. Falls nach 45 Sekunden keine starken Nebenwirkungen auftreten (selten bei besonders empfindlichen Patienten möglich), werden die restlichen 8 mg intravenös gegeben. Ein positiver Effekt durch vorübergehende Verbesserung der Muskelkontraktionskraft (zum Beispiel Rückgang der Ptosis oder Augenmuskelparese) zeigt sich schon in den ersten Minuten nach der Injektion, hält aber meist nur etwa S Minuten lang an. Bei fraglichen Befunden ist nach 10 bis 15 Minuten eine Wiederholung des Tests möglich. Zum Tensilon-Test ist eine Atropin-Injektion (0,5 mg intravenös) bereitzuhalten, um eine in seltenen Fällen auftretende starke cholinergische Nebenwirkung (nach Ossermann bei 1% der Untersuchten möglich) mit Atropin zu mildern. Dosierung für Kinder: bei Neugeborenen zur Frage der transitorischen neonatalen Myasthenie 1 mg Tensilon intramuskulär; Kinder bis zu einem Körpergewicht von 35 kg erhalten 1 mg intravenös oder 2 mg Tensilon intramuskulär, bei fehlender oder fraglicher Reaktion und weiterbestehendem Verdacht auf eine Myasthenie kann eine Wiederholung mit höherer Dosis erfolgen. Positive Reaktionen nach intramuskulärer Gabe von Tensilon sind nach etwa 10 Minuten zu erwarten. Bei Gesunden verbessert Tensilon die Muskelkraft nicht. Falls keine deutliche Ptose oder eine Augenmuskelparese als Kontrolle der Testwirkung zu Verfügung steht, ist zur diagnostischen Sicherheit in einigen Fällen die Angabe des Patienten über eine Zunahme der Muskelkraft durch eine Placebo-Injektion zu überprüfen.

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Beim Prostigmin-Test erhält der Erwachsene 1-1,5 mg Prostigmin intramuskulär. Falls vorhandene Paresen durch eine Myasthenie verursacht worden sind, kommt es 10 bis 15 Minuten nach der Injektion zu einer deutlichen Besserung. Es ist auch intravenöse Injektion von 0,5 mg Prostigmin möglich, doch muß hier mehr als bei der intramuskulären Gabe mit stärkeren cholinergischen Reaktionen und Kreislauf nebenwirkungen gerechnet werden. Die cholinergische Begleitreaktion (starker Speichelfluß, Bronchospasmus, Krämpfe der Magen-DarmMuskeln) kann gegebenenfalls auch hier mit Atropin gemildert werden. Bei Verdacht auf eine neonatale Myasthenie bei Neugeborenen können 0,05 mg Prostigmin intravenös oder 0,1 mg intramuskulär angewendet werden. Der Tensilon- und Prostigmin-Test ergeben bei einigen Patienten falsch-negative Ergebnisse, aber ein falschpositiver Befund ist sehr selten. Allerdings ist in Grenzfällen eine besondere Erfahrung des Untersuchers beim Abschätzen des diagnostischen Stellenwertes der auf die Pharmaka eingetretenen Reaktion erforderlich. Wenn Patienten unter der Annahme einer Myasthenie schon Cholinesterasehemmer erhalten haben und die Diagnose überprüft werden soll, müssen vor den pharmakologischen Tests die Medikamente mindestens 12 Stunden abgesetzt werden, wenn die Reaktion unter der Mcdikation nicht eindeutig war. Der Tensilon- und Prostigmin-Test können neben der klinischen Prüfung auch mit spirometrischen und ergometrischen Untersuchungen sowie mit Doppelbildschemata kombiniert werden. Außer Pharmaka, die die neuromuskuläre Ubertragung verbessern, wie Tensilon und Prostigmin, können beim Verdacht auf eine myasthenische Reaktion auch Substanzen angewendet werden, die die neuromuskuläre Übertragung hemmen, wie Chinin und Curare. Die erste Gruppe hat aber eine größere diagnostische Aussagekraft. Beim Chinin-Test erhält der Patient in Abständen von 2 Stunden 0,5 g Chinin bis zu einer Gesamtdosis von 1,5 g. Sollten schon vorher bei geringerer Dosierung deutliche Zeichen einer Muskelschwäche auftreten, entfällt die weitere Steigerung. Ein Gesunder zeigt bei dieser Dosierung keine Minderung der Muskelkraft wie ein Patient mit einer Myasthenie. Der Test darf nur unter Beobachtung des Patienten in der Klinik erfolgen mit den Voraussetzungen einer passageren Beatmung, falls in Einzelfällen eine besonders starke Reaktion mit vorübergehender Atemlähmung eintritt. Patienten, die schon unter den Beschwerden Atemnot und erhebliche Schluckstörungen angeben, sollten keiner Chininbelastung unterzogen werden, zumal sich durch Cholinesterasehemmer die infolge Chiningaben bei Myasthenikern aufgetretenen Paresen nicht rasch beseitigen lassen. Die gegenüber den Gesunden besonders starke Empfindlichkeit des Myasthenie-Patienten auf Curare führte zur diagnostischen Anwendung des Curare-Tests durch Gabe von 1/50 bis 1/25 der sonst üblichen Curarisierungsdosis. Dabei kommt es im Falle einer myasthenischen Reaktion zum Auftreten von Paresen oder zur Verstärkung schon vorhandener Paresen. Die Anwen-

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Nr. 25, 18. Juni 1976, 101. Jg.

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dung dieses Tests ist in noch stärkerem Maße als bei der Chininbelastung von der Bereitstellung einer Möglichkeit zur künstlichen Beatmung abhängig. Bei den Belastungsproben der neuromuskulären Übertragung Ist der vorbeugende Aufwand zum Abfangen nicht erwarteter Nebenwirkungen im Vergleich zum Tensilon- und Prostigmin-Test erheblich, und es muß im Einzelfall auch mit ungewöhnlichen Schwankungen der physiologischen Reaktion gerechnet werden, die den diagnostischen Wert einschränkt. Der Curare-Test gehört nicht zur Routinediagnostik und sollte, wenn überhaupt, nur den auf andere Weise nicht zu klärenden seltenen Fällen vorbehalten bleiben.

Elektrophysiologische Untersuchungen Schon vor Einführung der pharmakologischen Tests erfolgten zur Diagnostik der Myasthenie elektrophysiologische Untersuchungen. Jolly wies bereits 1895 auf das vorzeitige Nachlassen der Muskelkontraktion bei Myasthenie-Patienten innerhalb von 1-2 Minuten durch tetanische Reizung eines peripheren Nerven hin (JollyTest). Der Test Ist mit einem Reizstromgerät (zum Beispiel Neuroton) leicht durchzuführen. Er ist aber fast nur bei der generalisierten Form der Myasthenie positiv, und die tetanische Reizung des N. facialis (bei den bulbären Formen) wird von einigen Patienten als sehr unangenehm empfunden. Elektromyographie. Unabhängig von subjektiven Faktoren bei der Auswertung des Untersuchungsergebfisses, wie sie beim Jolly-Test nicht zu vermeiden sind, ist die Frequenzbelastung des neuromuskuiären Überganges durch die elektromyographische Untersuchung. Die durch supramaximale Reize des Nerven (N. ulnaris, N. medianus oder N. facialis) ausgelösten Muskelaktionspotentiale werden im Elektromyogramm (EMG) registriert und zeigen bei myasthenischer Reaktion eine zunehmende Verminderung der Amplitudenhöhe des dritten bis fünften Antwortpotentials gegenüber dem ersten Potential und geringer auch der weiteren Potentiale bei fortgesetzter Reizung. Heute werden mit verschiedenen Modifikationen geringe Reizfrequenzen (3Sis) benutzt und nicht, wie früher, 30SO Impulseis. Der Patient soil nicht unter der Einwirkung von Cholinesterasehemmern stehen, und wichtig ist die Auswahl des Muskels, an dem die Untersuchung erfolgt. Nach Möglichkeit ist ein paretischer Muskel zu prüfen. Während früher in erster Linie Thenar und Hypothenar untersucht wurden, ergaben Untersuchungen von Desmedt ¿1) eine bessere diagnostische Aussage durch Testung des M. flexor carpi radjahs und M. orbicularis oculi sowie rumpfnaher Muskeln. Durch besondere EMG-Verfahren, die allerdings eine apparative Zusatzeinrichtung und spezielle Erfahrungen des Untersuchers erfordern (zum Beispiel Jitter-Phänomen), kann die Zahl der positiven Befunde bei Myasthenie-Patienten vergrößert werden. Der erhebliche wissenschaftliche Wert der elektromyographischen Untersuchung bei Myasthenikern hat zu einer Minderung des diagnostischen Stellenwertes des Tensilon- und Prostigmin-Tests und zu einer Überschätzung der Aussagekraft der EMG-Myasthenie-Dia-

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gnostik geführt, was für die praktisch-klinische Diagnostik nicht gerechtfertigt ist. Ein für alle Verlaufsformen und Phasen der Erkrankung absolut sicherer diagnostischer Test steht nicht zur Verfügung. In fast allen Fällen gelingt es aber durch Kombination der Untersuchungsmethoden und sorgfältige Beachtung der Anamnese, die Diagnose Myasthenie zu stellen oder auszuschließen. Selten muß zur Diagnostik eine probatorische Medikation von Cholinesterasehemmern für etwa 8 Tage im Vergleich zu einer Zeit mit Placebo-Gabe vorgenommen werden. Wenn durch die erwähnten Untersuchungen die Diagnose Myasthenie feststeht, sind Röntgenuntersuchungen des Thorax zum Ausschluß einer Thymusgeschwulst notwendig. Ein Teil der Patienten hat auch elektrokardiographische Veränderungen. Bestimmungen der Enzymaktivitaten im Serum (Kreatinkinase, Transaminasen) ergeben bei der Myasthenia gravis, falls nicht in Einzelfällen zusätzlich strukturelle Muskelveränderungen vorliegen, normale Werte. Weitere biochemische Untersuchungen (zum Beispiel Cholinesterasebestimmung) unterstützen die Diagnostik nicht. Wenn auch die bisherigen immunologischen Nachweise von Antikörpern gegen Thymusgewebe und quergestreifte Muskulatur bei Myastheniepatienten eine wichtige wissenschaftliche Bedeutung haben, steht gegenwärtig noch kein Verfahren mit großer diagnostischer Treffsicherheit für die allgemeine klinische Myastheniediagnostik zur Verfügung. Ähnliche Symptome wie bei der Myasthenia gravis können als paraneoplastische Erkrankung auftreten. Für die Diagnose »myasthenisches Syndrom« (Eaton-Lambert) vorwiegend beim kleinzelligen Bronchialkarzinom ist der Stimulationselektromyographiebefund entscheidend. Im Gegensatz zur Myasthenia gravis findet man bei repetitiver Reizung gegenüber der Norm verminderte Amplituden der ersten Antwortpotentiale, deren Amplitudenhöhe bei den folgenden Reizen zunimmt, insbesondere, wenn zwischen den Reizserien eine kurze maximale Wihlkürinnervation des untersuchten Muskels erfolgt. Allerdings teilte Simpson (6) auch die Beobachtung von gleichen EMG-Reaktionen in einzelnen Fällen von exogenen Myopathien ohne Karzinom mit. Osserman, K. E.: Myasthenia gravis (Grune & Stratton: New York

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Privatdozent Dr. M. Wolter Neurologische Abteilung Schloßpark-Klinik 1000 Berlin 19, Heubnerweg 2

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[Diagnosis of myasthenia gravis].

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