Originalien Z Gerontol Geriat DOI 10.1007/s00391-015-0888-x Eingegangen: 9. Januar 2015 Angenommen: 9. März 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

L. Meyer Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 1, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

Alte Inhaftierte in Justizvollzugsanstalten Herausforderung für die Gesundheitssicherung

Der durch den demografischen Wandel bedingte Anstieg der Anzahl älterer Menschen in der Gesellschaft setzt sich auch im Strafvollzug fort [3, 6]. Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der Strafgefangenen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, zwischen 1994 und 2005 verdoppelt. Im Jahr 2005 waren dies 1767 von insgesamt 63.183 Personen, zum Stichtag 31.03.2013 waren es bereits 2214 [8]. Zieht man, was mit einem beschleunigten Alterungsprozess begründet werden kann [1], die Altersgrenze im Strafvollzug ab dem vollendeten 50. Lebensjahr, betrug der Anteil der älteren Inhaftierten an der bundesweiten Gesamtbelegung im Strafvollzug 2013 13,7 % (n = 7737), darunter waren 7214 Männer (93 %; [8]). Wie stark dieser zukünftig steigen wird, hängt auch von kriminalpolitischen Entscheidungen ab, wie z. B. Veränderungen in der Registrierung von Kriminalität und deren Sanktionierung [5]. Die zunehmende Zahl älterer Inhaftierter stellt den Strafvollzug vor vielfältige Herausforderungen. Die adäquate gesundheitliche Versorgung spielt dabei eine zentrale Rolle. Denn, „… for a growing number of older adults in countries around the world, prisons occupy an important place on the health care continuum“ [19]. Gerade für den Staat besteht eine besondere Fürsorgepflicht und Verantwortung, da der Inhaftierte durch den Freiheitsentzug in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht [9]. Zum Beispiel sind Gefangene des geschlossenen Vollzugs nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert, und ihre gesundheitliche Ver-

sorgung obliegt dem Justizvollzug. Darüber hinaus haben Gefangene (intramurale Gruppe) aufgrund sozialer und gesundheitlicher Benachteiligungen, die oft schon vor Haftantritt bestehen, verglichen mit der allgemeinen Bevölkerung (extramurale Gruppe) häufig schlechtere Gesundheitschancen [13]. Generell gilt: „All aspects of prisoners’ lives in prison affect their health“ [4]. Studien aus den USA belegen, dass bei älteren Inhaftierten alterstypische und chronische Erkrankungen weit verbreitet sind und v. a. früher als in der übrigen Bevölkerung auftreten. So haben fast die Hälfte der über 50-Jährigen in US-Gefängnissen mit chronischen körperlichen Leiden zu kämpfen [10]. Nicht zuletzt gestaltet sich auch die Entlassung von Inhaftierten, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr allein wohnen können, schwierig [12]. Für Deutschland liegen bisher nur wenige und bruchstückhafte Daten zum Gesundheitszustand äl-

5 oder mehr Erkrankungen

100 90

terer Inhaftierter vor [17]. Unabhängige Berichte, wie beispielsweise des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (European Committee for the Prevention of Torture and Inhumane or Degrading Treatment or Punishment, CPT, [11]), sind in der Beleuchtung von Teilbereichen zwar bedeutsam, können aber nicht die Lücken schließen, die durch das Fehlen einer systematischen Forschung und Dokumentation zur gesundheitlichen Situation der Inhaftierten bestehen [9]. Unter Rückgriff auf die gerontologische Forschung und entsprechende Erkenntnisse zur generationenspezifischen Gesundheitsversorgung [16] kann angenommen werden, dass gerade bei älteren Inhaftierten, aufgrund des steigenden Risikos der Multimorbidität, eine spezielle Versorgungsanforderung besteht. Eine laufende Studie der Autorin des vorliegen-

0 –1 Erkrankung

2– 4 Erkrankungen

8 27

80 Anteil (%) der Erkrankungen

Hintergrund und Fragestellung

70 60 50

52 35

40 30 20

38

40

10 0 Intramurale Gruppe (RLP 2012) Extramurale Gruppe (DEAS 2008)

Abb. 1 9 Vergleich der Prävalenz von Mehrfacherkrankungen in der intra- und extramuralen Altersgruppe der 55- bis 69-jährigen Männer, Summenwert selbstberichteter Erkrankungen (gerundet in Prozent). DEAS Deutscher Alterssurvey; RLP RheinlandPfalz. Quelle; extramural: [15], Tabelle A4-3; intramural: Erhebung RLP 2012 (n = 110)

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Originalien

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1. Bluthochdruck

41 37

2. Gelenkverschleiß (Arthrose)

35 29

3. Erhöhte Blutfette (Cholesterin)

29 16

4. Rheuma/Arthritis

14 21

5. Diabetes

13 17

6. Herzinsuffizienz

9 23

7. Durchblutungsstörungen/Beine

9 14

8. Herzinfarkt

8 10

9. Krebserkrankungen

6 16

10. Chronische Lungenerkrankungen 5 0

5

10

Stichprobe

Intramurale Gruppe (RLP 2012) Extramurale Gruppe (DEAS 2008)

15 20 25 30 35 Anteil (%) der Erkrankungen

40

45

Abb. 2 8 Prävalenz der 10 häufigsten chronischen Erkrankungen der 55- bis 69-jährigen Männer in der extramuralen Gruppe im Vergleich zur intramuralen Inhaftiertengruppe. Quellen: extramural: [15], Tabelle A4-1 Bundesgebiet; intramural: Erhebung RLP 2012 (n = 113)

den Beitrags untersucht den Gesundheitszustand älterer Inhaftierter auf Grundlage einer Vollerhebung der männlichen Inhaftierten in Rheinland-Pfalz und leistet somit einen Beitrag zur Schließung der in Deutschland bestehenden Forschungslücke. Im Folgenden werden relevante Ergebnisse aus dem quantitativen Teil dieser Untersuchung vorgestellt.

Methode und Untersuchungsablauf Die Daten der Vollerhebung im rheinland-pfälzischen Strafvollzug wurden auf der Grundlage eines anonymisierten Fragebogens zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, zum physischen und psychischen Gesundheitszustand, zur Pfle-

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Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

ausgeteilt sowie nach spätestens 24 Stunden wieder abgeholt. Den zuständigen Sozialdiensten der Haftanstalten wurde das Vorgehen bei der Fragebogenerhebung schriftlich vorgelegt und vor Ort von der Autorin mündlich erläutert. Die Inhaftierten wurden schriftlich über die Untersuchung und den Umgang mit dem Fragebogen informiert; darüber hinausreichende Fragen konnten an die Sozialdienste gestellt werden. Jedem Fragebogen lag ein verschließbarer Rückumschlag bei, der zusätzlich durch 2 bedruckte Aufkleber von den Befragten selbst versiegelt – und so die Anonymität sichergestellt – werden konnte. Die Methode der schriftlichen Befragung birgt, gegenüber dem mündlichen Interview (wie im DEAS 2008), das Risiko einer höheren Ausfallquote. Insbesondere systematische Ausfälle könnten die Ergebnisse zum Gesundheitszustand der Inhaftierten positiv beeinflusst haben; auch externale Einflüsse sind bei dieser Methode nicht auszuschließen.

gebedürftigkeit sowie zu bestehenden Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung ermittelt. Die Fragen zum physischen und psychischen Gesundheitszustand der Inhaftierten orientierten sich im Wesentlichen an den Fragen aus dem Deutschen Alterssurvey (DEAS 2008). Die Anzahl der inhaftierten Männer, die den Untersuchungskriterien entsprachen, konnte sich durch Verlegungen, Neuinhaftierungen und Entlassungen nahezu täglich ändern. Daher wurde die exakte Zahl der Inhaftierten der jeweiligen Haftanstalten (August 2012 bis Februar 2013) stichtagsbezogen ermittelt. Gemäß dieser Gefangenenzahlen wurden die Fragebogen codiert, von den Sozialdiensten der Justizvollzugsanstalten (JVA) an die ermittelten 50-Jährigen und Älteren

Von den insgesamt 389 älteren männlichen Insassen, die einen Fragebogen und ein Anschreiben erhielten, nahmen 167 Inhaftierte nicht an der anonymisierten Befragung teil. Die Untersuchungsstichprobe bestand somit aus 222 männlichen Probanden im Alter von 50 bis 74 Jahren aus dem geschlossenen und offenen Strafvollzug sowie dem Justizvollzugskrankenhaus des Landes RheinlandPfalz (RLP). Das Durchschnittsalter der Untersuchungsteilnehmer betrug 57 Jahre, der Median 56 Jahre. Keine Altersangaben machten 15 Teilnehmer. Die Insassen des Maßregelvollzugs und der Untersuchungshaft waren (Unvergleichbarkeit der Rahmenbedingungen des Vollzugs) von der Stichprobe ausgeschlossen.

Ergebnisse Im Untersuchungszeitraum betrug der Anteil der über 50-jährigen Inhaftierten an der Gesamtbelegung im rheinlandpfälzischen Strafvollzug 18 %. Nur in einer Anstalt wurde er mit lediglich 9 % ermittelt. In 2 der insgesamt 8 untersuchten Justizvollzugsanstalten, darunter die Langzeitstrafanstalt Diez und die Sozialthera-

Zusammenfassung · Abstract pie in Ludwigshafen, machte der Anteil dieser Untersuchungsgruppe mit jeweils 31 resp. 32 % fast ein Drittel der Gesamtbelegung aus.

Morbidität Von den befragten älteren Inhaftierten gaben 38 % an, keine oder eine Erkrankung zu haben (17 % keine Erkrankung), gut ein Drittel (35 %) der Befragten hatte 2 bis 4 Erkrankungen, bei ca. einem Viertel (27 %) lagen 5 oder mehr Erkrankungen vor. Das gleichzeitige Vorliegen von 5 oder mehr Erkrankungen in der Alterskategorie 55  bis 69 Jahre ist im Vergleich zur extramuralen Gruppe mehr als 3-mal so hoch (. Abb. 1). Chronische Krankheiten sind die Hauptauslöser für funktionale Beeinträchtigungen und Hilfebedürftigkeit im höheren Lebensalter. In der Altersgruppe der 55- bis 69-Jährigen treten bei Inhaftierten im Vergleich zur extramuralen Gruppe die von ihnen genannten 10 häufigsten Erkrankungen mit einer höheren Prävalenz auf. Bei den 4 häufigsten Erkrankungen in der extramuralen Gruppe sind die Unterschiede noch eher gering. Sie betragen zwischen 0,1 % (erhöhte Cholesterinwerte) und 2,2 % (Arthrose) unter der Prävalenz der Inhaftierten. Am deutlichsten zeigen sich die Unterschiede bei den chronischen Lungenerkrankungen, die unter den älteren Inhaftierten mit 16 % mehr als 3-mal so häufig vorkommen wie in der extramuralen Gruppe. Unter Durchblutungsstörungen in den Beinen leiden ältere Inhaftierte im Vergleich zur extramuralen Gruppe mehr als doppelt so häufig. Einen Herzinfarkt erlitten 14 % der älteren Inhaftierten; dies sind fast doppelt so viele Betroffene wie in der extramuralen Gruppe. Für weitere chronische Erkrankungen, wie Herzinsuffizienz und Diabetes, liegen die Prävalenzraten in der intramuralen Gruppe um ca. 8 % über denen der extramuralen Gruppe. Für die extramurale Gruppe Betragen die Prävalenzraten ab der 6. Erkrankung unter 10 % (.  Abb.  2), während für die intramurale Gruppe bei allen 10 genannten Erkrankungen die Prävalenzraten mindestens 10 % oder deutlich darüber betragen (. Abb. 3).

Z Gerontol Geriat  DOI 10.1007/s00391-015-0888-x © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 L. Meyer

Alte Inhaftierte in Justizvollzugsanstalten. Herausforderung für die Gesundheitssicherung Zusammenfassung Hintergrund.  Zum Gesundheitszustand und der gesundheitlichen Versorgung älterer Inhaftierter liegt gegenwärtig für Deutschland flächendeckend keine systematische Datenerfassung vor. Der Gesundheitszustand ist aber für die (Re-)Sozialisierung der älteren Inhaftierten bedeutsam. Auch aus ethischer Sicht sollte in einem hochentwickelten Land eine gute gesundheitliche Versorgung in Haft gewährleistet sein. Ziel der Arbeit.  Am Beispiel der männlichen Inhaftierten in Rheinland-Pfalz wird den Fragen nachgegangen, wie sich der Gesundheitszustand älterer Inhaftierter darstellt und welche funktionalen Einschränkungen bestehen. Material und Methode.  An der anonymisierten Vollerhebung mithilfe eines Fragebogens im rheinland-pfälzischen Strafvollzug nahmen 222 ältere Männer teil, die zum

Zeitpunkt der quantitativen Befragung das 50. Lebensjahr vollendet hatten oder älter waren. Ergebnisse.  Ältere Inhaftierte (intramurale Gruppe) in Rheinland-Pfalz sind im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung (extramurale Gruppe) deutlich häufiger von alterstypischen chronischen Erkrankungen und funktionalen Beeinträchtigungen betroffen. Schlussfolgerung.  Die vorliegenden Daten sind für die Entwicklung und Umsetzung gezielter Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung sowie für eine Optimierung der gesundheitlichen Versorgung älterer Inhaftierter essenziell. Schlüsselwörter Morbidität · Chronische Erkrankungen · Funktionale Beeinträchtigungen · Pflegebedürftigkeit · Prävention

Elderly arrested people in correctional facilities. Challenge for health care Abstract Background.  At present there is no systematic, nationwide collection of data about the health status and health care of elderly persons imprisoned in Germany. The health status is highly significant with regard to the (re)socialization of elderly prisoners. From an ethical point of view a highly developed country should provide a good quality health care even in prisons. Aim.  Using the example of male prisoners in the Federal State of Rhineland-Palatinate, a survey was carried out on the health status of elderly prisoners and the presence of functional handicaps. Material and methods.  A total of 222 elderly male prisoners in Rhineland-Palatinate who were at least 50 years old at the time of

Vergleicht man die Rangreihen der 10 häufigsten chronischen Erkrankungen im Alter in der extra- und intramuralen Gruppe anhand der . Abb. 2 und 3, wird Folgendes deutlich: In beiden Untersuchungsgruppen dominieren Bluthochdruck, Arthrose und erhöhte Cholesterinwerte auf den ersten 3 Rängen. Deutliche Unterschiede zeigen sich bei den Durchblutungsstörungen in den Beinen; sie neh-

the quantitative analyses participated in the anonymous comprehensive survey by completing a questionnaire. Results.  The elderly prisoners in Rhineland-Palatinate are concerned by age-related chronic diseases and functional handicaps significantly more often than the general extramural population. Conclusion.  The data obtained in this survey are essential for the development and implementation of targeted strategies of prevention and health promotion and for improvement in the health care of elderly prisoners. Keywords Morbidity · Chronic diseases · Functional handicaps · Need for nursing care · Prevention

men bei der intramuralen Gruppe Rang 4 (.   Abb.  3) und bei der extramuralen Gruppe Rang 7 (. Abb. 2) ein. Die stärksten Unterschiede in den Rangreihen finden sich für Rheuma/Arthritis (intramurale Gruppe Rang 10, extramurale Gruppe Rang 4; .  Abb.  2, 3). Trotz dieser deutlichen Rangunterschiede ist die Prävalenzrate auch bezüglich dieser Erkrankung für die intramurale Gruppe (16 %) deutlich Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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Originalien

42 1. Bluthochdruck

41 37

2. Gelenkverschleiß (Arthrose)

35 29

3. Erhöhte Blutfette (Cholesterin)

29 23

4. Durchblutungsstörungenen/Beine

Hör- und Sehfähigkeit

9 21 13

5. Diabetes

20 6. Seelische Erkrankungen

5 17

7. Herzinsuffizienz

9 17 4

8. Magenulkus

16 10. Chronische Lungenerkrankungen

5

Intramurale Gruppe (RLP 2012)

16 4. Rheuma/Arthritis

14 0

5

10

Extramurale Gruppe (DEAS 2008)

15 20 25 30 35 Anteil (%) der Erkrankungen

40

45

Abb. 3 8 Prävalenz der 10 häufigsten chronischen Erkrankungen der 55- bis 69-jährigen Männer in der intramuralen Inhaftiertengruppe im Vergleich zur extramuralen Gruppe. Quellen: extramural: [15], Tabelle A4-1 Bundesgebiet; intramural: Erhebung RLP 2012 (n = 113)

höher als für die extramurale (14 %). Seelische Erkrankungen (Rang 6) und Magenulzera (Rang 8) finden sich in der intramuralen Gruppe unter den 10 häufigsten chronischen Erkrankungen. Sie kommen 4-mal so häufig vor wie in der extramuralen Gruppe; hier rangieren sie auf Rang 11 (seelische Erkrankungen) resp. 12 (Magenulkus). Obwohl Krebserkrankungen in der intramuralen Gruppe nicht unter den 10 häufigsten chronischen Erkrankungen zu finden sind, liegt ihre Prävalenzrate mit 10 % (Rang 12) deutlich über der Prävalenzrate der extramuralen Gruppe (6 %).

ihrer gesundheitlichen Voraussetzungen in der Lage sind, Alltagsanforderungen zu erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“ [14]. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang nicht nur physische Beweglichkeit, Sehen und Hören, sondern auch „die Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens ausführen zu können“ [20]. Im Folgenden werden die Ergebnisse aus der Erhebung älterer Inhaftierter in Rheinland-Pfalz 2012 zu diesen Aspekten der funktionalen Gesundheit mit den Ergebnissen aus dem DEAS 2008 verglichen.

Funktionale Gesundheit

Ältere Inhaftierte sind in ihrer Mobilität deutlich stärker eingeschränkt als ältere Männer in der extramuralen Gruppe. Dies gilt in allen 6 ausgewählten Mo-

„Der Begriff der funktionalen Gesundheit beschreibt, wie Menschen aufgrund

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bilitätsaspekten der Short-Form(SF)-36Subskala zur körperlichen Funktionsfähigkeit. Bei den starken Mobilitätseinschränkungen (.   Abb.  4) sind die Einschränkungen (außer bei „anstrengenden Tätigkeiten“) in der intramuralen Gruppe mehr als 3-mal so hoch wie in der extramuralen Gruppe.

Körperliche Mobilität

In der Altersgruppe der 55 -bis 64-jährigen Inhaftierten haben mehr als die Hälfte (58 %) leichte oder starke Sehbeeinträchtigungen beim Lesen der Zeitung oder beim Erkennen von bekannten Personen während des Hofgangs, ggf. auch dann, wenn sie eine Sehhilfe benutzen (.  Abb.  5). Das sind gegenüber der entsprechenden extramuralen Altersgruppe (16 %) mehr als 3-mal so viele Betroffene. Die Prävalenzrate der Sehbeeinträchtigungen ist unter den 65 -bis 74-jährigen Inhaftierten (48 %) 2,5-mal höher als in der entsprechenden extramuralen Altersgruppe (19 %). Hörverluste gehören zu den häufigsten chronischen Störungen im Alter. Die Prävalenz liegt in beiden Alterskategorien der intramuralen Gruppe deutlich höher als in der extramuralen Gruppe (.  Abb.  6). In der jüngeren Altersgruppe (55 bis 64 Jahre) haben 37 % der Inhaftierten Schwierigkeiten mit dem Hören, z. B. bei den Durchsagen über die Rufanlage der JVA, beim Telefonieren oder bei einem Gruppentreffen mit mehreren Personen – ggf. auch dann, wenn ein Hörgerät benutzt wird. Hier liegt die Prävalenzrate um 17 % höher als die Prävalenzrate für die extramurale Gruppe (20 %). Bei den 65- bis 74-Jährigen sind die Unterschiede mit 48 % in der intramuralen und 27 % in der extramuralen Gruppe noch deutlicher.

Diskussion Die vorliegenden Befunde zeigen, dass die Prävalenzraten der 10 häufigsten chronischen Erkrankungen, wie sie bei den 55 -bis 69-jährigen Männern aus dem DEAS 2008 erfasst wurden, bei den Inhaftierten gleichen Alters über alle Erkrankungen hinweg (meist deutlich) höher sind. Ebenso liegen bei den 55- bis 69-jährigen

39

Anstrengende Tätigkeiten

22 16

Einkaufstaschen heben/tragen

4 12

Einen Treppenabsatz steigen

3 23

Sich beugen, knien, bücken

7 25

Mehrere Straßenkreuzungen zu Fuß gehen

5

Intramurale Gruppe (RLP 2012)

8

Sich baden oder anziehen

Extramurale Gruppe (DEAS 2008)

2 0

5

10 15 20 25 30 Anteil (%) der Erkrankungen

35

40

Abb. 4 8 Starke Mobilitätseinschränkungen in der extra- und intramuralen Gruppe der 55- bis 69-jährigen Männer (gerundete Angaben) im Vergleich. Quellen: extramural: [15], Tabelle A4-4; intramural: Erhebung RLP 2012 (n = 101–107). Ausgewählte Mobilitätsaspekte der Short-Form (SF)-36-Subskala zur körperlichen Funktionsfähigkeit. Für die intramurale Gruppe wurden die Fragen des SF36 den Bedingungen des Strafvollzugs angepasst

70 Intramurale Gruppe (RLP 2012)

Anteil (%) der Erkrankungen

60

Extramurale Gruppe (DEAS 2008)

58

50

48

40 30 20

19 16

10 0 55- bis 64-Jährige

Inhaftierten mehr als 3-mal so häufig 5 oder mehr Erkrankungen gleichzeitig vor. Körperliche Erkrankungen im Alter gehen oft mit einer veränderten und unspezifischen Symptomatik, längeren Krankheits- und Genesungsverläufen sowie veränderter Reaktion auf Medikamente einher und erhöhen das Risiko für eine psychische Komorbidität wie z. B. einer De-

65- bis 74-Jährige

Abb. 5 9 Vergleich der Sehbeeinträchtigungen in der extra- und intramuralen Gruppe je nach Altersgruppe (Zahlen gerundet). Quellen: extramural: [2] (n = 761–1332); intramural: Erhebung im Strafvollzug RLP 2012 (n = 21–95). Die Fragen aus dem DEAS 2008 zur Sehbeeinträchtigung wurden an die Bedingungen des Strafvollzugs angepasst

pression [7]. Große Differenzen zeigen sich auch bei den funktionalen Beeinträchtigungen; hier sind ältere Inhaftierte von starken Einschränkungen in ausgewählten Mobilitätsaspekten sehr viel stärker (meist 4-mal so häufig) betroffen wie die extramurale Gruppe. Extreme Unterschiede finden sich bei sensorischen Einschränkungen wie dem Sehen und Hören:

Die 55- bis 74-jährigen Inhaftierte sind bis zu 3,5-mal so häufig von Hör- und Sehbeeinträchtigungen betroffen wie Männer gleichen Alters in der extramuralen Gruppe. Chronische Erkrankungen gehören zu den primären Auslösern von funktionalen Beeinträchtigungen und Hilfebedürftigkeit im höheren Lebensalter [14]. Hilfeund Pflegebedürftigkeit wird – neben Erkrankungen, die kognitive Einschränkungen nach sich ziehen – v. a. durch Krankheiten verursacht, die die Mobilität älterer Menschen beeinträchtigen. Starke Mobilitätseinschränkungen sind unter den 55- bis 69-Jährigen in Haft sehr viel häufiger verbreitet als in der extramuralen Gruppe. In Bezug auf die Frage, ob die Herausforderung, mehrere Straßenkreuzungen zu Fuß zu gehen, mit Einschränkungen verbunden ist, gab jeder Vierte der intramuralen Gruppe (25 %) „starke Einschränkungen“ an, bei der extramuralen Gruppe (gemessen an der bundesweiten männlichen Untersuchungsgruppe gleichen Alters aus dem DEAS 2008) hingegen nur jeder 20. Antwortende (5 %). Im Strafvollzug können starke Mobilitätseinschränkungen die Möglichkeit, am täglichen Hofgang teilzunehmen minimieren oder gar verunmöglichen; dies gilt insbesondere in Haftanstalten, die nicht über einen Personenaufzug oder einen barrierefreien Hofzugang verfügen, wie sie in Rheinland-Pfalz noch sehr häufig vorzufinden sind. Weiterhin kann eine eingeschränkte Mobilität zur Minderung der Erwerbsfähigkeit führen [21]. Der Verlust der Erwerbsfähigkeit ist im Strafvollzug fast immer mit Beschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten außerhalb des Haftraums verbunden, da es (im geschlossenen Vollzug) während der regulären Arbeitszeiten für Menschen, die nicht mehr arbeiten können oder müssen, keine oder nur wenige Alternativangebote gibt (wie z. B. die Arbeitstherapie). Starke Mobilitätseinschränkungen spielen auch bei der Gestaltung der selbstständigen Lebensführung eine wichtige Rolle und können eine Haftentlassung in das häusliche Umfeld erschweren oder ganz verunmöglichen [12]. Eine selbstständige Lebensführung kann ebenso durch sensorische Beeinträchtigungen gefährdet sein, da die damit einhergehenden KommunikationsZeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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Originalien 50

Intramurale Gruppe (RLP 2012)

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Anteil (%) der Erkrankungen

Extramurale Gruppe (DEAS 2008) 40

37

30 20

27 20

10 0 55- bis 64-Jährige

65- bis 74-Jährige

Abb. 6 8 Vergleich der Hörbeeinträchtigungen in der extra- und intramuralen Gruppe je nach Altersgruppe (Zahlen gerundet). Quellen: extramural: [2] (n = 931–1332); intramural: Erhebung im Strafvollzug RLP 2012 (n = 21–95). Die Fragen aus dem DEAS 2008 zur Hörbeeinträchtigungen wurden an die Bedingungen des Strafvollzugs angepasst

probleme nicht selten zu psychischen Problemen und sozialem Rückzug führen [14]. Die durchgeführte Erhebung konnte zeigen, dass altersbedingte Hörbeeinträchtigungen in der intramuralen Gruppe fast doppelt so häufig vorkommen wie in der extramuralen Bevölkerung. Hörbeeinträchtigte klagen oft darüber, dass sie das Gesprochene nicht oder falsch verstehen [14]. Altersschwerhörige Menschen müssen, um den Sinn des Gesprochenen zu verstehen, hochkonzentriert sein und zusätzliche Informationsquellen wie Kontext, Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Lippenbewegungen heranziehen [18]. Im Strafvollzug werden hingegen viele alltagsrelevante Informationen, wie z. B. der Beginn des Hofgangs oder der Sport- und Freizeitangebote, v. a. über die Rufanlage weitergegeben und bleiben so häufig unverstanden. Auch Seheinbußen haben direkte Auswirkung auf die Alltagsgestaltung. Dies betrifft die Basisaktivitäten, wie z. B. die Einnahme von Mahlzeiten oder das Ankleiden und in noch stärkerem Maß die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. die Medikamenteneinnahme oder hauswirtschaftliche Tätigkeiten). Wie die Ergebnisse belegen, ist (fast) jeder zweite Inhaftierte der 55- bis 74-Jährigen von Sehbeeinträchtigungen betroffen. Um die Selbstständigkeit und die Alltagskompetenz dennoch zu erhalten oder wiederherzustellen, können vergrößernde Hilfsmittel oder das Trainieren von alltagspraktischen Fertigkeiten genauso sinnvoll sein wie eine Ver-

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Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

änderung der räumlich-dinglichen Umwelt, der Abbau von Barrieren oder eine verbesserte Beleuchtung und die Erhöhung von Kontrasten [18]. Die in der intramuralen Gruppe weit verbreiteten sensorischen Einschränkungen des Seh- und Hörvermögens bergen für die Betroffenen zudem ein hohes Risiko, weitere Erkrankungen, wie z. B. Depressionen, zu erleiden [14]. Es ist wahrscheinlich, dass das Risiko für ältere Inhaftierte durch die erhebliche Krankheitslast und die negativen Einflüsse der Haftsituation (Isolation, Stress, Angst etc.) noch weiteransteigt. In der rheinlandpfälzischen Untersuchung gab rund ein Fünftel der befragten älteren Inhaftierten seelische Erkrankungen an (. Abb. 3), in der extramuralen Gruppe hingegen spielen seelische Erkrankungen mit einer Prävalenzrate von 4,5 % eine untergeordnetere Rolle. Weitere Analysen, die den Einfluss der Haftbedingungen auf die Morbidität und die funktionalen Einschränkungen der älteren Inhaftierten in den Blick nehmen, um daraus sinnvolle Veränderungen zur Verbesserung der Gesundheit abzuleiten, wären wünschenswert.

lung, Steuerung und Umsetzung von wirksamen gesundheitsförderlichen bzw. präventiven Interventionen sollten eine Gesundheitsberichterstattung im Strafvollzug implementiert und personelle Ressourcen bereitgestellt werden. Das Wissen über Alter(n)s- und Krankheitsprozesse bildet eine wichtige Grundlage. 55Hinsichtlich der Prävention chronischer Erkrankungen im Alter kommt u. a. der Implementierung von mobilitätsfördernden Freizeitangeboten im Strafvollzug besondere Bedeutung zu. Diese (z. B. Sportprogramme) sollten so gestaltet sein, dass sie von älteren Menschen, auch bei nachlassenden körperlichen Kräften, in Anspruch genommen werden können. 55Bildungsangebote, die zu einer selbstständigen Lebensführung befähigen, wie z. B. der Erwerb von Alltagskompetenzen und der Aufbau von sozialen Kontakten, wären als Alternative für ältere Inhaftierte, die nicht mehr arbeiten (können), auch im Hinblick auf die Haftentlassung sinnvoll. 55Aufgrund des erhöhten Hilfe- und Pflegebedarfsrisikos älterer Inhaftierter sollten niederschwellige Angebote zur Prüfung eines Hilfe- und Pflegebedarfs implementiert werden. Dadurch kann ein solcher schnell erkannt und eine Unterversorgung vermieden werden.

Korrespondenzadresse Dipl.-Gerontologin, Dipl.-Pflegepädagogin (FH) L. Meyer Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 1 Universität Bielefeld Universitätsstr. 25 33615 Bielefeld [email protected]

Fazit für die Praxis

Einhaltung ethischer Richtlinien

55Die Ergebnisse machen deutlich, dass es für ältere Inhaftierte einen hohen Bedarf an einer guten Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung gibt. Für die Entwick-

Interessenkonflikt.  L. Meyer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Die Teilnehmer der vorliegenden Studie wurden schriftlich über die Untersuchung und den Umgang mit dem anonymisierten Fragebogen informiert.

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Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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[Elderly arrested people in correctional facilities Challenge for health care].

At present there is no systematic, nationwide collection of data about the health status and health care of elderly persons imprisoned in Germany. The...
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