Nr. 9, 4. März 1977, 102. Jg.
Rasche u. a.: Norfallbehandlung von Blutungskomplikationen bei Hemmkörper-Hämophilie
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Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 319-323 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart
H. Rasche, H. Bindewald, W. Köhle, R. Scheck, R. Heinrich und K. Seibert Sektion Hämostaseologie des Zentrums für Innere Medizin und Kinderheilkunde und Sektion Kinderchirurgie der Abteilung für Allgemeine Chirurgie der Universität Ulm/Donau
Bei einem sechsjährigen Jungen mit schwerer Hämophilie A und FaktorVIII-Hemmkörpern ließ sich eine massive Blutung aus dem Enddarm
durch Substitution mit humanen Faktor-Vill-Konzentraten nicht beherrschen. Es wurden aktivierte Prothrombinkomplex-Konzentrate (Fraktion FEIBA) über 8 Tage mit vollem klinischen Erfolg eingesetzt. Als bemerkenswerte Komplikation trat eine kurzfristige Amaurose auf, die jedoch innerhalb weniger Minuten folgenlos abkiang. Laboratoriumsdiagnostisch fanden sich vorübergehend Hinweise auf eine akzelerierte intravasale Gerinnung mit positivem Nachweis von Fibrinmonomeren und Fibrin-Fibrinogen-Spaltprodukten. Bei etwa 5-10% der Hämophilie-A-Patienten entwickeln sich in Verbindung mit der erforderlichen Substitutionstherapie bei Blutungskomplikationen Immunhemmkörper vom IgG-Typ (5, 11, 17, 20). Zur Senkung dieser Faktor-Vill-Inhibitoren wurden immunsuppressive Be-
handlungsversuche mit Corticosteroiden, Azathioprin, Cyclophosphamid oder Methotrexat mit wechselndem Erfolg langfristig durchgeführt (13, 16, 25, 28). Die Notfalibehandlung hämorrhagischer Zwischenfälle bei Hemmkörperhämophilie bleibt problematisch. Die Substitution mit humanen Faktor-Vill-Konzentraten ist nur vorübergehend hämostatisch wirksam, da bei Patienten mit entsprechender Anamnese innerhalb von 3S Tagen nach Behandlungsbeginn ein Anstieg des Inhibitortiters erfolgt, der zu einer vollständigen Therapieresistenz führen kann. Als ultima ratio in verzweifelten Fällen wurden Austauschtransfusionen bzw. Plasmapheresen (9, 29), tierische Faktor-VIll-Konzentrate (4) und Thrombozytentransfusionen (6) eingesetzt. In neuerer Zeit wird bei dieser Indikation die Verabreichung von Prothrombinkomplex-Konzentraten erwogen, seitdem in kasuistischen Berichten unerwartet günstige Behandlungserfolge mitgeteilt wurden (1-3, 6, 7, 12, 14, 19, 23, 26, 27, 30, 31). Die im folgenden mitgeteilte Beobachtung ist ein weiterer Beitrag zu diesem ungewöhnlichen Therapieansatz.
Kasuistik Vorgeschichte: Die Familienanamnese des sechsjährigen Jungen L. F., geboren am 20. 2. 1969, liefert keinen Hinweis auf eine kongenitale hämorrhagische Diathese. Seit 1971 besteht bei ihm eine ausgeprägte Hämatomneigung nach Bagatelitraumen. Im Anschluß
Emergency treatment of haemophilia A with factor VIII inhibitors using activated prothrombin complex concentrates Severe rectal bleeding in a 6-year-old boy with haemophilia A and factor VIII inhibitors could not be stopped with factor VIII concentrates. But a good effect was achieved with
activated prothrombin complex concentrates (fraction FEIBA), given over eight days. Amaurosis occurred as a complication after injection of the first dose, but disappeared completely within several minutes. Tests revealed accelerated intravascular coagulation with increased fibrin monomers and fibrin/fibrinogen degradation products.
an eine Appendektomie 1972 in einem auswärtigen Krankenhaus kam es zu schwerer Sickerbiutung aus der Operationswunde, weshalb eine Relaparotomie vorgenommen wurde. Am zweiten postoperativen Tag wurde das Kind in unsere Klinik verlegt. Hier wurde die Diagnose einer schweren Form der Hämophilie A gestellt und eine Substitution mit Faktor-VIII-Konzentraten über S Tage durchgeführt. Danach setzte eine komplikationslose Rekonvaleszenz ein. 1973 trat eine starke Nachblutung nach Kieferfraktur auf, die durch Verabreichung von Faktor-Vill-Konzentraten über 4 Tage beherrscht werden konnte. Ab dem fünften Behandlungstag stellte sich Resistenz gegen die Faktor-Vill-Substitution ein; im Serum wurden Faktor-VIII-Hemmkörper nachgewiesen. Nach Absetzen der Be-
handlung kam es zu komplikationsloser Wundheilung. Bei einer Kontrolluntersuchung 8 Monate später (Oktober 1973) konnten keine Hemmkörper nachgewiesen werden. Danach erfolgte bis zur Wiederaufnahme keine Substitutionsbehandlung. Befunde: Am 22. 5. 1975 kam der zu diesem Zeitpunkt 20,6 kg schwere, 120 cm große und altersentsprechend entwickelte Junge zur stationären Aufnahme, nachdem sich unmittelbar vorher größere Mengen frisches Blut aus dem After entleert hatten. Es bestand keine Schocksymptomatik. Das Abdomen war weich und gut eindrückbar. Pathologische Resistenzen waren nicht tastbar. Lebhafte Darmgeräusche. Bei der rektalen Untersuchung waren frische Blutspuren am Fingerling. Alle klinisch-chemischen Untersuchungsbefunde waren unauffällig. Abdomen-Röntgenübersicht und Rektoskopie zeigten keine Besonderheiten. Bei der Sigmoidoskopie fand sich in einer Höhe von 30 cm oberhalb des Anairings eine etwa 3 cm im Durchmesser große, unregelmäßig begrenzte hämorrhagische Nekrosezone, aus der es erheblich blutete. Eine Ursache für den Schleimhautdefekt konnte nicht eruiert werden. Wir gingen davon aus, daß es sich um den Folgezustand nach intramuraler Darmwandblutung handelte, wie er früher bereits von uns (24) und anderen bei Patienten mit hämorrhagischer Diathese beobachtet wurde. Therapie und Verlauf: Mit Faktor-VIll-Konzentraten (500 E/6 h) wurde ein Blutungsstillstand innerhalb von einem Tag erreicht. Der bei der Aufnahme noch im Normalbereich liegende Hämatokritwert sank auf 21 Vol.-°/o ab und hielt sich dann stabil. Wegen der in der Anamnese bekannten Hemmkörperentwicklung wurde schon nach
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Notfailbehandlung von Blutungskomplikationen bei Hemmkörper-Hämophilie mit aktivierten Prothrombinkomplex-Konzentraten
Rasche u. a.: Notíallbehandlung von Blutungskomplikationen bei Hemmkörper-Hämophilie
dreitägiger Substitutionstherapie ein Auslaßversuch durchgeführt. Etwa 12 Stunden später kam es jedoch erneut zu Blutungen aus dem Enddarm. Die Substitutionsbehandlung wurde daraufhin wieder aufgenommen und noch einmal ein Blutungsstillstand für 2 Tage erreicht. Am fünften Behandlungstag trat eine weitere, bedrohliche Darmblutung auf, die auch durch insgesamt 5000 E eines FaktorVIll-Konzentrates innerhalb von 4 Stunden nicht beherrscht werden konnte. Die Möglichkeit einer chirurgischen Intervention wurde erwogen, jedoch wegen des nicht korrigierbaren schwersten Hämostasedefektes verworfen. In dieser Situation entschlossen wir uns zum Einsatz von aktivierten Prothrombinkomplex-Konzentraten. Zur Verfügung stand uns das Präparat PPK a aktiviert« (Fraktion FEIBA»), eine Weiterentwicklung des handelsüblichen partiellen Prothrombinkomplex-Präparates (PPK mit Anreicherung der Blutgerinnungsfaktoren II, IX und X) der Immuno GmbH, Heidelberg. Nach Angaben des Herstellers wird die in einer Ampulle abgepackte lyophilisierte Trockensubstanz aus 1000 ml Frischplasma gewonnen und ist nach Lösung in 10 ml Aqua dest. injizierbar. An den ersten beiden Behandlungstagen verabfolgten wir unserem Patienten in sechsstündigen Abständen jeweils 2 Ampullen PPK »aktiviert« innerhalb von 15 Minuten als Injektion (etwa 100 E/kg X 24 h Fraktion FEIBA). Danach wurde die Behandlung mit einer Ampulle pro 6 Stunden über weitere 6 Tage fortgeführt. An zusätzlichen therapeutischen Maßnahmen sind eine bilanzierte Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr, strikte Nahrungskarenz über 7 Tage, die Verabreichung von Colistin-Tabletten zur Darmkeimreduzierung und die intravenöse Eisensubstitution zu nennen. Vier Stunden nach Einleitung der Behandlung sistierten die Blutungen aus dem Enddarm und traten im weiteren Verlauf nicht wieder auf. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der fünften Injektion von 20 ml PPK »aktiviert« kam es bei dem Patienten am 28. 5. 1975 zu einer kurzfristigen Amaurose ohne begleitende Schocksymptomatik. Bei der sofort veranlaßten neurologischen Untersuchung einschließlich eines Elektroenzephalogramms waren keine Ausfälle mehr nachweisbar. Weitere Komplikationen oder Nebeneffekte wurden nicht beobachtet. Klinisch-chemische Parameter, insbesondere auch Urinausscheidung und Meßwerte zur Erfassung der Nierenfunktion, blieben im Normalbereich. Ab dem dritten Behandlungstag stieg der Hämatokritwert kontinuierlich an. Fünf Tage nach Beendigung der Substitutionsbehandlung war makroskopisch im Stuhl weder frisches noch altes Blut nachweisbar, und bei einem Kolon-Kontrasteinlauf stellten sich keine Ulzerationen oder Stenosen dar. Auf eine nochmalige Sigmoidoskopie wurde verzichtet. Der Junge konnte am 13. 6. 1975 in gutem Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden. Bei einer Kontrolluntersuchung 6 Wochen später war er klinisch weiterhin völlig unauffällig, im peripheren Blutbild fanden sich die Zeichen der Blutungsanämie vollständig zurückgebildet.
Hämostaseologische Untersuchungen Die angewandten Routinemethoden wurden an anderer Stelle zusammenfassend beschrieben (15). Die quantitative Bestimmung des Faktor-VIII-Hemmkörpers erfolgte nach Kurzcynski und Penner (19). Hierbei entspricht 1 Inhibitor-Einheit im Plasma definitionsgemäß der biologischen Aktivität, die nach einstündiger Inkubation bei 37 °C mit einem Faktor-VIII-Standardpräparat 0,95 Faktor- VIIIEinheiten (» 95O/) neutralisiert.
In-vitro-Untersuchungen. PPK und PPK »aktiviert« (Fraktion FEIBA) wurden nach den Angaben der Herstellerfirma gelöst und gleichen Teilen Normalpiasma bzw. Hämophilie-A-Plasma und Plasma unseres Patienten mit Hemmkörperhämophilie (72 E Faktor-Vill-Inhibitor) zugesetzt. 15 bzw. 60 Minuten später erfolgte in dem Gemisch die Bestimmung der Partialthromboplastinzeit (PTT) mit Testreagentien der Behringwerke, Marburg. PPK »aktiviert« verkürzte die PTT in allen untersuchten Plasmaproben, während PPK lediglich in *
FEIBA
= »factor eight inhibitor bypassing activity«
Deutsche Medizinische Wochenschrift
Hämophilie-A-Plasma zeigte (Tabelle 1).
einen
abgeschwächten Effekt
Tab. 1. Partialthromboplastinzeit (s) von Normaiplasma, Hämophilie-A-Plasma und Hemmkörperhämophilie-Plasma nach Zusatz von Michaelis-Puffer, PPK und PPK »aktiviert« im Verhältnis 1 1 in vitro nach einer Inkubationszeit von 15 bzw. 60 min MichaelisPuffer
PPK
PPK
»
aktiviert«
Inkubationszeit 15mm
60mm
15mm
60mm
Normalplasma
48
50
53
54
30
31
Hämophilie-APlasma
98
100
73
72
38
40
114
122
107
107
42
46
Hemmkörperhämophilie-Plasma
15mm
60mm
Untersuchungen an Plasmaproben des Patienten bei Behandlung mit humanen Faktor-Vill-Konzentraten. Vor Behandlungsbeginn zeigten die Untersuchungen die typische Konstellation einer schweren Form der Hämophilie A mit Verlängerung der PTT und Reaktionszeit r im Thrombelastogramm, Reduzierung der biologischen Faktor-Vill-Aktivität auf unter 1% der Norm und Erhöhung des immunologisch bestimmten Faktor-VIII-assoziierten Antigens auf 160% der Norm. Hemmkörper waren zu diesem Zeitpunkt nicht nachweisbar (Tabelle 2). Zwei Tage nach Beginn der Substitutionsbehandlung mit humanen Faktor-Vill-Konzentraten wurde erstmals ein Anstieg der Faktor-VIll-Inhibitoren festgestellt. Laboratoriumsdiagnostisch erfolgte jedoch noch ein ausreichendes Ansprechen auf die Behandlung. Drei Tage später hatte der Faktor-VIII-Hemmkörper einen Wert von 72 E erreicht. Auch mit insgesamt 5000 E eines Faktor-VIIIKonzentrates innerhalb von 4 Stunden war jetzt keine Verkürzung der PTT oder Reaktionszeit r mehr erreichbar, die meßbare biologische Aktivität des Faktors VIII im Patientenplasma blieb unter 1% der Norm. Tab. 2. Laboratoriumsbefunde vor, während und nach Behandlung eines Patienten mit Hemmkörperhämophilie mit humanen FaktorVIll-Konzentraten. Die Meßwerte am fünften Tag wurden nach Verabreichung von insgesamt 5000 E Faktor VIII/4 h gewonnen Normalbereich
Meßwert
Behandlung mit Faktor-VIll-Konzentraten 2. Behand- 5. Behandvor Therapie lungstag lungstag
Reaktionszeit r im Thrombelastogramm [mm]
10
16
102
21
115
Partialthromboplastinzeit [s]
35
50
98
47
117
Faktor-VillAktivität
[0/0]
60-140