Editorial Z Gerontol Geriat 2014 DOI 10.1007/s00391-014-0652-7 © Springer-Verlag 2014

M. Gogol Krankenhaus Lindenbrunn, Klinik für Geriatrie, Coppenbruegge

Medikamentöse Therapie im Alter Medikamente sind ein zentraler Bestandteil der medizinischen Therapie. Ein grundsätzliches und bis heute nicht zufriedenstellend gelöstes Problem ist die Situation der Polypharmazie. Sie tritt häufig, aber nicht ausschließlich, im Kontext einer Multimorbidität auf [1], sodass sich mitunter der Gedanke einer Polypragmasie aufdrängt. Häufig ist zu beobachten, dass die einzelnen Disziplinen in der Medizin im Versuch einer maximalen Therapie und eines angenommenen maximalen Outcomes scheinbar unkritisch Empfehlungen aus Leitlinien anwenden, die das Risiko eines negativen Outcomes eher erhöhen statt vermindern [2, 3, 4]. Die Problematik der Extrapolation von Studienergebnissen auf nichtuntersuchte Populationen [5] sowie auch die Forderung nach Einschluss alter und multimorbider Patienten in klinischen Studien [6, 7] sind wohl bekannt. Eine bisher inadäquate Berücksichtigung bei der Erstellung von Leitlinien hat der Umstand gefunden, dass häufig Forschungsergebnisse nicht publiziert werden und so die vorhandene Evidenz zusätzlich verzerrt ist [8]. Heutzutage ist eine Vielzahl von Tools publiziert, die geeignet sind, die medikamentöse Therapie des alten Menschen zu verbessern. Dazu zählen die Beers-Liste [9], die Kriterien der Screening Tool to Alert Doctors to the Right Treatment (START, [10]) und Screening Tool of Older Persons‘ potentially inappropriate Prescriptions (STOPP, [11]) sowie die deutschen Listen Fit forThe Aged (FORTA, [12]) und Potentially Inappropriate Medications in the Elderly (PRISCUS, [13, 14]). In diesem Kontext beschäftigen sich Eckardt et al. in dieser Ausgabe der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie mit dem Thema der Therapiesicherheit. Na-

turgemäß müssen viele Fragen noch offen bleiben, doch zeigt die gerontologische Forschung Wege auf, Risiken zu identifizieren [15][1617] und konkrete Verfahrenswege zu entwickeln [10, 11, 12, 13, 14, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24]. Eine zentrale Forderung muss für die Zukunft sein: D Die Pharmakotherapie des

älteren Menschen muss besser evaluiert werden. Ist Polypharmazie immer schlecht [25] oder sind bestimmte Medikamentengruppen primär diejenigen, die der verordnende Arzt in den Fokus nehmen soll [26, 27, 28]? Hierbei sind die Stoffe von hohem Interesse, die direkt und indirekt über das Zentralnervensystem wirken. In einer in der vorliegenden Ausgabe publizierten Analyse von zentralwirksamen Medikamenten und kognitivem Assessment fanden Gogol et al. nur für Sedativa einen negativen Zusammenhang. Andererseits erscheint es aufgrund epidemiologischer und empirischer Daten plausibel, sich gerade auch mit den pharmakologischen Grundlagen dieser Medikamente zu beschäftigen, da die Wissensbasis weiterhin gering ist [29]. Frohnhofen et al. beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit der medikamentösen Therapie der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung („chronic obstructive pulmonary disease“, COPD). Die COPD zeigt nicht nur eine Zunahme bezüglich Inzidenz und Mortalität, sondern das Wissen über COPD i. Allg. ist noch sehr lückenhaft [30], während die bestehenden Therapieempfehlungen sehr differenziert erscheinen [31]. Die COPD stellt auch deshalb ein faszinierendes Forschungsgebiet

für die Geriatrie dar, weil die Interaktionen mit typisch geriatrischen Syndromen wie Sarkopenie und geringer Muskelkraft [32] sowie kognitiver Einschränkung [33] direkten Einfluss auf eine erfolgreiche medikamentöse Therapie haben. Stegemann et al. gehen in ihrer Arbeit der Frage nach, ob und wie die pharmazeutische Industrie ihr bisheriges Business-Modell verändern sollte, um die pharmakologische Therapie des alten Menschen zu verbessern. Dies ist erfreulich, denn an dieser Stelle trifft sich das Interesse des behandelnden Arztes nach einer rationalen Wissensbasis für oder gegen eine Therapie mit der Fragestellung der forschenden Industrie: Wie kann, wie soll zukünftig eine Produktentwicklung aussehen, die die Fähigkeiten, Bedürfnisse, die Effektivität und die Sicherheit [34, 35] des älteren Patienten angemessen und von Anfang an einschließt? Das Wissen um die Fragen für eine bessere, sichere und effektive medikamentöse Therapie beim alten Menschen ist bekannt; das Wissen um ein mögliches Wie und Wann wächst kontinuierlich mit dem Verständnis und den Bedingungen wie den Interaktionen von Multi- und Komorbidität [36, 37]. Hier bedarf es der kontinuierlichen praktischen und theoretischen Weiterentwicklung. Viele methodische Fragen sind schon beantwortet [38, 39]. Das aktuelle Prinzip der Individualisierung einer Therapie [40] gilt für den alten Menschen ebenso und ist anwendbar [41]. Viele Aspekte bezüglich relevanter Outcome-Kriterien für den älteren Menschen sind auf dem Weg der Präzision, insbesondere der Kriterien der Lebensqualität [42] und des funktionelle Outcome [43, 44]. Offene Fragen bleiben: Wie kann es gelingen, in Zukunft Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2014 

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Editorial mehr ältere Menschen in Studien aufzunehmen – die aktuellen Analysen sind für eine evidenzbasierte Medizin frustrierend [45, 46]. Wie kann Prognose besser definiert werden [47] und ist die Interaktion von Krankheit, Komorbidität und geriatrischen Syndromen [48] gleichförmig oder gibt es unterschiedliche Cluster? Besteht eine Notwendigkeit für eine Genderorientierte Forschung [49] und wird Adhärenz weiter eine immerwährende Herausforderung bleiben [50]? Trotz allem, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben, warten viele wichtige Forschungsfelder noch auf richtige Fragen und Antworten.

Korrespondenzadresse M. Gogol Krankenhaus Lindenbrunn, Klinik für Geriatrie Lindenbrunn 1, 31863 Coppenbruegge [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlininen Interessenkonflikt.  M. Gogol gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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