Nr. 46, 14. November 1975, 100. Jg.

Kindler: Epidemiologie wichtiger Infektionskrankheiten

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Übersichten

Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 2401-2405 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Epidemiotogie wichtiger infektionsbedingter Krankheiten

U. Kindler Klinische Anstalten der Universität Düsseldorf, I. Medizinische Klinik A (Direktor: Prof. Dr. F. Grosse-Brockhoff)

Die Letalität der meldepflichtigen Infektionskrankheiten ist besonders augenfällig gesunken. Hierbei wirkt sich bei den bakteriellen Erkrankungen die Applikation der Antibiotika aus, wie es bei den Meningokokkenerkrankungen allein schon die Einführung der Sulfonamide war. Die Chemotherapie bewirkte eine enorme Abnahme der Sterberate. Wenn zu Beginn der dreißiger Jahre in der Schweiz in 76% der Fälle die Meningokokkeninfektion tödlich endete, so ist dies für die Gesamtzahl ab 1951 noch in 20-25% der Fall gewesen, im Einzelfall dagegen, dort, wo eine frühzeitige Behandlung stattfand, nur noch in 2-5%. Die Letalität des Typhus abdominalis lag noch vor 40 Jahren in der Schweiz bei 30%, jetzt bei 3%, die des Keuchhustens damals bei 5%, heute bei 0,1%, die der Masern früher bei 0,9%, heute bei 0,07% und die des Mumps früher bei 0,2%, heute bei 0,01%. Auch die selten gewordenen Scharlacherkrankungen zeigen gegenüber 1930 nur noch zu einem Dreizehntel einen tödlichen Verlauf. Die Diphtherie wurde 1961-1965 zwar selten, aber schwer verlaufend beobachtet und wies 1970 lediglich ein Drittel der Letalität von 1930 auf. Am gefährlichsten ist die Grippe geblieben, mit einem Rückgang der Letalität von 4,6 auf 2,2% in den letzten 40 Jahren (8, 20, 21).

Mortalität

Morbidität

Die Gesamtmortalität der meldepflichtigen Infektionskrankheiten beträgt heute noch ein Viertel bis ein Drittel derjenigen von 1930. Machte 1930 ihr Anteil an der Gesamtheit aller Sterbefälle noch 15% aus, so liegt er heute unter vergleichbaren Bedingungen bei 3%; in der Bundesrepublik Deutschland lag er 1967 bei 1,4%. Die Tuberkulosemortalität ist hierbei auf weniger als ein Zehntel zurückgegangen. Von 1931 bis 1970 ist die Mortalität des Scharlachs um das Vierzigfache, die des Keuchhustens um das Fünf undsiebzigf ache zurückgegangen. Aber auch bei den Viruserkrankungen ist infolge der bekämpfbaren Kokkenkomplikationen die Mortalität stark gesunken, so bei den Masern um das Zweiundzwanzigfache, bei den Varizellen mit schon immer niedriger Sterblichkeit doch noch um das Dreifache und bei Mumps um das Siebenfache. Die Grippe-Mortalität hat um fast das Dreifache abgenommen, diejenige des gefährlichen Typhus abdominalis um das Siebenfache (8, 20, 21).

Bezüglich der Morbidität an meldepflichtigen Infektionskrankheiten kann davon ausgegangen werden, daß die amtlichen Meldungen naturgemäß viel ungenauer sind als die der Mortalität und meist niedriger, als es dem tatsächlichen Vorkommen entspricht, namentlich bei Grippe und bei leichten Infekten. Immerhin bleiben sich aber die Fehlerquellen über die Jahre gleich, so daß die verwertbaren Angaben das epidemische Geschehen trotzdem erhellen können. Die Morbidität der Infektionskrankheiten wird von zahlreichen Faktoren bestimmt: hygienischen Maßnahmen, Trinkwasser- und Nahrungshygiene bis zu allen Reinigungs-, Reinhaltungs- und Quarantänevorschriften. Die Senkung der Morbidität an Infektionskrankheiten in den zivilisierten Ländern ist darüber hinaus durch drei Faktoren bedingt (7, 8): die Schutzimpfung, die Anthropozoonosenbekämpfung mit Ausschal-

tung der Erregerübertragung auf den Menschen durch

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Letalität

Die moderne Chemotherapie sowie die Entwicklung der Antibiotika hat bei gleichzeitiger Ausweitung der Schutzimpfung in den letzten 50 Jahren einen Wandel der infektionsbedingten Krankheiten auch aus epidemiologischer Sicht herbeigeführt. Vom epidemiologischen Standpunkt aus geändert haben sich das zahlenmäßige Vorkommen, die Krankheitsdauer, die Abkürzung bis zur Heilung der Erkrankung, das Seltenerwerden der Komplikationen sowie des tödlichen Ausgangs. Als beweisende Beispiele stehen hierfür Scharlach, Typhus, Diphtherie, die Poliomyelitis, die bakterielle Pneumonie sowie die Sepsis. Insgesamt dominieren zur Zeit gutartige akute Infektionen, vor allem viraler Natur. In der Praxis begegnen uns deshalb heute bei häufig geringerer Anzahl ein verändertes klinisches Bild und ein veränderter Ablauf der Infektionskrankheiten. Die Zahl nicht weniger Erreger ist zurückgegangen, zum Beispiel der Pneumokokken, der Bruzellen, der Malaria-Parasiten, der Tuberkelbakterien, der Scharlach-Streptokokken, oder ist fast gänzlich verschwunden wie bei der Poliomyelitis, Diphtherie und dem sogenannten städtischen Gelbfieber. Als Folge ist für die Mehrzahl der Infektionskrankheiten der Rückgang der Morbidität und Mortalität sowie ein allgemeines Absinken der Letalität zu beobachten (8, 11).

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Ausrottung der übertragenden Tiere und ihrer Produkte oder der Vektoren, meist Insekten, 3. die Beeinflussung der Erreger durch Antibiotika und Chemotherapeutika. Insgesamt hat die Zahl der Erkrankungen von 1930 bis 1970 bei einer Reihe wichtiger Infektionen, namentlich auch bei den Seuchen, deutlich abgenommen. Einzelne, vor allem virusbedingte Infektionen sind durch die vorgenannten Maßnahmen noch nicht erreichbar. So ist eine Abnahme der Erkrankungen bei Vergleich von 1930 mit 1970 bei Scharlach, Diphtherie, Poliomyelitis, Brucellosis und Pertussis anzunehmen. Hingegen ist für den gleichen Zeitraum keine Abnahme festzustellen bei der Grippe, den Masern, den Varizellen und der Parotitis epidemica (8, 20, 21). Beispielhaft für die Auswirkung der drei genannten Faktoren bezüglich der Senkung der Morbidität an infektionsbedingten Erkrankungen kann zum Beispiel die epidemiologische Entwicklung bei Meningokokkenerkrankungen, der Poliomyelitis und den Masern gewertet werden. Meningokokkenerkrankungen Die Meningokokkenerkrankungen sind ein einprägsames Beispiel für die Beeinflussung von Infektionskrankheiten durch Antibiotika und Chemotherapeutika. Seit Einführung der Chemotherapeutika ist ein epidemisches Auftreten der epidemischen Genickstarre in Europa nicht mehr feststellbar (17, 21). Bei der geschätzten Anzahl von Meningokokkenträgern von etwa 3-5% der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wurde 1969 eine Erkrankungshäufigkeit von 1,9 auf 100 000 Einwohner registriert. Die gemeldeten Erkrankungsfälle an Meningokokken-Meningitis schwanken in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1962-1973 zwischen 1075 und 1835. Hierbei bleibt beachtenswert, daß eine Änderung bezüglich der Verteilung der Erkrankungen auf Geschlecht, Altersgruppen oder die Jahreszeiten nicht nachweisbar ist. Der Rückgang der Letalität sowie der Morbidität drückt demnach einen therapeutischen Gestaitwandel aus (8, 20, 21).

Streptokokkenerkrankungen Streptokokkenerkrankungen sind seit der AntibiotikaÄra, zum Teil schon seit der Einführung der Sulfonamide, deutlich zurückgegangen. Dies gilt ganz ausgesprochen für das Erysipel, das sowohl als Epidemie bei Wundinfektion als auch als Einzelerkrankung mit hoher Mortalität selten ist. Es trifft auch für die Streptokokken-Angina und für den Scharlach zu. Auch die Streptokokken-Sepsis und die Endokarditis durch Streptokokken sind seltener geworden. Pneumokokkeninfektionen Die Pneumokokkeninfektionen sind zahlenmäßig geringer und infolge der wirkungsvollen Behandlungsmöglichkeit auch weit weniger gefährlich geworden. Die

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früher so gefährliche kruppöse Pneumonie durch Pneumokokken ist bei Vergleich der Erkrankungsziffern von 1932 bis 1970 um das Zehnf ache zurückgegangen (8).

Gonorrhoe und Lues Schwierigkeiten ergeben sich bei ansonsten therapeutisch gut zu beeinflussenden Infektionskrankheiten dann, wenn der Infektionsweg nur schwer oder nicht zu unterbrechen ist. Die Gonokokkenerkrankungen zeigten bereits nach der Einführung der Sulfonamide, noch viel ausgeprägter nach Beginn der Penicillin-Anwendung, einen starken Rückgang der Morbidität. Diese früher häufigste, oft chronische, weltweite Geschlechtskrankheit ist innerhalb von -10 Jahren bis 1955 zu einer zahlenmäßig bedeutungslosen Infektion geworden. Der beträchtliche Wiederanstieg der Gonokokkenerkrankungen seit 1955-1960 in einer Reihe von Staaten beruht auf sozialen und zivilisatorischen Schwierigkeiten, den Infektionsweg zu unterbrechen. Proppe (14) zeigte auf, daß der Anstieg der Gonokokkenerkrankungen 19561965 parallel der Zunahme des Anteils der Adoleszenz an der Bevölkerung ging. Aus der Bundesrepublik Deutschland liegen genaue Angaben erst seit dem 1. 7. 1970 vor, als eine Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erfolgt war. 1m gleichen Zusammenhang ist auch die epidemiologische Situation des manchen Orts zu beobachtenden Wiederanstiegs der Syphilis zu sehen. Die Syphilis hat seit Einführung des Penicillins mit seiner intensiven Wirkung auf die Treponemen einen starken Rückgang gezeigt, und die tertiären Krankheitsformen der Lues und der Meta-Lues sind selten geworden. Nach 1955 kam es in vielen Staaten zu einem Anstieg der Erkrankung, ohne daß aber der Stand vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde. 1963 wurde die Zahl der venerischen Erkrankungen von der Weltgesundheitsorganisation auf 60-65 Millionen geschätzt und ist bis 1970 nach deren Ermittlungen nicht zurückgegangen. Eine neue Alterskategorie, diejenige der 15- bis 24jährigen, stellt heute mit 50-80% das Hauptkontingent dieser beiden Geschlechtskrankheiten. In den letzten 2 Jahren zeigte sich zwar in der Bundesrepublik Deutschland ein mäßiger Rückgang der an Tripper Erkrankten, die epidemiologische Situation der Syphilis ist aber gleichgeblieben (12, 14, 21).

Poliomyelitis Als Beispiel der Veränderung der epidemiologischen Situation einer Infektionskrankheit infolge von Schutzimpfung kann die Poliomyelitis genannt werden (2, 8, 10, 20, 21).

Die Poliomyelitis wurde durch groß angelegte Impfaktionen in fast ganz Europa, den USA und Kanada nahezu ausgerottet. Hierbei wurden interessanterweise alle drei Möglichkeiten der Schutzimpfung versucht. In den USA wurde zuerst die passive Immunisierung mit y-Globulin begonnen; sie war mühsam, teuer und blieb auch wegen der kurzen, nur über Monate dauernden Wirkung erfolglos. Die aktive Immunisierung durch In-

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Masern Die Masernepidemiologie dokumentiert die Abhängigkeit des Impfschutzes von der Impfintensität in einer Bevölkerung. Mit Schutzimpfungen gelang die Ausrottung der Masern in den USA und der UdSSR, seitdem eine entsprechende Präventionsimpfung ab 1960 bekannt wurde. Während aber in dieser ersten Phase der Impferfolg in den USA deutlich war, zeigte sich eine Zunahme der Masernfälle bereits 1970 und noch ausgeprägter 1971, nachdem die Impfintensität in den USA seit 1969 nachgelassen hatte und die Impfzahlen stark zurückgegangen waren. Dies führte zu einer Minderung des Schutzes vor dieser Krankheit mit dem höchstbekannten Kontagionsindex. Daraus geht hervor, daß nur eine gleich hohe Impfintensität die segensreiche Auswirkung der Schutzimpfung auf die epidemiologische Situation einer Infektionskrankheit zu begründen vermag (8, 20).

Tollwut, Piruzellose und Rindertuberkulose Die Problematik, Anthropozoonosen allgemein durch Ausschaltung des Uberträgers auszurotten, zeigt sich anhand der Tollwut.

Zur Zeit erscheint die Ausbreitung. der Tollwut nicht eindämmbar, solange die Ausschaltung der Wildtiere noch nicht durchführbar ist. Aus diesem Grunde konnte auch die Ausbreitung der Tollwut, ausgehend von der DDR 1953 nach Westdeutschland, ab 1967/68 auf die Schweiz und Luxemburg übergreifend, bis 1971 nicht gestoppt werden. Die Tatsache, daß die Ausbreitung der Fuchstollwut zum Beispiel über eine Distanz von nur 400 km gut 15 Jahre brauchte, erweist im übrigen das ,sehr langsame Vorwärtsschreiten dieser Krankheit. Anders geartet ist die Situation bei der Bruzellose und der Rindertuberkulose. Hierbei gelang es, durch Sanierung des Haustierbestandes ein weitgehendes Verschwinden von Bruzellosen sowie Rindertu herkulosen herbeizuführen. Trotz dieser beachtenswerten Erfolge im Hinblick auf die Epidemiologie der Infektionskrankheiten konnte die cpidemiologische Situation bei anderen Infektionskrankheiten hingegen in den letzten Jahren durch die genannten Faktoren nicht beeinflußt werden (8, 20, 21). Grippe Die Grippemorbiditätsraten sind weitgehend gleichgeblieben. In der Schweiz wurden Grippemorbiditätsraten in den dreißiger Jahren von 40,5 pro 10 000 Personen, 1960 von 32,9 pro 10 000 Einwohner und in Epidemiezeiten im gleichen Bevölkerungsbereich von 76 bzw. 54 pro 10 000 Personen angegeben. Die Einführung der Yakzination hat lediglich für das einzelne Individuum eine Auswirkung, nicht aber auf den epidemischen Verlauf. Ein eigentlicher Wandel der Grippe als menschliche Erkrankung ist nicht festzustellen. Die Gefahr erneuter, ausgedehnter Epidemien ist keineswegs gebannt. Auch andere Viruserkrankungen, welche leicht verlaufen, aber unter Pflege heilbar sind und dank der neuen Therapiemöglichkeiten selten Komplikationen aufweisen, sind in den Ländern ohne generelle Impfaktionen gleichgeblieben. Dies ist deutlich für die Grippe, die Masern, die Mumps und die Röteln erkennbar. Die Mortalität hingegen weist bei den aufgeführten Krankheiten einen starken Rückgang auf (8, 21). Die Morbiditätsraten an Hepatitis epidemica und Salmonellosen nehmen in den zivilisierten Ländern zu (20, 21). Salm onellosen

Die Morbidität an Salmonellosen zeigt bei einem Vergleich über 40 Jahre stark schwankende Zahlen. Die Mortalität dagegen ist von 1930 bis 1970 seit Einführung der modernen Therapie stark zurückgegangen. In den USA beispielsweise stieg die Zahl det bakteriologisch bestätigten Salmonellosen von 1700 im Jahre 1956 auf 20 865 im Jahre 1966. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Morbidität der Enteritis infectiosa (Salmonellosen und übrige Formen) von 3,9 auf 100 000 Einwohner im Jahre 1950 auf 6,2 je 100 000 Einwohner im Jahre 1960 sowie 1965 auf 10,0 je 100 000 Einwohner angestiegen und nimmt noch weiter zu. Die tatsächlichen Erkrankungen betragen aus angegebenen

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jektion mit inaktiven Erregern wurde ab 1955 mit dem Salkschen Impfstoff, der alle drei Poliomyelitis-Viren umfaßte, durchgeführt. Diese Schutzimpfung zeigte in Schweden ein wirkungsvolles Resultat, erwies sich aber in anderen zivilisierten Ländern als nicht durchschiagskräftig genug. Der Prozentsatz der Bevölkerung nämlich, der in die Präventionskampagne einbezogen werden konnte, war meist nicht genügend groß. Ab 1955, allgemein aber ab Anfang der sechziger Jahre, setzte sich die dritte Variante der Schutzimpfung, die orale Schutzimpfung mit einem abgeschwächten, lebenden Erreger, weltweit und mit Erfolg durch. Der Sabinsche Impfstoff hat in den Ländern mit staatlich verordneter Vakzination, beispielsweise im Ostblock, die Poliomyelitis zum Verschwinden gebracht. Aber auch bei freiwilligen Impfaktionen in den westlichen Staaten war der Erfolg durchschlagend, sobald die Mehrheit der jüngeren Bevölkerungsschichten wiederholt geimpft wurde. Repräsentativ hierfür darf gelten, daß in den USA 1970 erstmals kein Todesfall gemeldet und nur noch 19 paralytische Erkrankungen erfaßt wurden. 18 dieser 19 Patienten waren nicht geimpft, und ein Kind wies einen angeborenen Antikörpermangel auf. 1970 und 1971 zeigten sich keine Poliomyelitis-Fälle mehr in der Schweiz. Die Situation in der Bundesrepublik, der Tschechoslowakei, Ungarn und der DDR ist ähnlich. Beachtenswert am Beispiel der Poliomyelitis ist, daß vor allem die aktive und leicht praktikable Schutzimpfung die gewünschte Ausrottung der Krankheit zur Folge hat. Aber erst bei weltweit erfolgtem Impfschutz wird die Poliomyelitis epidemiologisch von untergeordneter Bedeutung sein. In der Dritten Welt ist ein Poliomyelitis-Anstieg zu verzeichnen, der bei ungenügendem Impfschutz eine Importgefahr der Krankheit in poliomyelitisfreie Länder bedeuten kann (18).

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Gründen etwa das Zehnfache, da viele Enteritiden nicht ärztlich behandelt werden. Die Ursache dafür, daß die Salmonellosen nicht abnehmen, ist aber weder beim Erreger noch in der Resistenziage des Menschen zu suchen, sondern in der ungenügenden Lebensmittelhygiene

ein untrügliches Kriterium für die Streukraft der offenen Tuberkulosen. Mit der Industrialisierung im vorigen Jahrhundert fand der Tuberkelbazillus rasche Verbreitung, und als Folge davon stiegen die Sterbezahien der Hirnhauttuberkulose. Seit 1965 ist durch Veränderung

(20, 21).

der allgemeinen sozialen Situation und der Chemotherapie im allgemeinen die Hirnhauttuberkulose bis auf wenige Einzeltodesfälle wegen zu später Erkennung und Behandlung verschwunden. Die Morbidität der Tuberkulose sowohl global als auch nach der echten Morbidität ist durch einen anhaltenden Rückgang gekennzeichnet. In Mitteleuropa zumindest spricht Gsell (8) von einem allmählichen »Austrocknen« der Erregerreservoirs der Tuberkulose (21).

Kran kenhausstatistiken Die bisherigen Ausführungen geben nur ein unvollständiges Bild der Epidemiologie der wichtigsten Infektionskrankheiten. Anhand von Krankenhausstatistiken lassen sich darüber hinaus nämlich Krankheitssyndrome erfassen, die in der täglichen Praxis der Erkennung und Behandlung von Infektionskrankheiten eine bedeutende Rolle spielen, wie die Meningitis serosa sowie verschiedene atypische Pneumonien. Es liegen Ergebnisse von Grün (6) aus den Infektionsstationen Düsseldorf und Krefeld der Jahre 1962 und 1963 vor. Bei den Erwachsenen (1914 Fälle) stehen die Salmonellosen mit 26% an erster Stelle, danach folgen die Enteritis mit 17%, Hepatitis epidemica mit 13%, Typhus abdominalis mit 7% und bakterielle Ruhr mit 6,75%. Bei den Kindern steht der Keuchhusten mit 20% im Vordergrund; es folgen bakterielle Ruhr mit 13%, Scharlach mit 12,5%, Enteritis mit 11% und Hepatitis epidemica mit 9%. Am Schluß erst finden sich bei den Kindern die Meningitis serosa mit 6% und die Salmonellosen mit 5%. In therapeutischer Hinsicht erscheint in diesem Zusammenhang wesentlich, daß im Erregerspektrum der infektionsbedingten Erkrankungen den gramnegativen Erregern eine zunehmende Bedeutung zukommt (13, 15, 21). Diese Beobachtung trifft auch für die Erreger bei der Sepsis und Osteomyelitis zu (4, 5, 13, 16). Die Septikämie findet sich in vergleichbaren Studien in den verschiedenen Regionen um etwa dreimal häufiger bei Vergleich der Inzidenzzahlen im Jahre 1935 und 1965 (5, 13, 16). Schließlich muß auch darauf verwiesen werden, daß die moderne Intensivtherapie durch Beatmungs- und Inhalationsgeräte und Intubation einen nur schwer zu behandelnden Hospitalismus erzeugt, wobei auch Mykosen zu berücksichtigen sind (1, 3, 19).

Tuberkulose Die epidemiologische Situation der Tuberkulose hat sich aufgrund vielschichtiger Entwicklungen verändert. Die Tuberkulose ist aber immer noch die häufigste meldepflichtige Infektionskrankheit in der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Tuberkulose zeigte sich ein anhaltender Rückgang der Mortalität, und zwar schon unter den allgemeinen hygienischen und operativen Maßnahmen von 1900 bis 1940. Unter der neuen anti-

tuberkulösen Chemotherapie und verstärkter BCGDurchimpfung ergab sich von 1946 bis 1970 ein weiterer, viel intensiverer Abfall der Morbiditätsraten. In der Bundesrepublik hat sich die Sterblichkeit an Tuberkulose (Gestorbene auf 100 000 Einwohner) von 1958 bis 1968 von 17,3 auf 10,4 verringert. Die Hirnhauttuberkulose mit ihrer Letalität von 100% war früher

Pocken Aus der Fülle der noch weiter zu nennenden Beispiele sei abschließend der Wandel der Pockenerkrankungen im Rahmen der Epidemiologie der Quarantäne- und tropischen Erkrankungen genannt. Die Pocken zeigten zwischen 1950 und 1960 nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ein starkes Absinken. Die Meldung ging von rund 500 000 pro Jahr, 1958 sogar 748 000, auf Zahlen zwischen 60 000 und 130 000 Fällen pro Jahr zurück. 1970 war die niedrigste Meldungsquote von 31 318 Fällen zu verzeichnen, 1967 waren es noch 131 160. Die Zahl der Länder, in denen die Pocken noch endemisch vorkommen, ist bereits von 27 im Jahre 1967 auf vier Ende 1971 zurückgegangen. Zur Zeit treten rund 80% aller Pockenfälle überhaupt in Indien, Pakistan und Indonesien auf. 1971 ist einzig in Äthiopien, wo erst im Januar 1971 mit einem entsprechenden

Pockenbekämpfungsprogramm begonnen worden war, die Meldezahi stark gestiegen (8). In Europa beschränken sich die Pocken auf Importfälle, die stets lokalisiert geblieben sind. Auf dem europäischen Festland wurden von 1959 bis 1967 428 Pockenfälle und in Großbritannien von 1950 bis 1969 723 neue Fälle gezählt. In den USA und Australien traten keine Erkrankungen mehr auf. Der zuletzt in Westdeutschland aufgetretene Pockenfall in Meschede bei Aachen im Januar 1970 mit 20 Erkrankungen und vier Todesfällen wurde durch einen Gammler verursacht, der von Pakistan zu seinen Eltern zurückgekehrt war, wobei zuerst ein Typhusverdacht angenommen wurde. 1972 kam es in Jugoslawien erstmals seit 42 Jahren wieder zu einer Kleinepidemie (173 rkrankungen mit 34 Todesfällen). Die Pockeneinschleppung erfolgte hier durch einen von Mekka heimkehrenden Pilger. Ein einziger Verschleppungsfall trat von hier aus in der Bundesrepublik Deutschland auf und zeigte, wie gut heute diese schwere Infektion in zivilisierten Ländern durch entsprechende Maßnahmen in Schach gehalten werden kann. Die epidemiologische Situation der Pocken hat in der Bundesrepublik zu einer gesetzlichen Neuregelung der Pockenschutzimpfung geführt. Möglicherweise wird nach dem nächsten Jahrzehnt eine systematische Durchimpfung nicht mehr nötig sein, wenn die weltweiten Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation bezüglich der Pocken zu dem angestrebten Erfolg geführt haben.

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