Leitthema Chirurg 2014 · 85:289–298 DOI 10.1007/s00104-013-2618-5 Online publiziert: 30. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
B. Lembcke Medizinische Klinik, St. Barbara-Hospital, KKEL, Gladbeck
Divertikelkrankheit – Diagnostik und Klassifikation
Eine detaillierte Diagnostik ist bei der Divertikelkrankheit Grundlage einer differenzierten Therapie [1–4]. Sie erfasst 1. die individuell relevan te Situation im Spektrum der Diverti kulitis (kompliziert, unkompliziert), 2. grenzt divertikuläre Symptome gegenüber anderen (extra)intestina len Ursachen ab und berücksichtigt 3. – vor dem Hintergrund der Häu figkeit einer Divertikulose – die Koin zidenz mit anderen definierten Enti täten (z. B. mikrobielle Enteritis, Ko lonkarzinom). Diese Erkrankungen sind – ebenso wie seltenere Entitä ten (z. B. „polypoid prolapsing muco sal folds“ bei Divertikulose, die mes enteriale inflammatorische venook klusive Erkrankung oder die sog. di vertikuläre Kolitis/mit einer segmen talen kolitisassoziierten Divertikulo se [SCAD, „segmental colitis associa ted with diverticula“]) und eine pseu domembranöse Kolitis im divertikel tragenden linken Kolon – heute aber diagnostisch fassbar [5, 6]. Defizite bestehen dagegen in der Abgren zung des Reizdarms von der symp tomatischen Divertikulose (SUDD, „symptomatic uncomplicated diver ticular disease“) sowie bei mikrobio logischen Fakten zum regelhaften Anstieg vermeintlicher Divertikuliti sepisoden im Sommer und bei endo skopischen Befunden einer „mikro biellen“ Kolitis, da die Routinemik robiologie hier selten pathologische Befunde beinhaltet [7–9].
Anamnese und klinische Untersuchung Definitionsgemäß weist die asymptomatische Divertikulose keine Beschwerden auf. Sie beinhaltet jedoch ein erhöhtes Perforationsrisiko unter nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), Kortikosteroiden, Opiaten und bei Rauchern sowie ein erhöhtes Blutungsrisiko unter Acetylsalicylsäure (ASS) und NSAR. Eine stattgehabte Divertikulitis kann für Komplikationen (Perforation) unter Immunsuppression bedeutsam sein. Die Anamnese soll verdeutlichen, ob Beschwerden durch Divertikel vorliegen und ob Komplikationen durch die Divertikulose zu erwarten sind [10].
Differenzialdiagnose SUDD – Reizdarm Die symptomatische Divertikulose (SUDD) ist klinisch nicht vom Reizdarmsyndrom (RDS) abzugrenzen. Beides sind Erkrankungen, keine Befindlichkeitsstörungen. Labor (C-reaktives Protein,CRP), Endoskopie, Ultraschall (US), Computertomographie (CT) sind dabei unauffällig, auch wenn mikromorphologische inflammatorische und neuroendokrine Veränderungen bei beiden Entitäten nachweisbar sind, sodass eine mikrobiell getriggerte viszerale Hypersensitivität gemeinsamer Nenner sein kann [8, 11, 12]. Diskret erhöhte Calprotectin-Konzentrationen im Stuhl bei der SUDD [13] sind weder hinreichend sensitiv noch spezifisch (pathologischer Befunde u. a. bei Infektionen) und nicht hinreichend diskriminierend.
SUDD-Patienten äußern Schmerzen im linken unteren Quadranten, oft rezidivierend, gelegentlich anhaltend, die dem Bild des RDS entsprechen; die Schmerzschwelle im Rektum ist herabgesetzt [14]. Eine derbe Walze als palpable Resistenz oder objektive Hinweise auf eine Entzündung fehlen. RDS-Patienten sind eher jünger, Patienten mit divertikuloseassoziierten Beschwerden eher älter; auch scheinen psychische Komorbiditäten häufiger beim Reizdarm vorzukommen. Entsprechend sind bei Patienten mit einer Divertikulose die Rom-II-Kriterien eines RDS häufiger vorhanden (nicht aber bei der Divertikulitis; [15]). Ein Indiz gegen eine entzündliche Erkrankung und für funktionelle bzw. psychosomatische Beschwerden, ist das Schließen der Augen bei der abdominellen Palpation („closed eye sign“) [16]. Beschwerdepersistenz nach Sigmaresektion aufgrund einer Divertikel erkrankung wird in 22–25% beschrieben [17, 18]. Ursächlich hierfür ist neben Verwachsungsbeschwerden als Operationsfolge insbesondere ein RDS, das die Operationsindikation begünstigt hat. Entsprechend sollte nicht von einer Divertikulitis gesprochen werden, wenn nicht durch bildgebende Verfahren entzündliche Veränderungen der Divertikel belegt sind [19].
Divertikulitis – Definition Als akute Divertikulitis wird eine primäre Entzündung von Pseudodivertikeln des Kolons und angrenzender Strukturen bezeichnet; von einer komplizierten DivertiDer Chirurg 4 · 2014
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Leitthema Tab. 1 Klassifikation der Deutschen Leitlinienkonferenz der DGVS und DGAV Typ 0 Typ 1
Asymptomatische Divertikulose Unkomplizierte Divertikulitis
Typ 1a
Typ 2 Typ 2a
Divertikulitis ohne Umgebungsreaktion Divertikulitis mit phlegmonöser Umgebungsreaktion Komplizierte Divertikulitis Mikroabszess
Typ 2b Typ 2c Typ 2c1 Typ 2c2 Typ 3
Makroabszess Freie Perforation – Eitrige Peritonitis – Fäkale Peritonitis Chronische Divertikelkrankheit
Typ 3a
Symptomatische unkomplizierte Divertikelkrankheit (SUDD) Rezidivierende Divertikulitis ohne Komplikationen Rezidivierende Divertikulitis mit Komplikationen Divertikelblutung
Typ 1b
Typ 3b Typ 3c Typ 4
Zufallsbefund; asymptomatisch. Keine Krankheit Divertikelbezogene Symptome; Entzündungs zeichen, Bildgebung mit spezifischem Befund Entzündungszeichen (Labor, Klinik), entzündetes Divertikel Phlegmonöse Divertikulitis mit Wandverdickung, Peridivertikulitis Gedeckte Perforation, kleiner Abszess (≤1 cm); minimale parakolische Luft Parakolischer oder mesokolischer Abszess Freie Perforation, freie Luft/Flüssigkeit Generalisierte Peritonitis Rezidivierende oder anhaltend symptomatische Divertikelkrankheit DD Reizdarm; Entzündungszeichen optional (Divertikulosenachweis) Entzündungszeichen, entzündetes Divertikel Fistel, Stenose, Konglomerat
DD Differenzialdiagnose, DGAV Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie, DGVS Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten.
kulitis wird gesprochen, wenn dabei eine Perforation, eine Fistel oder ein Abszess vorliegt.
Neue Klassifikation der Divertikelkrankheit Das Ziel einer viszeralmedizinisch anwendbaren Klassifikation der Divertikelkrankheit muss heute darin bestehen, F die unterschiedlichen Verlaufsformen unabhängig von einer Operation zu erfassen und F eine Stratifizierung für unterschiedliche Prognosen und Therapieformen (ambulant/stationär; konservativ/ operativ)bei der Erstdiagnose sowie rekurrierenden Verläufen zu ermöglichen. Daher soll die Diagnose einer Divertikelkrankheit leitliniengemäß eine Klassifikation beinhalten. Die gemeinsame Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinund Viszeralchirurgie (DGAV) empfiehlt die künftige Verwendung einer neuen
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Klassifikation (. Tab. 1), die den genannten Anforderungen Rechnung trägt. Kernkriterien sind dabei F die Beschwerdecharakteristik, F der Nachweis der Entzündung und F das Ergebnis der Bildgebung (nicht die Art des Nachweisverfahrens; [10]).
Divertikulitis – Basisdiagnostik Die Untersuchung bei Verdacht auf Divertikulitis beinhaltet die Palpation, Perkussion und Auskultation des Abdomens, eine rektale Untersuchung, die Temperaturmessung sowie die Bestimmung der Leukozyten, des CRP und eine Urinanalyse, zudem beim klinischem Bild einer akuten Divertikulitis eine zeitnahe Befundkontrolle. Akut einsetzende, lokalisierte, zunehmende Schmerzen im linken Unterbauch in Verbindung mit pathologischen Entzündungsparametern sind typische Symptome der Divertikulitis („linksseitige Appendizitis“; [19–22]). Da die Entzündungsparameter als Indikator eines abszedierenden/komplizierten Verlaufs oft erst im Verlauf ansteigen, ist die „48-h-Regel“ mit Palpations-, Temperatur- und CRP-
Kontrolle in diesem Zeitraum im Interesse der Patientensicherheit [23].
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Die „48-h-Regel“ ist zu beachten Die Erfassung dieser Parameter ist oft unvollständig. So zeigt eine Praxisstudie, dass bei der 52,4% der Patienten die Temperatur (Leukozyten 65,5%) nicht erfasst wurde; bei >75% der ambulant als Divertikulitis apostrophierten Befunde fehlte mindestens eines der Kriterien Schmerzen im linken Unterbauch, Fieber, Leukozytose [24]. Eine Gewichtung von Alter >50 Jahre, vorausgehenden Episoden, Schmerzzunahme bei Bewegung, CRP >50 mg/l, Druckschmerz, Schmerzlokalisation im linken Unterbauch und Fehlen von Erbrechen als typischen Befunden einer Divertikulitis erreicht eine „accuracy“ von 86% [25], lässt aber außer Acht, dass 14% der Divertikulitiden rechtsseitig auftreten und eine (komplizierte) Divertikulitis zunehmend auch bei Patienten