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Leitlinien einer Ethik der Gentechnik* Voriiberlegungen zu einer Ethik der Biotechnologie

Bernhard Irrgang Institut ftir Moraltheologie und Christliche Sozialethik der Universit~it, W-8000 Mt~nchen, Bundesrepublik Deutschland

A fundamentalistic point of view is for the evaluation of genetic engineering inadequate. Using ethics to evaluate the consequences is not valid for gene transfers across species as a morally relevant criterion but is rather the assessment of toxic, pathogenic, and ecological effects of transgenic organisms. A criterion for human genetics is not the inviolability of the human embryo, but social and human tolerance and the consent of the affected. * l]berarbeiteter Vortrag am Institut for Humangenetik der Universit~it G6ttingen vom 30. Januar 1990

Naturwissenschaften 7 7 , 5 6 9 - 5 7 7 (1990)

n der Auseinandersetzung um Biotechnologie wird h~tufig eine Gen-Ethik gefordert, eine Berufsstands-Ethik ft~r Gentechniker und ein Ethikkodex fiar Gen-Ingenieure. Gleiches gilt ft~r Arzte, die Gentechnik insbesondere im Bereich der Diagnostik und der genetischen Beratung anwenden. Allerdings greifen in der modernen Biotechnologie wie in der Humangenetik Grundlagenforschung und Anwendung derart ineinander - nicht zuletzt, weil aus Kostengrtinden potentielle Anwendungsfelder bestimmen, auf welchen Gebieten Grundlagenforschung vorgenommen wird - , dab die Verfahren der Gentechnik und ihre Produkte die Diskussion bestimmen. Vor allem sind es die Risiken der Gentechnologie, um die die Kontroverse noch nicht abgeebbt ist. Hier muB die Ethik Kriterien entwickeln, die Hilfestellungen ftir einen rationalen Diskurs iiber Gentechnik anbieten. Daher m6chte ich im folgenden eine Ethik der Folgenbewertung von Gentechnologie vorschlagen, in der die Verantwortung ftir das sittlich Richtige im Vordergrund steht. Sie beurteilt nicht den Ingenieur oder Arzt, sondern versteht sich als Hilfestellung zur Bewertung von Innovationen dutch gentechnische Produkte und Verfahren. Eine Ethik der Folgenbewertung behauptet zwar nicht, dab sich Giiterabw~igungen und Folgenbewertungen in einer Art Kasuistik normieren lassen. Sie beansprucht abet, diese durch Leitlinien sittlich auszurichten. Eine spezifische Standesethik begriindet sie nicht. Vielmehr geht sie von der Grundlagendiskussion in der Ethik aus und entwickelt bestimmte Leitlinien und Orientierungsregeln in der spezifischen Ausrichtung auf diese Technik als Entscheidungshilfen angesichts gentechnischer Eingriffe. Eine Begriffskl~irung am Anfang scheint angebracht. Oft wird undifferenziert von Gentechnologie geredet, ohne dab klar ist, was gemeint ist. Werden unter Technik die MaBnahmen und Verfahren verstanden, die vom Menschen unter Ausnutzung von Naturgesetzen und Stoffen herangezogen werden, um sie ftir die Produktion nutzbar zu machen, dann ist Gentechnik im spezifischen Sinne die in-vitro-Herstellung von rekombinanter DNA. Technologie aber als Methodenlehre und Verfahrenskunde ist die Lehre vonder Gesamtheit der Arbeitsvorg~nge, Verfahren, Methoden und des Fertigungsverlaufs von bestimmten Produkten. Legt man diese Definition zugrunde, dann maBte eigentlich von gentechnischen Arbeitsschritten im Rahmen biotechnologischer Verfahren gesprochen werden. Gentechnologie als WortschOpfung w~re dann h6chstens eine Bezeichnung im uneigentlichen Sinne dort, wo im Rahmen von biotechnologischen Verfahren Gentechnik angewendet wird, im Unterschied zu biotechnologischen Verfahren, die keine gentechnischen Arbeitsschritte enthalten. In diesem letzteren unscharfen Sinn

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wird der Begriff Gentechnologie in diesem Aufsatz verwendet, weft er sich so eingebargert hat. Allerdings scheint es mir nicht plausibel, aus einem derart unscharfen Begriff Forderungen oder Verbote abzuleiten. Vielmehr w~thle ich zun~ichst einen anderen Zugang zum Thema.

Risikopotentiale der Gentechnologie Risikopotentiale entstehen in der Gentechnologie auf drei Ebenen, n~imlich zun~ichst hinsichtlich der technisch-biologischen Sicherheit, dann in bezug auf 13kologie und Evolution sowie schliefSlich bei der Anwendung auf den Menschen, wenn therapeutische und diagnostische Mal3nahmen in eugenische umschlagen oder unmenschlichen gesellschaftlichen Tendenzen Vorschub leisten. Hierbei sind die Uberg~inge fliefSend. Die Diskussion um die Humananwendung der Gentechnologie und ihre sittlichen Implikationen sind in vollem Gange. Daher werde ich zun~ichst mit der Risikodebatte auf der ersten und zweiten Ebene beginnen. FOr Regine Kollek, die zu den entschiedenen Kritikern der Gentechnologie in Deutschland gehOrt, liegt der bisherigen Sicherheitsdebatte in der Gentechnologie die Annahme zugrunde, dab das Risikopotential eines genmanipulierten Organismus sich aus der Addition der Eigenschaften der benutzten Komponenten bestimmen lasse [1]. Daher beschr~tnke man sich zum Schutz vor unerwanschten Folgen auf toxinbildende Mikroorganismen ([1], S. 29). Das additive Modell geht davon aus, dab die Eigenschaften der manipulierten Organismen sich im voraus bestimmen lassen ([1], S. 30). Dieses Modell steht in der Tradition des reduktionistischen Paradigmas der Biologie, das eine Steuerbarkeit biologischer Ph~tnomene impliziert ([1], S. 30). Es abersieht, dab Gene nicht aus ihren dutch natarliche Evolution entstandenen Nachbarbeziehungen herausgenommen werden darfen, sollen nicht FunktionsstOrungen entstehen ([1], S. 31). So kann es zu krebsartigen Wucherungen bisweilen auch erst in nachfolgenden Generationen kommen ([1], S. 32). Auch neue pathogene Organismen kOnnten entstehen ([1], S. 32). Das Interaktionspotential eines Organismus erweist sich erst im Kontakt mit der natarlichen Umwelt ([1], S. 32) und l~tl3t sich nur im Versuchs- und Irrtumsverfahren austesten ([1], S. 33). Im Katastrophenfall ist aber bei der Freisetzung genmanipulierter Mikroorganismen das langfristige SchadensausmaB nicht absch~itzbar ([1], S. 33). Es gibt synergistische Effekte, die das additive Modell nicht erkl~tren kann und daher als Restrisiko abtut ([1], S. 33). Das Risiko von Epidemien katastrophalen Ausmal3es ist zwar m6glicherweise extrem gering, aber gr01~er Null ([1], S. 34). Daher ist far Frau Kollek angesichts des schlimmstmOglichen 570

Schadens nicht mehr tolerierbar, das Risikopotential mit dem Versuchs- und Irrtums-Verfahren auszutesten ([1], S. 34). Gentechnische Manipulationen weisen hypothetische Risiken auf, die nicht mit dem zeitlich und r~umlich begrenzten Schadensausmal3 vieler g~ingiger Technologien vergleichbar sind ([1], S. 36). Zudem verschleiere die Quantifizierung und Verwissenschaftlichung des Risikos, dab bei der Risikobewertung deskriptive und normative Elemente zusammenkommen ([1], S. 37). Nach Frau Kollek sollte ein nicht kalkulierbares, m0glicherweise extrem unwahrscheinliches Schadensausmal3 als Risiko nicht eingegangen werden. Betrachten wir das Risiko als das Mal~ eines Schadens und die Gefahr als ein Risiko, bei dem das zumutbare Mar5 aberschritten ist [2], so fliel3en offensichtlich Wertungen ein. fiber Zumutbarkeit kann diskutiert werden, wofor sittliche Mal3st~ibe zu erarbeiten sind. Ein akzeptables Risiko schliel3t einen zumutbaren Schaden ein. Ob aber etwas aus sittlicher Perspektive zumutbar ist oder nicht, kann nur das Ergebnis einer wertenden Gaterabw~igung und einer sachlichen PrOfung sein ([2], S. 60). Trotz der verlockenden Eindeutigkeit und Einfachheit des Kriteriums ,,Risiko Null" ist darauf hinzuweisen, dab Risiko eine kontinuierliche Gr013e darstellt und Null als Grenzwert praktisch nie erreichbar ist ([2], S. 63). Also muf5 auch das Risiko eines Nichthandelns, einer grunds~itzlichen Entscheidung gegen die Gentechnologie, abgewogen und beachtet werden. Daher erfordert die sittliche Bewertung der Gentechnologie eine allgemeine Ethik der Folgenbewertung. Die realen Gefahren, die mit der Gentechnologie verbunden sind, werden recht genau gesehen. Potentielle Gefahren sind oft schwer abzusch~itzen. Aber gerade sie besch~ftigen die Offentlichkeit weit mehr als die anderen. Zugegebenermal3en sind die Vorstellungen von einem gentechnologisch erzeugten BioGAU schrecklich, etwa die Entwicklung einer Art ~ihnlich dem HIV-Virus, der nicht mehr an die zumindest in Europa begrenzten 12bertragungswege gebunden ist, sondern sich wie der Grippevirus verbreitet. Andererseits droht uns gerade dteser Fall von der Natur her, und Gentechnik scheint zu dem Methodenarsenal zu gehOren, ohne das wirksame Gegenmittel nicht gefunden werden kOnnen. Zudem kOnnen wir heute noch gar nicht absch~ttzen, inwiefern wir durch die Erw~rmung der Erdatmosph~tre auf die Entwicklung der Mikroorganismen einwirken und nicht mOglicherweise toxischen und pathogenen Formen bei der Entstehung ungewollte Hilfestellungen leisten. So k6nnte auch eine generelle Entscheidung gegen die Gentechnik ein potentielles Schadensausmal3 nach sich ziehen, das als unzumutbar einzusch~itzen ist.

Sittliche Grundprinzipien im Rahmen einer Ethik der Folgenbewertung Angesichts der Fragen einer Risikobewertung m0chte ich daher im Umril3 eine Ethik der Folgenbewertung entwerfen. Auch wenn Niklas Luhmann vermutet, ,,dal3 jede ethische Reflexion an der Moralferne bestimmter Risiko-Probleme scheitert" [3], ist nach meinero Dafiarhalten die Frage nach der Akzeptanzwi~rdigkeit von Risiken eine genuin ethische Fragestellung, die im Rahmen einer Ethik der Folgenbewertung anzugehen ist. Dabei geniagt eine Beschr/inkung auf Risiken nicht, vielmehr ist aus FairnefSgrtinden eine umfassende Folgenbewertung nach sittlichen Grunds~itzen erforderlich. Eine Version von Ethik, die hier Entscheidungshilfen anbietet, ist der Konsequentialismus [4]. Er geht von Entscheidungen bzw. Handlungen und ihren Folgen aus und mOchte die Folgenbewertung durch Regeln durchsichtiger machen. Sie sollen die Ausrichtung und die eventuell erforderliche Steuerung der technologischen Innovation einigermal3en gerecht begrt~nden. Das erforderliche ethische GrundgerOst m0chte ich hier nur andeuten. Das Grundprinzip einer Ethik der Folgenbewertung kOnnte man dabei wie folgt formulieren: ,,Handle so, dab ein unter den gegebenen Umst/inden optimaler Zustand eintritt" ([5], S. 297). Dabei ist dieses Optimum nun nicht im Sinne des Utilitarismus als ein Nutzen-Maximum zu verstehen, oder zumindest nicht nur, sondern als ein Optimum, gemessen an sittlichen Grunds/itzen. Dies erhellt eine Explikation der praktischen Rationalit/it, wie sie bereits Thomas von Aquin [6] zumindest angedeutet hat, indem er die Vernunft und Intellektualit/it sowie die Willensfreiheit und Freiheit zur Grundvoraussetzung einer Bestimmung des handelnden Menschen gemacht hat. Sittliches Handeln ist nur dann mOglich, wenn es konsistent ist, d.h. nicht die Bedingungen seiner eigenen MOglichkeit, eben Vernunft und Freiheit, zerstOrt. Daraus ergeben sich zwei Grunds/itze einer Ethik der Folgenbewertung: Eine sittliche Entscheidung ist verpflichtet, erstens praktische Verntinftigkeit im Sinne der Transsubjektivit~it und Unparteilichkeit des eigenen Standpunktes bei der Entscheidungsfindung wie der Gerechtigkeit der Handlungsfolgen walten zu lassen sowie zweitens die Menschen- oder Personenwt~rde bei sich und bei anderen als Voraussetzung der Freiheit zu respektieren. Dariaber hinaus sind bei einer Ethik der Folgenbewertung drei Arten der Entscheidung zu differenzieren: Entscheidung unter Sicherheit ist anders zu bewerten als Entscheidung unter Risiko oder unter Unsicherheit. In der deskriptiven Entscheidungstheorie etwa im

Sinne der Spieltheorie werden die beiden letzteren F/ille oft zusammengenommen, indem auch ftir Unsicherheit noch ein statistisch beschreibbares Mar5 angegeben wird. Der Unterschied besteht jedoch darin, dab der mathematische Grenzwert, der ftir Entscheidungen unter Risiko festgestellt werden kann, bei Unsicherheit nur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ergibt. Daher beharrt eine normative Entscheidungstheorie im Hinblick auf die Folgenbewertung auf der Unterscheidung aller drei F/ille. Eine Entscheidung unter Sicherheit verpflichtet den Handelnden dann zur Optimierung der Handlungsfolgen, eine Entscheidung unter Risiko verpflichtet ihn zur Auswahl derjenigen Variante, die wahrscheinlich optimal ist. Eine Entscheidung unter Unsicherheit jedoch bietet eine derartige Variante nicht an, vielmehr besteht hier die Verpflichtung, ein potentielles Schadensausmal3 mOglichst gering zu halten ([5], S. 27). Diese fAberlegungen sind nicht unwichtig ftir die sittliche Bewertung der Gentechnik. Konsequentialistische kategorische Imperative beruhen also auf der Explikation der praktischen Rationalit/it mit ihren beiden konstitutiven Elementen praktische Vernunft und Freiheit. Der erste Grundsatz legt sich dann - ich kann dies hier nur benennen und nicht ableiten - durch das Transsubjektivitatsprinzip und die Verpflichtung zur Uberparteilichkeit als Vernanftigkeit und Verhaltnisrni~fligkeit im Sinne eines Gerechtigkeitskonzeptes aus. Zweitens ist die Berticksichtigung der Freiheit im Sinne der Kantischen Selbstzweckformel als Begriindung von Personaliti~t und Menschenwiirde zu lesen und als Humanvertri~glichkeit und SozialvertrRglichkeit yon Technologiefolgen auszulegen. Ein Regelkonsequentialismus ist ein Verfahrensvorschlag zur Entscheidungsfindung. Er besteht in der Erarbeitung von Entscheidungsalternativen und in der Handlungsfolgenbewertung. In Szenarien und Modellen werden Kosten, Folgen, Nebenfolgen in Abh/ingigkeit von den intendierten Zielen abgesch/itzt und auf ihre Sittlichkeit hin tiberprtift [7]. Eine sittlich einwandfreie Entscheidung muB die Alternative w/ihlen, die aus heutiger Perspektive langfristig vor allen Alternativen vorzugswtirdig ist. Die Bewertung erfolgt auf oberster Ebene an sittlichen Grunds/itzen wie der Verpflichtung zur fAberparteilichkeit, der Einhaltung von Gerechtigkeit und der Respektierung der Personenwtirde. Sie mul3 aber auf einer zweiten Ebene durch Orientierungs-, ProblemlOsungs-, KonfliktlOsungs-, Risikobewertungs- und Innovationsbewertungsregeln erg/inzt werden, die fiir verschiedene Technologien zu spezifizieren sind. Gleichfalls bedarf es der Abkiirzungsregeln fiir die Folgenabsch/itzung bei weniger grunds/atzlichen Entscheidungen. . .

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Erweiterung des Grundkonzeptes durch einen 6kologisch orientierten Humanismus Wie weit aber erstreckt sich unsere Verpflichtung zu Oberparteilichkeit und Gerechtigkeit? Und bis in welche Bereiche hinein mtissen Folgen beriicksichtigt werden? Dies ist eine der entscheidenden Fragen einer Ethik der Folgenbewertung im Hinblick auf Gentechnik. Auch hier mug ich mich auf einige grundlegende Bemerkungen beschr~tnken [7]. Traditionell waren sittliche Verpflichtungen auf Menschen beschrfinkt. Es waren vor allem Gerechtigkeitsund Solidarit~itspflichten. Lassen sich diese nun auf die aul3ermenschliche Natur ausweiten? Eine Antwort hierauf kann an Husserls Theorie der ,,Einfahrung" ankniipfen. Diese geht yon der Selbstwahrnehmung des Menschen als Person, als etwas Organisches und etwas NatOrliches, von ,,Stufen der Konstitution der Seele als naturale Einheit" aus [8]. Die Erfassung der ,,animalischen Erfahrung" frei von allen Vormeinungen, Deutungen und Theorien kann nur die Einfiihlung leisten, die zugleich beteiligt ([8], S. 78). Entscheidend ist die Herausarbeitung yon ,Erfahrungsverkn0pfungen": ,,sofern ich z.B. in meiner Innenerfahrung eine assoziative Beziehung der Anzeige gestiftet finde zwischen heftigen Leibesbewegungen, schreiender Stimme und dergleichen und Zorn, so kann ich die Apperzeption der entsprechenden fremdleiblichen Au13erungen, die zun~ichst schon verstanden sind als Au13erungen einer Innenansicht dieser k6rperlichen Bewegungen etc., in der mitverbunden, apperzeptiv unbestimmten Innerlichkeit eine Ngherbestimmung erfahren in dem Sinn: der Andere ist im Zornaffekt" ([81, S. 83). Die Einf0hlung ergibt, dab wir gerade bei uns nahe verwandten Tieren mit ~ihnlichem Zentralnervensystem yon einem uns verwandten triebhaften Streben nach einem mOglichst schmerzfreien Leben und dessen Erhaltung ausgehen diirfen. Gem~il3 der sittlichen Verpflichtung zu einem transsubjektiven Standpunkt sind daher in unsere Folgenbewertung biotechnologischer Eingriffe BedOrfnisse von Organismen oder Versuche yon h6her entwickelten Tieren, ein mtSglichst leidfreies Leben zu fOhren, einzubeziehen [9]. Daher bedeutet die Einnahme einer sittlichen Perspektive im Hinblick auf unseren Umgang mit der Natur, dab wir nicht mehr ausschlieglich yon unseren Nutzungsinteressen ausgehen dt~rfen. Der technologisch orientierte Humanismus ist angesichts der t)kologischen Krise zu einem 6kologisch orientierten Humanismus zu erweitern. Ansatzpunkt ist und bleibt der Gedanke der Humanit~tt des Menschen und die Forderung nach zwischenmenschlicher Solidarit~tt. Diese Verpflichtung zu angemessener Solidarit~t ist aber gemtig dem Grundprinzip 572

der Oberparteilichkeit zu erg~inzen, und zwar in abgestufter Weise durch die Berticksichtigung der Interessen zukiinftiger Generationen, der BedOrfnisse leidensf~ihiger Tiere nach dem Kriterium der gr613eren Verwandtschaft mit uns bzw. ihrer Stellung in der Evolution des zentralen Nervensystems und letztlich auch der Naturals conditio sine qua non for die Entwicklung von Humanitfit und Solidarit~t [7]. Die Theorie der Einfiihlung im Horizont einer Ethik der Folgenbewertung von Gentechnologie begrOndet noch keine sittliche Einstellung. Sie hilft aber, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Folgen einer Entscheidung lebensgerecht, zukunftsgerecht oder umweltgerecht sind. Allerdings versteht sich das in der Theorie der Einftihlung begrtindete abgestufte Gleichheitsprinzip als Dringlichkeitskriterium bei der Ber0cksichtigung der Interessen kiinftiger Generationen und basaler Bedarfnisse leidensfghiger Organismen im Zentrum eines 6kologisch orientierten Humanismus als Metaregel und inhaltliche Auslegung des Gerechtigkeitsprinzips.

Artiiberschreitender Gentransfer? Art0berschreitender Gentransfer gilt als charakteristisches Merkmal der Gentechnik. H~tufig wird behauptet, er sei deshalb nicht erlaubt, weil er in der Natur nicht vorkomme und ein enormes Geffihrdungspotential darstelle. Daher ist zu pr0fen, ob arttiberschreitender Gentransfer als Verstog gegen die Lebensgerechtigkeit gewertet werden mug. Dabei ist ein normativer Naturbegriff abzulehnen, weil sich aus deskriptiven naturwissenschaftlichen Aussagen keine sittlichen Empfehlungen ableiten lassen. Zudem fiihrt er - er war in der griechischen Philosophie weit verbreitet - zu einer Subjektivierung der Natur oder zur Naturalisierung des Menschen. Er w~ire nur zu restituieren, wenn es gel~inge, in der Natur selbst eine Zielgerichtetheit (Teleologie) als notwendig auszuweisen. Ein derartiges Bestreben widerspricht der biologischen Evolutionstheorie und der empirisch vorgehenden Okologie. Daher leite ich sittliche Prinzipien tier Folgenbewertung aus der Explikation praktischer Rationalit~it und nicht aus der Natur ab. Dennoch soll das Zweckm~il3ige und Funktionsttichtige in der Natur beriicksichtigt werden, wenn die Frage gestellt wird, was an ihr ,,gut", erhaltenswert und schtitzenswert ist. Das moderne Konzept der Art wurde im wesentlichen yon Ernst Mayr entwickelt. Es definiert die Art populationsgenetisch unter Berticksichtigung 0kologischer, geographischer, genetischer und anderer Faktoren. Ihr Zentrum ist die Fortpflanzungsisolation und die Okologische Nische. Richard Dawkins klare, genetisch formulierte Definition begrOndet das Biospezies-Konzept

molekularbiologisch. Sie lautet: ,,Eine Art wird dadurch definiert, dab alle ihre Mitglieder dasselbe Beschriftungs- oder Etikettierungssystem fiir ihre DNS haben" [10]. Weil das Etikettierungssystem zwischen den Arten verschieden ist, k~ime es bei einer Vermischung zu einern Merkmals- und Struktur-Durcheinander, vorausgesetzt, die beiden Arten wtirden in ihrem gesamten genetischen Material miteinander kombiniert. Bei der Verschmelzung des Genoms von Individuen zweier Arten sind daher die meisten Nachkommen entweder bereits w~ihrend der Embryonalentwicklung abgestoi3en worden, krank, letal oder steril. Nut in seltenen F~tllen sind sie wieder fortpflanzungsf~ihig, aber auf jeden Fall labiler als die Eltern. Das Risiko diirfte dabei um so gr613er sein, je komplizierter die Zusammensetzung des Lebewesens ist. Daher ist anzunehmen, dab die Selektion alles begiinstigen wird, was die MOglichkeit solch sch~idlicher Neukombination einschr~inkt oder v611ig ausschaltet ([11], S. 12). Eine gr6Bere Labilit~it kann zwar in besonderen 6kologischen Situationen und in eng begrenzten Ausnahmef~illen biologisch einen Vorteil darstellen, normalerweise jedoch wird eine derartige Verschmelzung von der Selektion ausgesondert. Dies k6nnte als ein Einwand gegen gentechnische Eingriffe interpretiert werden, allerdings nur bei oberfl~ichlicher Betrachtung. Denn Gentechnik ~indert im Idealfall gezielt nur einige Genkomplexe oder DNS-Sequenzen. Je mehr Genloci allerdings ausgetauscht werden, um so grOBer ist die Gefahr, das genetische-Etikettierungssystem durcheinander zu bringen und so letale oder krankhafte Individuen zu erzeugen. Dies geschieht bei den sogenannten ,,SchrotschuB-Experimenten", wo zuf~tllig Gene in die Chromosomen eingetragen werden. Wie fest sind Artgrenzen? Hier sind verschiedene Bereiche zu unterscheiden. Prokaryonten - Viren und Bakterien - zeigen keine geschlechtliche Fortpflanzung. Hier ist eine Art nur durch ihre Okologische Nische zu bestimmen. Hinzu kommt, ,,dab in bestimmten Bakteriengattungen Genaustausch h~iufig ist" ([11], S. 228). Da arttiberschreitender Gentransfer bei Prokaryonten eher die Regel ist, hat er eine biologische Funktion. Entscheidender als Fortpflanzungsisolation ist der Bezug der Prokaryonten zu ihren jeweiligen Okologischen Nischen. Als Kriterium fiir gentechnisch ver~inderte Prokaryonten k~ime also ihre Pathogenit~it oder Toxizit~it in Frage. Auch bei Pflanzen ist Artkreuzung nicht selten ([12], S. 68). Allerdings bringen Artkreuzungen h~iufig zwergwiichsige, sterile oder sonstwie v o n d e r Norm abweichende Individuen hervor ([12], S. 59). Denn Bastardierung - die Durchbrechung von Artbarrieren kann Genkombinationen auflOsen, die ftir die Angepal3theit giinstig waren ([12], S. 64). Die Leichtigkeit der Artkreuzung bei bestimmten Pflanzen ist auff~illig

([12], S. 68). Der h~iufigste Vorgang ist die Artbastardierung, die Kreuzung von Individuen unterschiedlicher Populationen. Dabei gelingt Artbastardierung ktinstlich viel h~tufiger als in natiirlicher Umgebung ([12], S. 118). Hier sind spezifische Standorte Vorbedingung wie offene Fl~ichen und neue Okologische Nischen, in denen der Wettbewerb abgeschw~icht ist ([12], S. 120). So ist das letztlich entscheidende Kriterium ftir das Vorkommen von arttiberschreitendem Gentransfer auch bei Pflanzen ein Okologisches. Bei den Tieren, insbesondere bei den Tieren mit sexueller Fortpflanzung, l~tl3t sich Fortpflanzungsisolation schon eher als Kriterium angeben. Hier wird im biologischen Artkonzept die Fortpflanzungsgemeinschaft, die 0kologische Einheit und die genetische Einheit zur Artbestimmung herangezogen ([13], S. 31). Es gibt Grenzf~ille der Evolution, auch bei Tieren, wo diese reproduktive Isolation durchbrochen wird ([13], S. 37), aber artiiberschreitender Gentransfer zwischen Tieren ist sehr viel seltener als bei Mikroorganismen und vielen Pflanzen. Die biologische Funktion von Arten in der Evolution besteht darin, dab Konkurrenz bei gleichen 0kologischen Ansprtichen gemindert wird. Reproduktive Isolation hat die Aufgabe, dab Populationen untereinander nicht vernichtend miteinander konkurrieren. Daher ist das entscheidende Kriterium, das aus dem Artbegriff ftir die Bewertung der Gentechnologie herangezogen werden k0nnte, die Umweltvertr~iglichkeit, die Vermeidung von Pathogenit~it und Toxizit~tt far die Umwelt. Dies impliziert, dab ftir die Beurteilung der Berechtigung eines gentechnologischen Eingriffs nicht die Eigenschaft der Artzugehtirigkeit entscheidend ist, definiert durch reproduktive Isolation, sondern strukturelle, morphologische, ethologische und 0kologische Merkmale, und zwar im Hinblick darauf, ob sie bestehende Populationssysteme empfindlich st0ren, Konkurrenzen verschieben, sich als pathogen oder toxisch for ihre Konkurrenten erweisen. Bei Mikroorganismen, bei denen keine strenge Fortpflanzungsisolation vorliegt, ist daher das Okologische Kriterium Pathogenit~it oder Toxizit~it in den Vordergrund zu stellen. Bei Pflanzen, bei denen nattirliche Bastardierungen zumindest weitgehend mOglich ist, w~ire das Kriterium Umweltvertr~tglichkeit anzuwenden, um eine Verdr~ingung bereits eingebtirgerter Arten zu verhindern. Bei Tieren hingegen k0nnte es sich mit Hinblick auf ihre Gesundheit und 15berlebensf~ihigkeit anbieten, Artgrenzen nicht willkiirlich zu iiberschreiten, wenn mehrere Genkomplexe ge~indert, also Chim~iren erzeugt werden, da diese Eingriffe sehr h~iufig letale Nachkommen hervorbringen werden. Einzelne Gene und individuelle Merkmalskomplexe, die die Lebensweise des betroffenen Tieres nicht gravierend negativ beeinflussen, widersprechen nicht den Art573

grenzen, denn diese werden durch die Merkmale deftniert, die die Fortpflanzungsisolation kodieren. Auf jeden Fall sind die potentiellen Folgen far die Lebensweise der so veranderten Tiere zu bedenken. Die entscheidenden Kriterien bei gentechnisch veranderten Organismen sind also Umweltvertraglichkeit, Toxizitat und Pathogenitat. Bei hOheren Tieren ist zudem die weitestmOgliche Vermeidung krankhafter oder letaler Individuen gefordert. Nun lassen sich Umweltvertraglichkeit, Toxizitat und Pathogenitat nicht mit absoluter Sicherheit feststellen. Da aber auch die Nichtanwendung der Gentechnologie ein unabsch~ttzbares Risikopotential in sich birgt, wenn pathogene Organismen auf natiarlichem Wege entstehen und nicht angemessen bekampft werden kOnnen, scheint es mir ein Gebot der Verhaltnismagigkeit, die Verbesserung dieser Prt~fverfahren und nicht die Abschaffung der Gentechnik zu fordern. Es wird zudem untersucht, ob es ein bestimmbares Set von Pathogenitatsfaktoren gibt ([14], S. 19). Augerdem ist zu erwarten, dab mit zunehmender Kenntnis auch das Wissen um Resistenz und Immunitat ([14], S. 22) wie ihre Starkung anwachsen wird. Eine Ethik der Folgenbewertung der Gentechnik fordert daher aus Griinden praktischer Vernunft, die Methoden yon Umweltvertrfiglichkeits-, Toxizitats- und Pathogenitatsprtifung zu verfeinern, um zu einer umfassenden Folgenabschatzung gelangen zu kOnnen. Falls aber eine Toxizitats- oder Pathogenitatsprtffung oder Umweltvertraglichkeitsprtifung im Sinne einer Entscheidung unter Unsicherheit sich (noch) nicht vornehmen lagt, darf z.B. eine Freisetzung aus Vorsichtsgriinden nicht erfolgen. Allerdings ware es erlaubt, im Sinne einer Ethik der Folgenbewertung sogar geboten, durch geeignete Experimente in abgeschlossenen Bereichen die Unsicherheit aufzuheben, um Angaben tiber das wahrscheinliche Risiko zu erhalten.

Die Diskussion um den Beginn menschlichpersonalen Lebens Auch bei der Human-Gentechnik mug die Frage nach der Reichweite der Folgenberticksichtigung beantwortet werden. Eine Anwendung der Gentechnik auf den erwachsenen Menschen gegen dessen Willen steht gereal3 dem zweiten Grundsatz sittlich auger Frage, diskutiert aber wird, ab welchem Zeitpunkt dem Embryo Menschenwiirde zugesprochen werden mug. Oft wird dabei so argumentiert, dab Personenwtirde dem Embryo zukomme, well ibm menschlich-personales Leben zuzuschreiben sei. Reinhard LOw spricht in diesem Zusammenhang vom ,,kategorischen Fundament", da die 574

befruchtete Eizelle alles enthalte, was die Pers0nlichkeit eines Menschen ausmache ([15], S. 155). Das kategorische Fundament entstammt einer Entscheidung ([15], S. 156) und versucht, die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Mensch ein Mensch ist, an das einzig zweifelsfreie Kriterium zu kniipfen, namlich seine ZugehOrigkeit zur Gattung Mensch ([15], S. 154). Warum abet allein bei der Gattung Mensch gentechnische Eingriffe auger zur Therapie sittlich nicht erlaubt sein sollten, begrtindet LOw nicht eigens. Gtiterabwagungen sind in allen Fallen der Anwendung der Gentechnik auger beim Menschen auch nach LOw zulassig ([15], S. 142). Den Grund, der Gleiches beim Menschen verbietet, nennt LOw nicht. Die Festlegung des Beginns menschlich-personalen Lebens mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle im Rahmen eines biologistischen Metaphysizismus bei LOw argumentiert mit der Behauptung, ein bestimmter DNS-Strang lege genetisch auch menschliche Individualitat und Personalit~it fest. Sie ist unzutreffend, weil erstens eineiige Zwillinge oder Mehrlinge mit identischer genetischer Information dennoch keine identischen Organismen oder gar Personen sind. Organismische Identitat und Integritat als Voraussetzung fiar Personalitat ist von genetischer Individualitat zu unterscheiden. Wenn aber letztere Grund far sittlich absolute Schutzwtirdigkeit ist, dann ist aufzuzeigen, warum dies nicht ftir jede genetische Individualitat, also auch far andere Organismen gilt. Genetische Individualitat charakterisiert zumindest alle biparentalen Lebewesen, so dab dieser Begriff die Last einer Bestimmung menschlich-personaler Integritat, Individualitat und Identitat nicht tragen kann. Hier mug anders als biologisch argumentiert werden. Betrachtet man den Begriffsinhalt yon Personalitat im allgemeinen, so kommen Bestimmungsmomente wie Individualitat, Rationalitat, Kommunikationsfahigkeit und Empfindungsfahigkeit in den Blick. Stellt man dann die Frage nach den naturalen Vorausbedingungen aller dieser Faktoren, so ist festzustellen, dab keiner tatsachlich mit dem Verschmelzen von Samen und Eizelle vorliegt. Potentiell kOnnen sie sich jedoch ausbilden, eine einschneidende Zasur in der Embryonalentwicklung gibt es nicht. Daher spricht eine vorsichtige Argumentation bei der Verschmelzung yon Samen und Eizelle yon artspezifischem menschlichem Leben. Und fiir die Bestimmung der naturalen Bedingungen menschlicher Personalitat werden zwei weitere Modelle angeboten [16]. Organismische Identitat des Embryos ist erst gegeben, wenn nach der Einnistung eine Mehrlingsteilung nicht mehr mOglich ist. Zudem ~tndert sich dann der hormohale Haushalt der Mutter. Erste Formen der ,,Kommunikation" im Sinne des gezielten Austausches yon Stoffen wird nun vollzogen. Allerdings sind die na-

turalen Vorausbedingungen far Empfindungsf/ihigkeit und Rationalit~tt noch nicht gegeben. Erst nach SchlieBung des Neuralrohres etwa am 35. Tag der Schwangerschaft, die verbunden ist mit der Ausbildung der GroBhirnrinde, kann man v o n d e r naturalen Anlage zur Empfindungsf~thigkeit sprechen. Da jetzt Stimmungen der Mutter - Annahme oder Ablehnung des Kindes - sich positiv oder negativ auf die Ausbildung der neuronalen Verzweigungen des Gehirns auswirken, liegt auch Kommunikation mit der Umwelt, selbstverst~indlich nonverbaler Natur, vor. Fragt man also nach den aktualisierten naturalen Vorausbedingungen far menschlich-individuelles personales Leben, so liegen sie nicht vor dem 35. Tag nach der Konzeption vor. Legt man Wert auf organismische Individualit/it, so ist der 14. Tag nach der Konzeption - die Nidation - entscheidend. Reicht einem jedoch die Potentialit~tt der Entwicklung, so ist die Verschmelzung von Samen und Eizelle von Bedeutung. Wann also ist der zeitliche Beginn menschlich-personalen Lebens zu datieren? Eine nachterne und saubere Analyse des Problems fi]hrt zu dem Eingest~indnis, dab wir es letztlich nicht wissen. Zwar weist das Modell einer Ausbildung der GroBhirnrinde vom empirischen Befund her die grOBte Plausibilit~it auf. Doch ist aus metaphysischer Perspektive Modell eins zu pr/iferieren. Es l~iBt sich nur nicht far alle verbindlich machen. Vorsicht ist daher angesagt, wenn man aus diesem unsicheren Befund vorschnell auf generelle Forschungsverbote oder umf/ingliche Erlaubnisse bis zum 35. Schwangerschaftstage schlieBen wollte. Die essentialistische Deutung des Beginns menschlichpersonalen Lebens mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle bietet uns zur Bewertung der Human-Gentechnik keinen sicheren Boden, obwohl sie dies behauptet. Daher erscheint es mir als sinnvoll, die eigene Unwissenheit einzugestehen und nach den mOglichen Folgen z.B. der Embryonenforschung far diese selbst, far die Eltern und die Idee eines humanen Zusammenlebens in der Gesellschaft zu fragen. Dann w/iren wir aus Vorsichtsgranden sittlich verpflichtet, artspezifisches menschliches Leben zu schtitzen, ohne zu wissen, ob es sich hier um eine menschliche Person handelt. Da wir im Zweifelsfalle far das zu scht~tzende Gut einzutreten haben, darf artspezifisches menschliches Leben mit seiner Anlage zu menschlich-personalem Leben nicht zum Objekt willkarlicher Eingriffe mit Todesfolge gemacht werden. Allerdings kOnnen Zweifel oder Unsicherheit keine kategorialen, schlechthin unbedingten und ausnahmslosen sittlichen Forderungen begranden. Daraber hinaus ist far die sittliche Bewertung der Anwendung der Biotechnologie auf den Menschen entscheidend, ob der Betroffene einem Eingriff bzw. einer Diagnose zustimmen kann oder nicht. Diese MOg-

lichkeit der Befragung haben wir bei Embryonen nicht, so dab hier nur Vernanfligkeitsaberlegungen greifen etwa der Art: K6nnte es der Embryo vernanftigerweise gewollt haben, dab die Diagnose oder dieser Eingriff an ihm vorgenommen wurde oder nicht. Dies ist kein messerscharfes Kriterium, aber auch im Hinblick auf ktinftige Generationen und leidensf/ihige Tiere sind wir in keiner anderen Situation und massen hier ebenfalls stellvertretend eine Entscheidung treffen. Zudem ist hinsichtlich Erbkrankheiten oder Gendefekten vor heimlichen naturalistischen Fehlschltissen zu warnen. Ein derartiger FehlschluB liegt immer dann vor, wenn aus einer Tatsachenbehauptung ohne weitere Begrandung oder Rackgriff auf einen sittlichen Grundsatz oder ein Werturteil eine Norm abgeleitet wird. Ein biologischer Metaphysizismus geht so vor. Daher darf nicht automatisch ein Gendefekt mit einer Erbkrankheit identifiziert werden, woraus der SchluB gezogen wird, diese Erbkrankheit gelte es zu verhindern, und zwar um jeden Preis. Zum ersten ist die Rede vom Gendefekt zumindest ungenau. Genetisch bedingte Krankheiten, meist Stoffwechselkrankheiten, beruhen darauf, dab ein EiweiB, ein Protein, nicht gebildet wird u n d e s daher zu FunktionsstOrungen im Zellverbund und bei grundlegenden Funktionen im ganzen Organismus kommt. Dies ist eine klare Tatsachenbeschreibung ohne Verwendung des Begriffes ,,Defekt", der ein negatives Werturteil impliziert und somit einem naturalistischen FehlschluB Vorschub leistet. Eine saubere Analyse mug sich nun fragen, welche Auswirkungen diese FunktionsstOrung auf das betroffene Individuum hat - wobei im Krankheitsbegriff immer noch subjektive Komponenten einflieBen - und ob sie leicht oder gravierend sind oder gar schon w/ihrend der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz danach zum Tode fahren. Auch die mOglichen Auswirkungen auf die Familie, in die ein Kind mit schweren FunktionsstOrungen hineingeboren wird, sind bei der Entscheidungsfindung zu beriicksichtigen. Geht man methodisch so vorsichtig vor, dann vermeidet man eine Diskussion im Sinne der Eugenik. Denn nicht jede genetisch bedingte FunktionsstOrung ist dann sittlich schlecht und so automatisch zu vermeiden. Zudem wird klar, dab jeder einer Eugenik zugrunde gelegte konstruierte Normalwert willkarlich ist und damit keine sittlichen Ansprache erheben kann.

Epilog

Diese Leitlinien der ethischen Bewertung der Gentechnologie bleiben in gewisser Weise formal und lassen damit einen Interpretationsspielraum bei der Bewertung zu. Und dies ist kein Zufall, ist doch nach m e i 575

nem Dafiirhalten der Ethiker far seine Ethik verantwortlich. Ethik ist dann verfehlt, wenn sie sich als neues Herrschaftswissen und damit als Spielart instrumenteller Vernunft etabliert, die Technologie steuern oder dem Wissenschaftler vorschreiben will, was dieser zu tun hat. Eine Ethik der Folgenbewertung ist eine Anleitung sowohl zur Rationalisierung des sittlichen Diskurses wie fiir die interdisziplin~ire Forschung zu spezifischen Fragestellungen im Rahmen der Biotechnologie. Die dann jeweils zu entwickelnden Orientierungsregeln, gewonnen durch die sachgerechte Anwendung der Grunds~itze auf konkrete Bereiche der Biotechnologie, miissen weiteren, eigenen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ethik ist m.E. dort fehl am Platze, wo sie einer IJkodiktatur Vorschub leistet oder der Forschung einen Freibrief fiir Willktireingriffe ausstellt, indem sie mit mathematischer Sicherheit glaubt angeben zu k0nnen, worin z.B. 0kologische Gerechtigkeit oder Human- und Sozialvertrfiglichkeit besteht. Dies jedoch scheint mir nicht zul~issig. Vielmehr ist angesichts von Unsicherheit geboten, grOi3ere Sch~iden mOglichst zu verhindern, im nicht-menschlichen Bereich ebenso wie in der Humangenetik.

Grunds/itze und Orientierungsregeln ethischer Bewertung der Gentechnik ein Versuch Auszugehen ist von folgenden sittlichen Grundst~tzen der Folgenbewertung: 1) Grundsatz der Uberparteilichkeit, der als Vernanftigkeit, Verhgiltnismdifligkeit, angemessene Vorsicht und Rticksicht auszulegen und als Gerechtigkeitsgrundsatz zu interpretieren ist; 2) Grundsatz der Personalitt~t und Menschenwarde im Sinne der Humanvertri~glichkeit. Folgende Orientierungsregeln k6nnen far die sittliche Folgenbewertung der Gentechnik herangezogen werden:

1. Im nichtmenschlichen Bereich 1.1. Bei der Wahl zwischen alternativen Folgenszenarien ist als einem Dringlichkeitskriterium in abgestufter Weise Riacksicht zu nehmen auf ktinftige Generationen, auf Tiere nach dem Grad ihrer Verwandtschaft zu uns bzw. der Organisation ihres Zentralnervensystems (Schmerzempfindlichkeit) und auf erhaltenswerte Kreisl~iufe in der Natur gem~il3 dem abgestuften Gleichheitsgrundsatz. 1.2. Gem~tl3 dem Verh~iltnism~il3igkeitsgrundsatz ist das Risikopotential durch eine technische Innovation zu vermindern, das Nutzenpotential zu vermehren. 1.3. Toxizit~it, Pathogenit~it und Umweltunvertr~ig576

lichkeiten durch Eingriffe in die DNS sind abzusch~itzen und verantwortungsbewul3t auszutesten. Besteht Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilung der Toxizit~it, Pathogenit~it oder Umweltvertr~tglichkeit von Organismen und Lebewesen, ist mit einer Freisetzung zumindest so lange zu warten, bis das Risiko angemessen abgesch~ttzt werden kann. 1.4. Zielgerichteter DNS-Austausch ist ungeregeltem zuf~illigem Gentransfer vorzuziehen, da er Vorhersagen erm6glicht. 1.5. Vorsicht ist angebracht wegen der Grenzen unserer Folgenabsch~ttzungen. Irreversible Sch~tden sind zu vermeiden. Reversible Entscheidungen haben vor irreversiblen Vorrang. 1.6. Sozialvertr~iglichkeit und eine angemessene Verteilung von Nutzen und Risiken sind gefordert. Nach der ersten Orientierungsregel sind hier auch in abgestufter Weise kilnftige Generationen und Tiere mit einzubeziehen. 1.7. Eine m6glichst umfassende Folgenabsch~itzung ist ein Gebot der Gerechtigkeit. 1.8. Bei gentechnisch ver~inderten Mikroorganismen sowie bei entsprechenden Pflanzen miissen Priafungen der Toxizit~it, Pathogenit~it und Umweltvertr~glichkeit vorgenommen werden. Potentielle Auswirkungen auf Ern~ihrung und Gesundheit auch zukiinftiger Generationen sind vorzunehmen. 1.9. Bei der Erzeugung transgener Tiere ist die Berficksichtigung der Schmerzf~ihigkeit der betroffenen Tiere zus~itzlich zu den anderen Kriterien unerl~il~lich. Auch die Gesundheit der Tiere ist ein entscheidendes Kriterium, und zwar aufgrund menschlicher Bediirfnisse und mit Rt~cksicht auf kianftige Generationen wie auf die betroffenen Tiere selbst. Letale und kranke Formen wie Chim~irenbildungen sind zu vermeiden. Tierversuche, die diesem Kriterium widersprechen, sind auf das unerl~131iche Mal~ zu beschr~tnken.

2. Bei der Anwendung am Menschen 2.1. Die Zustimmung der Betroffenen oder ihrer legitimen Vertreter ist erforderlich (Autonomie statt Heteronomie). 2.2 Artspezifisches menschliches Leben mit seiner Anlage zu individuell-personalem Leben ist angemessen zu respektieren. 2.3. Diagnose und Therapie miissen human- und sozialvertr~tglich sein, sie haben Humanit~it in der Gesellschaft zu fOrdern, nicht abzubauen. 2.4. Die Rede yon Gendefekten oder von Eugenik enth~ilt unterschwellige naturalistische Fehlschliisse. Vielmehr sind im Rahmen der genetischen Beratung, wo Entscheidungen sogar tiber embryonales menschliches Leben anstehen, die Folgen von genetisch bedingten FunktionsstOrungen abzusch~ttzen.

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diesern Fall kommt die Ethik-~ remission zu dem SchluB, 8 die mSglichen Folgen einer eisetzung in die Umwelt for Berst bedenklich angesehen rden m£1ssen.

J. Czichos

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[Directions of an ethic in genetic engineering: evaluation of an ethic for biotechnology].

A fundamentalistic point of view is for the evaluation of genetic engineering inadequate. Using ethics to evaluate the consequences is not valid for g...
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