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Encephalitis lethargica - eine neuropsychiatrische Erkrankung

Encephalitis Lethargica A Neuropsychiatric illness Encephalitis lethargica is prcsented as an exemplaric neuropsychiatric illness. Its history, the symptoms and the diagnostics, as weil as its pathology and therapy are iIluminated. Finally, speeifie problems and questions with regard to encephalitis lethargiea are diseussed: the question of a viral genesis and of a probable reappearance of the apparently disappeared encephalitis lethargica, the problems concerning the account for the neurological and psychiatrie symptoms, and the question of role and function of the basal ganglia.

Einleitung Kürzlich ist eine besonders faszinierende Erkrankung, die Encephalitis lethargica, durch die Verfilmung von 0. Sacks Buch "Awakenings" in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Für 0. Sacks ist diese Erkrankung, die sich sowohl mit psychiatrischen als auch mit neurologischen und internistischen Symptomen präsentiert (s. u.), ein exemplarisches Beispiel einer neuropsychiatrischen Erkrankung, die neben methodologischen Problemen auch Fragen nach der Organisation und Funktion des menschlichen Gehirns aufwirft (57, S. 33/34). Dennoch ist die Encephalitis lethargica weitgehend aus der medizinischen Wissenschaft verschwunden, da sie, wenn überhaupt, nur noch sporadisch oder als postenzephalitiseher Parkinsonismus (s. u.) auftritt. Aufgrund der faszinierenden und breiten Palette der Symptomatik, welche den exemplarischen Charakter als neuropsychiatrisches Erkrankungsmodell begründet, wollen wir eine Übersicht über die Encephalitis lethargica mit ihrer Symptomatik und ihren pathologischen Veränderungen geben, um sie der jetzigen Generation ins Bewußtsein zu bringen, zumal sie jederzeit wieder auftreten könnte (s. u.). Abschließend sollen dann die durch die Encephalitis lethargica aufgeworfenen Fragen und Probleme kurz diskutiert werden, wobei diese in Beziehung zu anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen (Tic, Dystonie, Schreibkrampf, Schizophrenie etc.) gesetzt werden, um Aufschlüsse für heutige Probleme der Erforschung neuropsychiatrischer Phänomene zu gewinnen. Geschichte der Encephalitis lethargica Die Encephalitis lethargica trat zwischen 1916 und 1927 als Pandemie auf: Sie begann in Wien, breitete sich Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 60(1992) 133-139 (c) GeorgThieme Verlag Stuttgart .New York

Zusammenfassung Die Eneephalitis lethargica wird als ein exemplarisches Beispiel einer neuropsychiatrischen Erkrankung vorgestellt. Es werden die Historie, die Symptome und die Diagnostik sowie die Pathologie und Therapie beleuchtet. Abschließend werden Probleme und Fragen, die die Encephalitis lethargica aufwirft, kurz diskutiert: Hierbei handelt es sich um die Frage der viralen Genese und des möglichen Wiederauftauchens der scheinbar verschwundenen Erkrankung, der Frage nach der methodologischen Erfassung der breiten neurologischen und psychiatrischen Symptomatik sowie der Frage nach der Rolle und Funktion der Basalganglien.

weltweit aus und erreichte dann ihren Höhepunkt in Amerika. Damals wurden aufgrund der merkwürdigen und verschiedenartigen Bilder verschiedenste Diagnosen wie "atypische Tollwut", "atypische Poliomyelitis", "epidemische Schizophrenie", "epidemische und multiple Sklerose", "epidemischer Parkinsonismus", "epidemisches Delirium" etc. gestellt. Der Pathologe Constantin von Ecnnomo identifizierte die verschiedenen Bilder als eine einheitliche, vermutlich durch ein Virus hervorgerufene Erkrankung, die er als Encephalitis lethargica bezeichnete (15, 16). Die virale Genese wurde von Economo durch die Auslösung der Erkrankung bei Affen durch Transplantation von entsprechendem Hirngewebe wie auch von anderen Autoren (41) als bewiesen angenommen, welches in jüngster Zeit jedoch fraglich erscheint (s. u.). Mit dem Jahre 1927 verschwand die Encephalitis lethargica ebenso schlagartig wie sie aufgetreten war. Seitdem gab es keine Epidemien oder Pandemien mehr, es wurden nur noch vereinzelte Fälle (7, 28, 31, 36, 45, 51), ähnliche Erkrankungen (61) und postenzephalitiseher Parkinsonismus als Folge der Erkrankung beohachtet (s. u.). Es gibt die Encephalitis lethargiea also auch heute noch, und ihre Häufigkeit ist nicht nur eine Frage des Auftretens, sondern auch eine des Erkennens bzw. des Diagnostizierens, denn nach Meinung von Greenough und Davis wird diese Diagnose aus Unkenntnis zu selten gestellt (27). Mit größter Wahrscheinlichkeit ist die Encephalitis lethargica als Erkrankung auch schon vor der Pandemie im Jahre 1916 aufgetreten, wie Economo und Jellife den retrospektiven Berichten entnehmen (15, 16, 33, 34, 71). 1580 gab es in Europa eine kleinere Epidemie einer Krankheit mit schwerem Fieber, Lethargie, Parkinson und anderen neurologischen Störungen. Zwischen 1672 und 1675 gab es mehrere Fälle, die von Sydenham als "febris comatosa" bezeichnet wurden. In Tübingen trat eine weitere Epidemie 1712/1713

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G. Northoff Neurologische Klinik des Universitätsklinikums RudolfVirchow, Berlin-Charlottenburg

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auf - in der Folge wurden weitere Einzelfälle heohaehtet. Auch ein i_hl.(e Ider ,von UCharco/ hesehrieben en F üllle sIcheinen postenzep a lltsc len rsprungs zu sem ( 6 ). I n ta ten trat I ~H\9/1l\9() eine große .. Grippeepidemie" unter dem Namen .. Nonu" auf mit Schlüfrigkeit. Hirnnervenstörungen und Tremor. Dennoch stellt die Pandemie von 1916- 1927 das massivste Auftreten der Encephalitis lethargica dar. die es, diesem kleinen Rückblick zufolge. immer schon gegeben hat und die auch heute noch JIs Erkrankung existiert und nie vollstündig verschwunden ist (57. S. 376). Die Möglichkeit des Wiederaul: tretens scheint daher jederzeit gegeben (s. u.)

, .,

Symptomatik und Diagnostik Ocr akute Ausbruch der Encephalitis lethargica manifesticrt sich zuerst mit Fieber und einer Grippe (s. u.); anschließend kommt es neben enzephalitisch-meningitischen Zeichen zu den verschiedensten Symptomen. Hierbei untcrschied E('(il/(Jl/IO drei verschiedene Formen (Tab. I): Die SOI11nolent-ophthall11oplegische. die myostatiseh-akinetische und die hyperkinetische Form (15. 16). Die somnolent-ophthal1110plegische Form zeichnete sich durch Somnolenz. interne und externe Ophthalmoplegien. Stupor und Koma sowie durch fokale neulologische Defizite (zerebellüre Zeichen, Hemiplegie. Aphasie. Hirnnervenlühmungen (111. IV. VII). Pyramidenbahnzeichen) und autonome Dysfunktionen (Sialorrhö. Seborrhö, starkes Schwitzen, Singultus) aus. Die myostatisch-akinetische Form präsentierte sich mit Katalepsie. Mutismus. BradykilH~sie. katatonem Stupor (35) und einem Parkinson-Syndrom. Die hyperkinetische Form präsentierte sich mit extremer motorischer Unruhe. visuellen Hal1uzinationL'n. einem Tourette-Syndrom. Katatonie. multiplen Hyperkinesien (311). choreoathetotisehen und dystonischen Bewegungen. Myoklonien (auch umbilikal 2: pathognomisch. 311). multiplen Tics. verschiedensten Dyskinesien (vor allem des Gesichts (43. 55)) sowie einer Inversion des Schlafrhythmus (Umkehrung von Tag und Nacht; 57). Daneben traten weitere psychiatrische Snydrome wie Psychosen. Denkstörungen. Wahn. Manien. Depressionen. Bulimien sowie Verhaltensiinderungen. delirartige Zustünde und emotionale Aushrüche mit anti sozialen Aktivitüten auf. Tab. 1 -

a

b

a

b Abb.1 Patienten mit (al und ohne (bi okulogyrische Krisen (Onuaguluchl 1961).

Formen der' Encephalitis lethargica nach Economo

somnolent-ophthalmoplegische myostatisch-akinetische hyperkinetische

Nach der akuten Initialphase. die von einigen Tagen bis zu I 1/::' - 2 Jahre dauern konnte. kam es zu verschiedenen Verläufen (Abb. 2): 1/3 al1er Patienten verstarh in der akuten Initialphase, 1/3 al1er Patienten erholte SiL'll komplett und das letzte Drittel zeigte chronische Veriinderungen sofort im Anschluß an die akute Initialphase oder mit einer Latenz von biszu2o- 25 Jahren (72). Die hüufigste chronische Veründerung (6()70';,,) ist das postenzephalitische Parkinson-Syndrom. welches sich vor allem durch die starke Akinese und Bradykinese auszeichnet. Ein Tremor der Zunge ist ebenso pathognomisch wie das junge Alter der Erstmanifestation (20-40 Jahre) und die multiplen neurologischen und psychiatrischen Begleiterscheinungen (s. 0 .. s. u.) - hierdurch unterscheidet sich der postenzephalitische Parkinson VOI11 idiopathischen Parkin-

son-Syndrom (·t 12. 36. 311). Andere extrapyramidale Symptome (Ties. Dystonie. Dyskinesien. Chorea etc.) kiinnen ehcnso zu den chronischen Veränderunl;en gehören wie Katatonic und eine al1gemeine Blockierung von Affekt. Kognition und Motorik (57). Veriinderungen des Schlafes. Manie. Depression. Wahn. dauerhafte PersönlichkeilsveriinderLllll;en (.\(}), apathische Dämmerzustände sowie cin stark hervorstechendes Zwangsvcrhalten (ohsessiv-kol11pulsiv) trelL'n 111 der chro-

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Fortschr. Neurol. Psychiat. 60 (1992)

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