1975, 100. Jg.

Heyck: Medikamentöse Therapie der Migräne und des Cluster-Kopfschmerzes

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Nr. 23, 6. Juni

Aktuelle Therapie

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 1293-1296 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die medikamentöse Therapie der Migräne und des Cluster-Kopfschmerzes Die Migränedisposition ist eindeutig genetisch verankert; die Vererbungsrate beträgt rund 60% innerhalb des ersten Verwandtschaftsgrades. Die als multifaktoneu vermuteten genbedingten Ursachen können thera: peutisch nicht angegangen werden, somit ist die Migräne auch nicht auf die Dauer heilbar. Jede Form der Therapie kann deshalb nur symptomatisch sein, auch bedarf sie der Wiederholung der Maßnahmen, die sich als wirksam erweisen. Bei voller Ausnützung der verschie-

H. Heyck

denen Möglichkeiten ist immerhin bei etwa 80% aller Patienten ein therapeutischer Erfolg erreichbar. Hier erhebt sich die Frage nach der Notwendigkeit verschiedener Methoden und nicht allein jener einzigen und besten, die im kontrollierten Blindversuch an der Spitze der Erfolgsquoten steht. Daß kollektive Testverfahren nur begrenzten Aussagewert haben, beruht auf den zahlreichen akzidentellen Faktoren, welche die Manifestation der Veranlagung beeinflussen, von mdi-

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Deutsche Medizinische Wochenschrift

viduum zu Individuum verschieden und für den Erfolg des jeweiligen Medikaments oder sonstiger Maßnahmen mitbestimmend sind. Ich nenne hier nur den Zyklus der Frau, Empfindlichkeiten sensorischer oder alimentärer Natur, in der Person oder Umgebung verankerte psychische Faktoren, Blutdruck und Orthostase, Schlaf rhythmus, Gebrauch von Genußmitteln, Medikamenten oder Ovulationshemmern, nicht zuletzt Alter des Patienten und bisherige Dauer des Leidens. Somit ist stets nicht nur das Symptom, sondern oft vielmehr die Person mit Migräne zu behandeln. Dazu kann nur ein individuell anpaßbares, variables Instrumentarium dienlich sein. Grundsätzlich zu unterscheiden ist die Akuttherapie des Anfalls von den Methoden der Prophylaxe. (Intervall- oder Langzeitbehandlung), welche das Auftreten der Hemikranien verhindern oder zumindest in ihrer Häufigkeit bzw. Intensität mindern. Das Postulat der individuellen Handhabung gilt vor allem für diese Behandlungsform. Sind die Migräne-Anfälle selten, so wird man sich auf die Akutbehandlung (Anfallskupierung) beschränken können; treten sie in häufigerer Wiederholung auf, sind die prophylaktischen Kurbehandlungen in erster Linie indiziert. Genaue Regeln lassen sich hier nicht aufstellen, da dafür nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die jeweilige Schwere des Migräne-Anfalls mitspricht. Meist muß man beide Therapieformen vorsehen, weil die Kurbehandlungen selten die Anfälle gänzlich zu unterdrücken vermögen.

Schwebegefühle). Diese sind in neueren Präparaten reduziert durch Zugaben von Barbituraten, Belladonna (Cafergot-PB) oder Antihistaminika (Avamigran®), was auch als wirksam gegen Erbrechen gedacht ist. Eine gute bis befriedigend rasche Symptombeseitigung ist damit in 70 bis 80% der Fälle zu erzielen. Anderen Präparaten sind, um den Effekt noch sicherer und ausdauernder zu gestalten, Phenazonderivate zugefügt, was jedoch nach praktischer Erfahrung nicht viel mehr einbringt. Die genannten Nebenwirkungen finden sich, wenngleich weniger, auch hier. Bei Antihistaminzusatz ist oft auch mit Schläfrigkeit zu rechnen. Eine weitere Verbesserung bringt nach eigener und anderer Erfahrung das Präparat Migrexa® mit hoher Wirkungszuverlässigkeit und einem Minimum an Nebenerscheinungen, so daß ich es seit 10 Jahren vorzugsweise verordne. Aus letzterem Grunde wird es auch bei Kindern empfohlen. Migrexa-Dragees enthalten 1 mg Ergotamin, 50 mg Coffein, 100 mg einer Barbital-Aminophenazon-Molekülverbindung und 5 mg pangamsaures Natrium. Bei stärkerer Nausea oder Erbrechen sind grundsätzlich Suppositorien zu verordnen, welche meist die doppelte Dosis eines Dragées enthalten. Für Kinder unter 12 Jahren können diese geteilt (zerschnitten) werden. Es wird auch stets eine größere oder kleinere Gruppe von Patienten geben, die auf eines der genannten Präparate wenig und dafür auf ein anderes besser anspricht. Kriterien der Vorwahl sind hier kaum aufzuzeigen, nderung der Verschreibung ist die einzige Lösung.

Anfaliskupierung

Intervalibehandlung

Viele Migräniker mit selteneren und leichteren Hemikranien behelfen sich befriedigend mit freiverkäuf lichen Analgetika, was erst bedenklich ist bei täglichem Ge-

Die hier zur Verfügung stehenden Präparate sind ausgesprochen individuell zu handhaben. Kuren mit prophylaktischer Wirkung bedingen eine tägliche regelmäßige Medikation unabhängig vom Befinden des Patienten, im allgemeinen über wenigstens 3 Monate. Da deren Verträglichkeit unterschiedlich ist, sind initial möglichst die harmloseren Mittel zu wählen. Die folgende Nennung entspricht dieser Reihenfolge. Dihydergot® (DHE = Dihydroergotaminmethansulfonat). Seine Wirkung auf die Gefäße ist ähnlich der des Ergotamins, aber milder, so daß es im Unterschied zu letzterem keinen Ergotismus und praktisch keine oxytocischen Effekte verursacht. Erwachsenen kann man bis zu 5 mg täglich als Dauerdosis geben, dennoch ist es während Schwangerschaften zu meiden. DHE ist das Mittel der Wahl bei Kindern und Jugendlichen, da hier Migränen häufig mit orthostatischen Symptomen bei labilen oder niedrig liegenden Blutdruckwerten einhergehen. Solches kann auch bei Erwachsenen der Fall sein. Am besten dosiert man in den ersten 3 Wochen zweimal 1 Tablette Dihydergot retard, später nur noch 1 Tablette nüchtern frühmorgens. Geringen oder keinen Erfolg sieht man bei schon viele Jahre bestehenden Leiden mit häufigem Gebrauch ergotaminhaltiger Akutpräparate. Hier kommt das mildere DHE nicht mehr an. Hydergin®. Das zuletzt Gesagte gilt auch für dieses Präparat, eine Mischung von Dihydroergocristin, Dihydroergocornin und Dihydroergokryptin, wobei Dihydro-

brauch mit der Gefahr des steigenden Abusus, welcher dann selbst zur Quelle von Kopfschmerzen wird, abgesehen von anderen Schäden (Phenacetin-Niere). Bei Patienten, welche den Arzt aufsuchen, sind diese einfachen Mittel meist untauglich und müssen durch migränespezifische Präparate ersetzt werden, die Ergotamin enthalten. Ergotamin allein ist nur parenteral ausreichend wirksam (0,5 bis 1,0 mg Firgotamintartrat = Gynergen intramuskulär, niemals intravenös!). Gleiches vermag auch Dihydergot® 1 mg, welches langsam intravenös gegeben wird. Diese Mutterkornalkaloide haben keine analgetischen Eigenschaften. Der auch als a-Blocker wirkende spezifische Effekt besteht darin, daß die den Migräneschmerz verursachende Dysregulation der Gefäßperipherie (Spasmen neben Erschlaffung und arteriovenöse Shunts) aufgehoben wird. Praktische Umstände hindern meist, daß die frühzeitig ideal wirkende Injektionsbehandlung zur Anwendung gelangt. Der dafür in Betracht kommende Kompromiß sind enterale Ergotaminpräparate mit Coffein. Die im einfachen Cafergot® verwirklichte Kombination fördert die rasche Resorption des Ergotamins, ein Synergismus ist ebenfalls zu vermuten. Andererseits führt diese Kombination zum Teil auch zu Nebenwirkungen (gastrointestinal, Herzsensationen, Tachykardien, Erregung,

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ergocristin der wesentliche Bestandteil im Sinne angiolytischer und zentral sedierender Eigenschaften ist. Damit erzielt man gute Resultate bei Migränen älterer Patienten mit eher über der Norm liegenden Blutdruckwerten, ferner solchen, die zu psychischen Spannungen tendieren. Dosierung anfangs dreimal 1 mg täglich, nach 2-3 Wochen Reduktion auf die Hälfte (Blutdruckkontrollen). Angriffspunkt dieser Präparate ist das Gefäßsystem. Bei Beachtung der genannten Indikationskriterien sind mit solchen Kuren gute Erfolge bei etwa 7O% der Behandelten zu verzeichnen. Die Wirkung setzt meist erst nach 3-4 Wochen ein, hält aber lange an, auch nach Beendigung der Kur. Schlechter sind die Ergebnisse bei ausgeprägten menstruellen Migränen, weitgehend negativ bei den meist schweren klimakterischen Formen. Axeen®. Es handelt sich um ein nicht hypnotisch wirkendes Barbitursäurederivat', dessen Angriffspunkt im Zentralnervensystem anzunehmen ist, welches in der Kausalkette der Pathogenese der Migräne sicherlich der primäre Ort der Störung ist, worauf die oft zu findenden Dysrhythmien im EEG der Migräniker hinweisen. Axeen ist in der vorgeschriebenen Dosierung völlig nebenwirkungsfrei und oft erfolgreich gerade in jenen Fällen, bei denen die hydrierten Mutterkornalkaloide versagen, unabhängig davon, ob das EEG zerebrale Dysrhythmien zeigt oder nicht. Die besten Resultate sieht man auch hier bei Jugendlichen, weniger bei inveterierten Formen. Die Wirkung tritt relativ rasch ein, ist aber weniger anhaltend. Pizotifen. Unter der Handeisbezeichnung Sandomigran® (früher BC 105 Sandoz) verfügen wir seit neuem auch in Deutschland über ein trizyklisches, dem Cyproheptadin ähnliches polyvalentes Antiaminikum. Es zeichnet sich durch Hemmwirkung auf die verschiedensten biogenen Amine aus, welche bei der Pathogenese der Migräne vermutlich eine Rolle spielen. Eingehende Erprobungen seit 1967 zeigen an summarischen Testgruppen gute Wirkung bei 50 bis 60% der Behandelten, das heißt Anfalisreduktion auf die Hälfte und mehr bei Verordnung von zwei- bis dreimal 0,5 mg, wobei meistens nach einigen Wochen eine Erhaltungsdosis von einmal 0,5 mg genügt. Die Verträglichkeit ist gut, abgesehen von sedativen Wirkungen, die anfangs zum Teil Schläfrigkeit verursachen. Ähnlich dem Cyproheptadin ist häufig Appetit- und Gewichtssteigerung zu verzeichnen, vornehmlich bei Frauen. Daraus folgert auch eine gezieltere Anwendung bei unruhigen Patienten und solchen, bei denen einer Gewichtssteigerung nichts eutgegensteht. Soweit ich bei eigener Verordnung an bisher 53 Patienten erkennen kann, resultiert in solchen Fällen ein noch besserer Erfolgsquotient als bei wahlloser Verordnung. Auch inveterierte Migränen sprechen auf die Therapie gut an. Methysergid (Deseril® retard). Es ist ein ausgeprägter Serotoninhemmer, doch basiert die Wirkung dieses Lysergsäurederivats auf gefäßaktiven, vorwiegend vasokonstriktorischen Eigenschaften. Hervorzuheben ist das '

S-Allyl-5-(2-hydroxy-propy})-barbitursaure

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rasche Einsetzen der Wirkung. Der Quotient guter Erfolge liegt bei 65%. Hinderliche initiale Nebenwirkungen sind vor allem gastrointestinaler Art, seltener Schwindel, deren Häufigkeit von etwa 20% durch einschleichende Dosierung und Einnahme stets nur nach den Mahlzeiten reduziert werden kann. Eigenes Schema: 3 Tage dreimal '/4 Tablette, 3 Tage zweimal 1/ Tablette, 3 Tage dreimal 1/2 Tablette bis zur vollen Dosis von zweimal 1, seltener dreimal 1 Tablette pro Tag. Das Absetzen ist noch protrahierter vorzunehmen, um rasches Wiederauftreten der Migränen zu vermeiden. Öfters hindern auch spätere Nebenerscheinungen (Wadenschmerzen durch Gefäßspasmen, Haarausfall, Depressionen) die Weiterführung der Kur. Die gelegentlich beobachtete retroperitoneale Fibrose läßt sich bei Einhaltung der Dosierungsvorschriften und Beachtung der Unterbrechung der Kuren nach spätestens 4 Monaten sowie der, angegebenen Kontraindikationen vermeiden. Die genannten Schwierigkeiten machen es ratsam, Deseril nur hei schweren und sonst therapieresistenten Migränen zu verordnen. Hormone. Allgemein zeigen Hormone wenig Nutzen. Der Gebrauch von Ovulationshemmern ist nach meiner Erfahrung hei 80% der Patientinnen ohne Einfluß auf die Migräne. Bei den iibrigen 20% iiherwiegen Verschlimmerungen gegeniiher den gelegentlich zu beobachtenden Besserungen. Treten erstmals unter Ovulationshemmern Migçänen auf oder verschlimmern sie sich, so müssen die Mittel abgesetzt werden. Die häufigere Entstehung zerebraler Thrombosen bei Migränikerinneii unter dem Einfluß von Ovulationshemmern ist erwiesen. Untersuchungen zeigen auch, daß der Östrogengehalt nicht das allein Entscheidende ist. Die einzige Anwendung von Hormonen, und zwar des Testosterons, ist bei den schweren klimakterischen Migränen gegeben, am besten durch Primodian® (Vorsicht vor Oberdosierung).

Cluster- Kopfschmerz

Zu dessen medikamentöser Therapie fehlen größere Erfahrungsstatistiken. Bisher sind keine anderen Prinzipien gefunden als die Anwendung solcher Medikamente, die auch bei Migräne wirken. Aufgrund des Auftretens in Schüben mit unberechenbaren Spontanremissionen werden Erfolge oft vorgetäuscht. Beispiel dafür ist die Illusion des Nutzens langwieriger Histamindesensibilisierungen. Die besten Ergebnisse wurden bisher mit Deseril retard in höherer Dosierung (drei- bis viermal 1 Tablette pro Tag) erzielt. Nimmt man Erfahrungen über mehrere Schühe zum Maßstab, zeigt sich ein Versagen hei der Hälfte der Fälle (16 von 30 eigenen Patienten). Zusätzliche Verordnung von einfachem Cortison oder ACTH-Depot (Synacthen®) oder von Pheny(Zentropil®) kann noch zu weiteren Erfolgen führen. tom Pizotifen ist vereinzelt wirksam. Prinzipiell hilft auch Ergotamin, jedoch ist die enterale Anwendung mit ihrem langsamen Wirkungseffekt angesichts des paroxysmalen kurzdauernden Charakters der Anfälle illusorisch. Prophylaktisch sind enterale Gaben von Ergotaniin (Gynergen) zumeist unzureichend. Die Empfehlung von

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w. j. Geeraets, R. Geeraets: Laugenverätzungen des Auges und ihre ISehandlung

Symonds, den Patienten bis dreimal täglich 0,25-0,5 g Gynergen selbst injizieren zu lassen, stößt auf Schwierigkeiten und Bedenken. Statt dessen sah ich bei Patienten, denen kein anderes Mittel half, recht befriedigende Ergebnisse bei der Anwendung der Ergotamin-Medibaler®. Die tracheobronchiale Resorption gilt als rascher als die intramuskuläre, und die Beobachtungen beim Cluster-Kopf schmerz bestätigen dies. Die jeweiligen Anfälle können meist in wenigen Minuten kupiert werden. Die hier so nützliche Methode ist nicht auf die Therapie der gewöhnlichen Migräne übertragbar, bei der ein län-

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ger anhaltendes und nicht stoßweises Wirkungsspektrum erforderlich ist und Uberdosierung die notwendige Folge wäre. Auch nimmt nur der Cluster-Kopfschmerz-Patient den schlechten Geschmack des inhalierten Ergotamins gern in Kauf. Literatur Heyck, H.: Der Kopfschnierz. Differentialdiagnostik, Pathogenese und Therapie für die Praxis. 4. Aufl. (Thieme: Stuttgart 197S).

Prof. Dr. H. Heyck I Berlin 37, Clayallee 249

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[Drug therapy of migraine and cluster headache].

1975, 100. Jg. Heyck: Medikamentöse Therapie der Migräne und des Cluster-Kopfschmerzes I 2.93 Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt...
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