Streuli, Grob Diagnostische Bedeutung des u1-Antitrypsins

Aktuelle Diagnostik

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 398-400 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die diagnostische Bedeutung des x1-Antitryp sins 1964 wurde erstmals ein Zusammenhang zwischen einem Mangel an ct1-Antitrypsin und dem Lungenemphyscm beschrieben (1). Bevor auf die diagnostische Bedeutung dieses Serumproteins für die Klinik eingegangen wird, seien einige grundlegende Aspekte diskutiert.

Biochemische Charakterisierung des cc1-Antitrypsins Es handelt sich um ein Serumglykoprotein mit einem Molekulargewicht von 54000 Dalton. Sein Peptidanteil beträgt 86°/o, wobei die biologisch wichtige Neuraminsäure 3 bis 40/e ausmacht. Der

Kohlenhydratanteil liegt bei 12°/o. Im menschlichen Embryo wird -Antitrypsin vom 30. Tag an in der Leber als wahrscheinlich einzigem Bildungsorgan produziert. Außer im Plasma wird es auch in Sputum, Bronchialsekret, Syn-

R. Streuli und P. J. Grob Departement für Innere Medizin der Universität Zürich

ovialflüssigkeit, Urin und Stuhl gefunden. Die biochemische Leistung des co1-Antitrypsins bezieht sich nicht, wie vom Namen her vermutet werden könnte, ausschließlich auf die Hemmung der Trypsinaktivität, sondern einer ganzen Reihe von anderen Proteinasen, wie Chymotrypsin, Plasmin, Thrombin und Plasma-Kallikrein. Das ct1-Antitrypsin ist einer von mindestens sechs Proteinaselnhibitoren im Serum; ebenfalls schon gut charakterisiert sind u1Antichymotrypsin, Inter-a-Trypsin-lnhibitor, Antithrombin III, C0Inhibitor und u-Makroglobulin. Die Proteinase-Inhibitoren machen zusammen ungefähr 10°/o aller Plasmaproteine aus, wobei u1-Antitrypsin mit rund 2,2 g/l nach dem cz2-Makroglobulin die zweithöchste Serumkonzentration aufweist (4).

Funktion Die physiologische Bedeutung des a1-Antitrypsins ist nicht genau geklärt, muß aber sicher im Zusammenhang

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mit dem gesamten Proteinase-Inhibitorensystem gesehen werden. Viele der durch a1-Antitrypsin und andere Inhibitoren kontrollierten Enzyme sind Bestandteile von »Kaskadenproteinsystemen«, zu denen unter anderem Blutgerinnung, Fibrinolyse und Komplementaktivierung gezählt werden können. Diese biologischen »Abläufe« sind von Natur aus nur lokal erwünscht; eine Generalisierung wäre eine Katastrophe für den Organismus (Beispiele: Blutgerinnung, Fibrinolyse). Die Proteinase-Inhibitoren scheinen bei der erwähnten Lokalisierung eine wesentliche Rolle zu spielen, so auch das a1-Antitrypsin, dessen Serumkonzentration bei jedem »Reiz« (Verletzung, Entzündung, Aufregung usw.) innerhalb von Minuten erhöht werden kann. Es wird dementsprechend zu den »early inflammatory proteins« gezählt.

Nachweis und Natur des x1-Antitr' Mangels Wie erwähnt, gibt es kaum eine pathologische Veränderung im Organismus (oben als »Reiz« bezeichnet), bei der die Serumkonzentration des cz1-Antitrypsins nicht erhöht ist. Mangelzustände hingegen sind sehr selten und nahezu immer genetisch bedingt (1). Qualität und Serumkonzentration von a1-Antitrypsin stehen unter Kontrolle von kodominanten Allelen eines Genlocus (2). Heute sind 17 Allele bekannt. Deren Mehrzahl, nämlich B, D, E, F, »F«, G, I, L, M, V, X, Y, kodiert für normale Serumkonzentrationen. Fünf Allele, nämlich P, W, S, Z und »Null«, führen zu mehr oder weniger tiefen Serumkonzentrationen; sie werden Defektallele genannt. Der biochemische »Defekt« ist beim Z-kodierten u1-Antitrypsin genauer bekannt: Es fehlt der Neuraminsäureanteil, wodurch der Transport des in der Leberzelle synthetisierten u1-Antitrypsins nach außen erschwert zu sein scheint. Die Folgen davon sind eine Anhäufung der Substanz in der Leberzelle, was als diagnostisches Kriterium verwendet werden kann, und eine tiefe Serumkonzentration, die aber auch beim homozygoten ZZ-Individuum immer noch 20% der Norm beträgt. Mit Abstand häufigstes Allel ist M; je nach Bevölkerung weisen mindestens 80% der Population den Genotyp MM auf. Unter den Defektallelen scheint einzig Z von klinischer Bedeutung zu sein, und einzig die homozygoten ZZ-Träger sind wesentlich gefährdet. Grund dafür ist, daß nur das Z-Allel für ein a1-Antitrypsin ausschlaggebend ist, dessen Serumkonzentration nach einem »Reiz« nicht anzusteigen vermag (5). Bei heterozygoten MZ-Individuen ist die a1-Antitrypsin-Konzentration in nicht gefordertem Zustand zwar erniedrigt, kann aber dank dem M-Anteil jederzeit prompt ansteigen. Die Serumkonzentration von a1-Antitrypsin läßt sich mit immunologischen Methoden, wie Immundiffusion oder Monoraketentechnik (6), leicht bestimmen. Verschiedene Firmen stellen heute einfache Meß-Kits zur Verfügung; damit können homozygote ZZ-Individuen erfaßt werden. Zur Ermittlung von heterozygot Defizienten, zum Beispiel MZ- oder MS-Individuen, sind aus den schon erwähnten Gründen (Konzentrationsanstieg

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auf »Reiz« jederzeit möglich) quantitative Methoden ungenügend. Es ist dann die Geno- oder Phänotypbestimmung indiziert, die auf qualitativen Unterschieden des a1-Antitrypsins beruht. Dies ist mit Hilfe der Stärkegelelektrophorese oder der zweidimensionalen Stärkegel-Agarose-Immunelektrophorese möglich.

Klinik des oc1-Antitrypsin-Mangels Klinisch eindeutig gesichert ist die Assoziation von schwerem a1-Antitrypsin-Mangel (Genotyp ZZ) und Krankheit. Bei solchen Patienten beträgt die Gefahr 10 bis 20%, an einer frühkindlichen Leberzirrhose zu erkranken (9). Kommt es nicht dazu, treten im späteren Leben wahrscheinlich keine Lebererkrankungen mehr auf, die mit dem a1-Antitrypsin-Mangel in Zusammenhang stehen, hingegen werden dann 30-50% der ZZ-Individuen von einem früh auftretenden Lungenemphysem befallen (1). Nur 10-30% homozygot Defiziente erkranken weder an einer frühkindlichen Leberzirrhose noch an einem Lungenemphysem. Das Rauchen erhöht auch bei diesen Patienten die Wahrscheinlichkeit eines Lungenemphysems stark. Charakteristisch für den »Zirrhosetyp« ist, daß bei den Betroffenen ein Icterus prolongatus beobachtet wird. Der Übergang in die Leberzirrhose erfolgt fließend oder erst nach einem Intervall von Monaten bis Jahren. Für das Lungenemphysem bei ZZ-Individuen ist typisch, daß es früh beginnt, meist vor dem 40. Lebensjahr. Es handelt sich fast immer um ein basal beginnendes panlobuläres Emphysem mit schwerem Verlauf, besonders bei Rauchern. Das durchschnittliche Todesalter liegt bei 47 Jahren. Da es sich um eine genetisch determinierte Krankheit handelt, läßt sich eine familiäre Häufung beobachten. Der Anteil der betroffenen Frauen ist bei dieser Krankheit weitaus höher als bei den gewöhnlichen Formen des Emphysems (3).

Pathophysiologie Wahrscheinlich beginnt die Lungenkrankheit im Bereich der Alveolen, indem Proteinasen, die aus Alveolarleukozyten und Makrophagen stammen, wegen des a1-Antitrypsin-Mangels zuwenig neutralisiert werden können. Folge davon ist eine Autodigestion, zu der möglicherweise auch ungenügend inhibierte bakterielle Proteinasen beitragen (7, 8). Durch die Andauung kommt es zu einem Verlust an Alveolar- und Kapillaroberfläche. Die Pathogenese der Leberzirrhose ist viel weniger klar. Fast sicher ist einzig, daß das in den Hepatozyten angereicherte a1-Antitrypsin als Ursache dafür nicht in Betracht kommt; denn diese Akkumulation läßt sich bei allen ZZ-lndividuen beobachten, also auch bei denjenigen ohne Zirrhose. Vielmehr wird vermutet, daß Proteinasen aus den Kupfferschen Sternzellen nicht inaktiviert werden und so eine Zerstörung des Lebergewebes zur Folge haben.

Diagnostische Bedeutung Schwerer u1-Antitrypsin-Mangel, wie er bei homozygoten ZZ-Individuen vorkommt, ist selten. Unter allen Patienten mit Lungenemphysem hat er einen Anteil von etwa 1% (beim Frühemphysem allerdings etwas mehr). Die Indikation für eine Untersuchung auf a1-Antitrypsin-Mangel ist deshalb nur in bestimmten Situationen gegeben: 1. unklarer Icterus prolongatus, 2. unklare kind-

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Nr. 11, 18. März 1977, 102. Jg.

Gebbers, Otto: Immunpathogenese der Colitis ulcerosa

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liche Leberzirrhose, 3. Frühemphysem, 4. rasch progredientes Lungenemphysem. Wenn hier ein ZZ-Individuum gefunden wird, ist die Ätiologie der Krankhêit erwiesen. Falls sich der Patient aber als heterozygot erweist (MS oder MZ), bleibt der Zusammenhang fragwürdig. Möglicherweise ist die Heterozygotie eine konstitutionelle Komponente, die sich zusammen mit Risikofaktoren, wie vor allem dem Rauchen, negativ

Emphysemursachen ungeklärt bleibt. Immerhin ist der hier erläuterte Entstehungsmechanismus gesichert. Der Pathophysiologe steht jetzt vor der faszinierenden Aufgabe, die lokalen Proteinaseinhibitoren-Aktivitäten im Gewebe zu erforschen; denn möglicherweise kommt einem relativen, lokalen Mangel an a1-Antitrypsin größere Bedeutung zu.

auswirkt. Therapeutische Konsequenzen. Beim genetisch bedingten a1-Antitrypsin-Mangel ist eine kausale Therapie nicht möglich. Wegen der kurzen Halbwertzeit des a1-Antitrypsins ist auch eine Substitutionstherapie kaum denkbar. Die einzige sinnvolle Maßnahme ist die prophylaktische Ausschaltung zusätzlicher Noxen, also vor allem des Rauchens, aber auch von proteinasehaltigen Sprays und Waschmitteln.

Literatur

Ausblick -Die Entdeckung einer Assoziation zwischen a1-Anti-

trypsin und Lungenemphysem hat anfänglich zur großen Hoffnung Anlaß gegeben, wesentliche neue diagnostische und therapeutische Aspekte finden zu können. Dieser Enthusiasmus ist etwas gedämpft worden durch die Tatsache, daß das a1-AntitrypsinmangelEmphysem selten ist und nach wie vor ein Großteil der

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Dr. R. Streuli, Privatdozent Dr. P. J. Grob Departement für Innere Medizin der Universität Kantonsspital CH-8091 Zürich, Rämistr 100

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[Diagnostic value of alpha1-antitrypsin].

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