Kritisches Essay

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Ethische Konflikte in der Psychiatrie als Thema der Supervision

Autor

Beate Mitzscherlich

Institut

Fakultät für Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Westsächsische Hochschule Zwickau

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Supervision ● " Ethikkonsultation ● " Selbstbestimmungsrecht ● " Psychiatrie ●

Keywords

" supervision ● " ethical consultation ● " patient autonomy ● " psychiatry ●

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370211 Online-Publikation: 25.8.2014 Psychiat Prax 2014; 41: 379–384 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Beate Mitzscherlich Fakultät für Gesundheitsund Pflegewissenschaften, Westsächsische Hochschule Zwickau Dr. Friedrichs-Ring 2A 08056 Zwickau [email protected]

Ziel: Der vorliegende Beitrag diskutiert die Frage, inwiefern ethische Konflikte in der Psychiatrie im Rahmen von Supervisionsprozessen verhandelt werden. Methode: In der Analyse von drei Fällen aus der Supervisionspraxis der Autorin werden die ethischen Dimensionen der vorgestellten Supervisionsprobleme herausgearbeitet.

Ergebnis: In allen drei Fällen geht es darum, wie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gegenüber der Notwendigkeit von Hilfe und der Schadensvermeidung zu gewichten ist. Schlussfolgerungen: Supervision als eingeführte Arbeitsform in psychiatrischen Institutionen kann ethische Konflikte herausarbeiten und Behandlungsentscheidungen vorbereiten, eine strukturierte Ethikkonsultation in kritischen Fällen jedoch nicht ersetzen.

Die Supervision ist in der Psychiatrie eine verbreitete Arbeitsform zur Verbesserung der Behandlungsqualität. Inhalt bzw. Ausgangspunkt ist die Reflexion des Umgangs mit als schwierig erlebten Patienten bzw. der fachliche Austausch über in der Behandlung von Patienten auftretende Probleme unter Anleitung eines externen Supervisors. In den meisten Fällen findet diese Supervision als stations- oder einrichtungsbezogene fallbzw. patientenbezogene Supervision statt. Wenn es grundsätzlichere Kooperationsprobleme gibt oder es – gelegentlich auch durch „schwierige“ Patienten ausgelöst – zu stärkeren Konflikten oder Differenzen im Team kommt, wird häufiger die Form einer Teamsupervision gewählt [1]. Neben der Qualifikation des fachlichen Herangehens dient Supervision auch der Entlastung und Gesunderhaltung der Mitarbeiter, die durch die Notwendigkeit permanenter Empathie mit Menschen in Krisenzuständen, aber auch durch damit einhergehenden Aggressionen, Grenzverletzungen oder schwierige Kommunikation oftmals massiv gefordert und auch belastet sind [2, 3]. Je nach Hintergrund des Supervisors, Spezifika des Falles und Kontext der Behandlung werden eher psychodynamische, systemische oder organisationspsychologische Aspekte thematisiert [4]. Unterschiede gibt es auch darin, ob Fälle oder an diesen fallübergreifend relevante Themen eher offen diskutiert werden oder die Supervision zielge-

richtet zur Entwicklung und Vereinbarung von Behandlungsstrategien genutzt wird. Ethische Reflexion ist bisher im Regelfall kein expliziter Gegenstand von Supervision, findet aber in vielen Supervisionssitzungen implizit statt: spätestens dann, wenn einer der Supervisionsteilnehmer die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten aufwirft. Gelegentlich scheinen hinter scheinbar fachlichen Differenzen auch ethische Konflikte bzw. der Bezug auf die in der klinischen Ethik wesentlichen Prinzipien auf. Das ist in erster Linie die Verpflichtung zur Hilfeleistung bzw. der Nutzen, das Vermeiden von Schaden, aber auch der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten [5]. Auch die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit und dem Umgang mit begrenzten Ressourcen spielt in den letzten Jahren eine zunehmend relevante Rolle [6]. Insbesondere die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht psychiatrischer Patienten im Rahmen von Zwangsbehandlungen war in den letzten zwei Jahren Gegenstand einer heftigen Kontroverse, ausgelöst durch zwei Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann [7 – 15]. Diese Urteile und die anschließende Diskussion haben trotz der, aus der teilweise ungeklärten rechtlichen Situation bei einer Behandlungsverweigerung resultierenden, teils extremen Belastung für Patienten und Mitarbeiter bisherige Rou-

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Ethical Conflicts in Psychiatry as a Subject of Supervision Processes

Kritisches Essay

tinen psychiatrischen Handelns unterbrochen oder zumindest infrage gestellt, die Frage nach Behandlungsalternativen zur Zwangsbehandlung neu in den Fokus gerückt [15] und nach meinem Eindruck die Mitarbeiter, sowohl in der Ärzteschaft als auch unter anderen Therapeuten und im Pflegedienst ethisch und rechtlich erheblich sensibilisiert. Bisher erschien mit einer Unterbringung nach Einweisungsgesetz (resp. im Maßregelvollzug [11]) quasi automatisch die Berechtigung zu einer, meist medikamentösen Behandlung auch gegen den Willen des Patienten gegeben. Auch wenn in der Praxis die meisten Psychiater schon aus Gründen des Beziehungs- und Vertrauensaufbaus natürlich versuchten, Behandlungsmaßnahmen zu erklären und die Einwilligung des Patienten zu erreichen, wurden solche jedoch insbesondere bei hohem Handlungsdruck und akut psychotischen Patienten regelhaft auch gegen den Widerstand der Patienten durchgesetzt. In den meisten Fällen schien eine kurz- oder mittelfristige Zustandsverbesserung – zumindest im Nachhinein – die Zwangsbehandlung zu rechtfertigen. Dennoch schildern viele Patienten, selbst jene die durch eine Zwangsbehandlung aus schwersten paranoid-halluzinatorischen Zuständen oder schweren depressiven Episoden (aus Sicht von Außenstehenden) im wahrsten Sinn des Wortes „erlöst“ wurden, die Zwangsbehandlung im Nachhinein als Bevormundung, beim Einsatz physischen Zwanges als Überwältigung oder (bei biografisch vorangegangenen Gewalterfahrungen) im Einzelfall sogar als re-traumatisierend [16]. Hier stellt sich aus ethischer Perspektive die Frage nach dem Verhältnis von geleisteter Hilfe und zugefügtem Schaden. Nach den Grundsatzurteilen des Bundesverfassungsgerichts hat sich die Situation in manchen Kliniken komplett gewendet: Patienten werden beim Vorliegen erheblicher Fremd- oder Selbstgefährdung zwar weiterhin richterlich eingewiesen, durften aber nicht mehr gegen ihren Willen medikamentös behandelt werden, d. h. sie blieben oft über Wochen in akuten, oft hoch psychotischen Zuständen, was einerseits die Angehörigen, andererseits das Pflegepersonal, das im Alltag die Hauptlast der Situation zu tragen hatte, zur Verzweiflung oder auf die Barrikaden trieb. Hier gerät das klare Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten in Konflikt mit der Frage nach einer unterlassenen Hilfeleistung bzw. dem Schaden, der für den Patienten und seine soziale Umgebung, aber auch für Mitarbeiter oder Mitpatienten aus dieser Situation entsteht. Gelegentlich entstand der Eindruck, dass die Höherbewertung der Freiheitsrechte u. U. dazu führt, dass gerade die schwächsten, v. a. hoch psychotische Patienten unter diesen juristischen Rahmenbedingungen in den sozialen Abstieg manövriert werden bzw. wie es in der amerikanischen Diskussion formuliert wurde, „rotten with their rights on“ [8]. Nicht zuletzt spielt unter den Bedingungen einer zunehmend ökonomisierten Gesundheitsversorgung auch die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle, da medikamentös unbehandelte, akut psychotische Patienten bzw. ihre Überwachung in einem hohen Maß personelle Kapazitäten binden, die anderen Patienten u. U. fehlen. Auch nach weiteren rechtlichen Klärungen und einer Reihe fachlich qualifizierter Stellungnahmen zur Zwangsbehandlung, bleibt die Entscheidung im Einzelfall komplex und – in fachlicher und ethischer Hinsicht – kompliziert. Aus dieser Situation resultiert m. E. die verstärkte Notwendigkeit, ethische Konflikte auch explizit zum Gegenstand der Supervision zu machen. Anders als im stark strukturierten und logisch gegliederten Vorgehen einer klinischen Ethikkommission, die zwingend zu einer Behandlungsentscheidung führt, geht es in der Supervision, wie in den nun folgenden Fallbeispielen gezeigt werMitzscherlich B. Ethische Konflikte in … Psychiat Prax 2014; 41: 379–384

den soll, eher um die Entwicklung ethischer Reflexionsfähigkeit bzw. das induktive Herausarbeiten der im konkreten Fall relevanten ethischen Konfliktlinien, um Behandlungsentscheidungen vorzubereiten, abzustimmen oder adäquat begründen zu können.

Akutstationärer Alltag – medikamentöse Behandlung gegen den geäußerten Willen eines akut psychotischen Patienten? !

In der Fallsupervision der Akutstation einer größeren psychiatrischen Klinik wurde ein 27-jähriger Patient vorgestellt, der das zweite Mal wegen einer Schizophrenie stationär untergebracht war. Eine erste schizophrene Episode kurz vor Abschluss seines Chemiestudiums, die mit massiven Halluzinationen und Verfolgungsängsten einherging, war im Rahmen einer sechswöchigen richterlichen Unterbringung, die die Mutter mithilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes initiiert hatte, neuroleptisch gut behandelbar gewesen, diese hatte nach dreimonatiger stationärer und anschließender ambulanter Behandlung zu einem relativ stabilen Zustand geführt, in dem es ihm auch gelungen war, sein Studium mit nur gut einem Jahr Verspätung abzuschließen. Da ihm im Anschluss kein Berufseinstieg glückte, war er gezwungen, zu seiner Mutter zurückzuziehen, und verbrachte seine Tage im Umfeld einer Psychiatriebetroffeneninitiative, in der er sich intensiv mit psychiatriekritischen Informationen insbesondere zu Nebenwirkungen der Neuroleptikabehandlung beschäftigte [17]. Nach eigenständigem Absetzen der Medikamente gegen den Rat der ambulant behandelnden Ärztin kam es wieder zu einem akut psychotischen Zustand mit Vergiftungsphantasien, in dem er eine stationäre Aufnahme ablehnte und schließlich erneut mit richterlichem Beschluss eingewiesen wurde. Ausschlaggebend für die richterliche Unterbringung war die Selbstgefährdung durch Nahrungsverweigerung, er war bereits stark abgemagert, da er sämtliche von der Mutter angebotenen Lebensmittel für vergiftet hielt. Selbstverständlich lehnte er auf der Akutstation eine medikamentöse Behandlung ab, war auch hier nur unter langem Zureden und „Vorkosten“ zur Nahrungsaufnahme zu bewegen, wanderte den ganzen Tag unruhig und agitiert über die Station und verwickelte Ärzte und auch Pflegekräfte, deren er habhaft werden konnte, in langwierige Grundsatzdiskussionen über Psychopharmaka und deren Nebenwirkungen. In der Supervision erschien das zunächst als Team- bzw. Berufsgruppenkonflikt, die Pflegekräfte warfen – auch in Identifikation mit der sehr besorgten Mutter des Patienten – dem (vergleichsweise jungen) Stationsarzt sein „Nichtstun“ vor bzw. dass er nicht „durchgreife“ und den Patienten endlich „richtig“, nämlich medikamentös behandele. Die Kompetenz des Arztes wurde dabei nicht nur unterschwellig infrage gestellt. Dieser stellte sich auf den, zu diesem Zeitpunkt sowohl rechtlich als auch fachlich korrekten Standpunkt, dass der Patient nicht gegen seinen geäußerten Willen behandelt werden dürfe, zumal dessen Verweigerung partiell rational begründet wäre und der Patient durchaus noch kommunikativ erreichbar sei. Die Psychologin versuchte den Konflikt zu entschärfen, indem sie das Verhalten des Patienten aus einer biografisch-entwicklungspsychologischen Perspektive als Ablösungskonflikt interpretierte. Die Sozialarbeiterin verwies – ebenfalls in Identifikation mit der Mutter – auf die problematischen sozialen Konsequenzen einer Langzeitbehandlung. („Dann geht es immer weiter bergab.“) Supervisionstechnisch hätte man die Situation unter einer psychodynamischen oder familiensystemischen

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Kritisches Essay relevanten – Psychiatrieproblems: Wie viel Autonomie bzw. Selbstbestimmung ist möglich? Wie viel Hilfe ist zu welchem Zeitpunkt nötig und wer entscheidet, was der Patient braucht? Wie ist es um die Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit in Psychosen – bzw. immer beim konkreten Patienten – bestellt? Darüber hinaus erlaubte die ethische Reflexion des Konflikts, alle Teammitglieder als gleich erwachsene und verantwortungsbewusste Personen ernst zu nehmen und nicht auf Machtkämpfe im Team oder Berufsgruppenkonflikte zu fokussieren.

Patientenwille oder Kindeswohl? – Ethische Konflikte an den Schnittstellen der Hilfesysteme !

Während der letzte Konfliktfall eher zum Alltag stationärer Einrichtungen gehört, ist der nächste zwar (insbesondere nach der bundesweiten Frühe-Hilfen-Offensive) verbreiteter als man vermuten würde, aber noch etwas komplexer, da er im Schnittfeld verschiedener Hilfesysteme stattfindet. Hier steht das Recht auf Autonomie (einer psychiatrischen Patientin) unter Umständen in Konflikt mit dem Kindeswohl bzw. dem möglichen Schaden für ein neugeborenes Kind. Vorgestellt wurde er in einer Supervision bei einem Sozialpsychiatrischen Dienst. Die 41-jährige Patientin wird seit fast 20 Jahren im psychiatrischen System einer Großstadt, teils stationär, teils ambulant unter mehrfach wechselnden Diagnosen behandelt. Ursprünglich als Angststörung beschrieben, findet sich nach mehreren, teils schweren depressiven Episoden, in den letzten Jahren vorwiegend die Diagnose Persönlichkeitsstörung, wobei schwer zu beurteilen ist, inwieweit das einerseits hilfesuchende, andererseits hilfeverweigernde Verhalten der Patientin selbst das Ergebnis einer langjährigen Patientenkarriere ist. Im letzten Jahr hatte sich das Befinden der Patientin durch eine Liebesbeziehung zu einem Mann, der ebenfalls eine psychiatrische Diagnose hat, aber seit mehreren Jahren symptomfrei (mit Dauermedikation) lebt, deutlich stabilisiert; sie wurde schwanger, hat sich entschieden, das Kind zu bekommen und im Verlauf der Schwangerschaft, trotz immer wieder aufflackernder Angstzustände, alle Medikamente abgesetzt. Nach einer Kaiserschnittentbindung schien zunächst ein – zwar durch den postoperativen Zustand beeinträchtigter, aber weitgehend normaler Bindungsaufbau gegeben: die Patientin stillte das Kind, der Kindsvater und das weitere Familiensystem waren präsent und unterstützend. Am 6. Tag nach der Entbindung suchte eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD), den die Frau bereits in der Schwangerschaft um Unterstützung angefragt hatte, sie im Krankenhaus auf. Bereits im ersten – vermutlich kommunikativ misslungenen Hilfegespräch – wurde eine Inobhutnahme des Kindes angedroht, da die Frau aufgrund ihrer psychischen Störung der Kindererziehung offensichtlich nicht gewachsen sei. Von Panik überflutet aktivierte die Mutter nicht nur im Familiensystem, sondern auch darüber hinaus Unterstützung, es kam zu einer Mastitis, das Kind konnte nicht mehr ausreichend gestillt werden und nahm nach einigen Tagen der Gewichtszunahme wieder ab. Daraufhin wurde die Frau auf der Entbindungsstation relativ engmaschig betreut bzw. überwacht und permanent zum Stillen angehalten, was zu weiteren Konflikten mit Pflegepersonal und Hebammen und schließlich zur Stillverweigerung führte und den ASD in seiner Schutzfunktion für das Kind zu bestätigen schien. Eine von den Angehörigen initiierte Begutachtung in der Mutter-Kind-Station einer großen psychiatrischen Klinik führte zu einem positiven Gutachten: in einem ruhigen, wohlwollenden, nicht bevormundenden Klima zeigte Mitzscherlich B. Ethische Konflikte in … Psychiat Prax 2014; 41: 379–384

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Perspektive auch als Übertragung des vermutlich auslösenden Mutter-Sohn-Konflikts, quasi als „Spiegelphänomen“ bearbeiten können. Oder man hätte organisationspsychologisch die berufsspezifischen (auch haftungsrechtlichen) Perspektiven thematisieren können, die die jeweiligen Sichtweisen beeinflussten. Die Entscheidung, den ethischen Konflikt hinter den einzelnen Haltungen herauszuarbeiten, war in diesem Fall in erster Linie dem vorangegangenen Supervisionsprozess geschuldet, da das Thema Selbstbestimmung in diesem Team seit Längerem immer wieder kontrovers diskutiert wurde. In der ethischen Reflexion wurde zunächst der Konflikt zwischen „Hilfe leisten“ und „Selbstbestimmung des Patienten respektieren“ detailliert besprochen, was die Beteiligten jeweils als „Hilfe“ für den Patienten ansahen und was sie für das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hielten. Dabei wurde schnell klar, dass dieser in gewisser Hinsicht ein Kernkonflikt psychiatrischen Handelns (insbesondere unter den Bedingungen der Psychose) ist. Der kritische Punkt war dabei die Frage, wie es um die Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit des Patienten stünde. Hier neigten die Pflegekräfte dazu, sie dem Patient aufgrund der Diagnose Schizophrenie und der geäußerten paranoid-halluzinatorischen Inhalte prinzipiell abzusprechen; sowohl Arzt als auch Psychologin verwiesen aber auf „Inseln der Erreichbarkeit“ und die zwar aufwendig herzustellende, aber letztlich gelingende Compliance bei der Nahrungsaufnahme. Mit der regelmäßigen Nahrungseinnahme war auch eine gewisse Stabilisierung verbunden. Diskutiert wurde dann auch, welche Rolle andere grundlegende Werte klinischer Ethik – „Schaden vermeiden“ und „Verteilungsgerechtigkeit“ in diesem Fall spielten. Schaden vermeiden wurde von den Pflegekräften und der Sozialarbeiterin vorwiegend auf der Ebene der sozialen Perspektive gesehen, ein Punkt der von Arzt und Psychologin durchaus ernst genommen wurde. Sie bewerteten aber den Schaden, der für den Patienten aus einer Zwangsbehandlung entstünde (abgesehen von deren Unrechtmäßigkeit), als aktuell gravierender. In der Diskussion wurde klar, dass der Arzt – durchaus auch im Sinne der Pflegekräfte – Hilfe leisten, d. h. natürlich auch medikamentös behandeln wollte, aber eben auf häufigen Patientenkontakt, geduldige Überzeugung und fachliche Argumentation setzte. Hier wurde wiederum die Position der – häufig in Unterbesetzung arbeitenden – Pflegekräfte besser verständlich, die im Alltag durch die Diskussionen mit dem Patienten sehr erschöpft und in der Betreuung anderer Patienten behindert waren. Auch das ist unter dem Aspekt der Gerechtigkeit ernst zu nehmen. Als grundsätzliche Strategie konnte vereinbart werden, dass die Pflegekräfte diese Diskussion mit dem Patienten nicht führen müssen, sondern sich hier klarer abgrenzen und an den Arzt verweisen können. Eine weitere Konsequenz war, dass die Mutter des Patienten vom Arzt zu einem Angehörigengespräch eingeladen werden sollte, sodass sie nicht mehr über die Pflegekräfte ihre Sichtweise einbringen muss. Es wurde auch über die zeitliche Perspektive – wie lange können wir den Patienten im jetzigen Zustand ohne Medikation (aus)halten? – gesprochen und vereinbart, dass nach weiteren zwei Wochen im Rahmen einer internen Fallbesprechung geprüft wird, ob die nach der Supervision von allen gemeinsam getragene Entscheidung, zu einer medikamentösen Behandlung ohne Zwang zu gelangen, so noch tragbar ist bzw. den Verlauf gemeinsam zu bewerten. Insgesamt war die Atmosphäre nach diesem Gespräch deutlich entspannter, kooperativer und sachlicher, was man möglicherweise auch auf anderem Weg – z. B. durch eine Teamsupervision – hätte erreichen können, der Vorteil der ethischen Reflexion war aber nicht nur die Thematisierung eines grundsätzlichen – auch in anderen Fällen

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sich die Patientin kognitiv klar und gut auf das Kind bezogen; ihr Bedrohungserleben wurde von der Psychiaterin als situationsadäquat beurteilt; diese konnte aus psychiatrisch-fachärztlicher Sicht keine Anzeichen für Kindeswohlgefährdung erkennen. Das positive Gutachten wurde jedoch vom ASD bei seiner Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt; vielmehr wurde in Absprache mit der Entbindungsstation eine Entlassung der Mutter mit dem Neugeborenen nach Hause ausgeschlossen; sie konnte nur noch entscheiden, ob sie mit dem Kind auf die Mutter-Kind-Station des psychiatrischen Fachkrankenhauses oder ohne Kind wieder nach Hause geht. Da sie sich selbst nicht (mehr) als psychiatrische Patientin sieht und sich durch das fachärztliche Gutachten darin bestätigt sah, wollte sie nicht in die Psychiatrie verlegt, sondern nach Hause entlassen werden, das Kind wurde infolgedessen – mit einer aus ihrer Sicht erpressten Zustimmung – zunächst im Kindernotdienst in Obhut genommen und am nächsten Tag in eine Bereitschaftspflege vermittelt. Einen ersten Besuchstermin nahm die Mutter nicht wahr, da sich die Kaiserschnittnarbe entzündet hatte und sie von ihren Schmerzen, Ängsten und abwechselnden Wut- und Ohnmachtsgefühlen gegenüber den Institutionen absorbiert war. Zu einem zweiten Besuchstermin kam es nicht, weil sie zur Versorgung der inzwischen septischen Wunde wieder stationär gynäkologisch aufgenommen wurde. Nach ihrer physischen Stabilisierung und Entlassung nach Hause, nahm die Mutter die nächsten Besuchstermine bei ihrem Kind zwar regelmäßig wahr, klagte aber über Herzschmerzen und reagierte zunehmend depressiv auf die Trennung von ihrem Kind. Die Supervisionsthematik im Sozialpsychiatrischen Dienst resultierte zunächst aus einer starken Identifikation mit der Patientin als Mutter und einer massiven Empörung über das Vorgehen des ASD – der vorurteilsbehaftet und in Bezug auf psychiatrische Diagnosen nicht ausreichend qualifiziert sei und nun zum wiederholten Mal allein aufgrund einer psychiatrischen Diagnose eine voreilige Inobhutnahme eingeleitet hätte. Auf einer zweiten Ebene kam dann aber relativ schnell zutage, dass der scheinbar zwischen den Institutionen aufgeteilte Wertekonflikt: Autonomie der Mutter vs. die Bewahrung des neugeborenen Kindes vor Schaden, durchaus auch bei den Mitarbeitern des Sozialpsychiatrischen Dienstes präsent war. Die mit der Patientin näher bekannten Kollegen hatten selbst starke Zweifel, ob die Patientin die Dezentrierungsleistung, die ein in hohem Maß bedürftiges und vulnerables Neugeborenes verlangt, dauerhaft erbringen kann, insbesondere dann, wenn sie sich durch äußere Ereignisse akut überfordert oder bedroht sieht. Unabhängig von der (fachlichen) Risikoeinschätzung, die offensichtlich beim ASD nach anderen Kriterien erfolgte als in der psychiatrischen Beurteilung, war aber auch hier das Herausarbeiten des ethischen Konflikts wichtig: Unter Umständen steht das Kindeswohl und das physische Überleben eines abhängigen und vulnerablen Säuglings tatsächlich gegen den ebenfalls berechtigten Autonomieanspruch der Mutter, der natürlich auch beinhaltet, ihre Mutterrolle ohne permanente institutionelle Kontrolle und Bevormundung entwickeln zu können. Diese – auf der Ebene der ethischen Reflexion erarbeitete Einsicht ist auch Voraussetzung für eine weitere praktische Lösung des Konflikts, zu der es nur in Zusammenarbeit der Systeme Psychiatrie und Jugendamt – unter Einbeziehung des in hohem Maß unterstützungsbereiten Angehörigensystems – kommen kann. Auffällig ist in diesem Fall der beträchtliche Effekt von Stigmatisierungsprozessen: unter anderem wurde die eigentlich unterstützende Rolle des Vaters aufgrund seiner psychiatrischen Diagnose vom ASD völlig negiert bzw. spielte keine Rolle bei der Inobhutnahme. Insgesamt ist hier Mitzscherlich B. Ethische Konflikte in … Psychiat Prax 2014; 41: 379–384

nicht nur die Kooperation zweier Hilfesysteme das Problem, die unterschiedlichen Systemlogiken, also fachlichen Standards, rechtlichen Bestimmungen und Finanzierungsrichtlinien folgen. Damit im Zusammenhang stehende Sicherungstendenzen führen offensichtlich dazu, dass Jugendamt und SPDi jeweils eine Seite des (ethischen) Konflikts – Kindeswohl bzw. fairer Umgang mit psychiatrischen Patienten „gepachtet“ zu haben scheinen und sich dahinter „verbarrikadieren“, wobei wesentliche Aspekte – z. B. die Hilfsangebote des Angehörigensystems – aus dem Blick geraten. Durchaus fragwürdig ist hier übrigens auch die Rolle der Entbindungsklinik, die genau wie der ASD einseitig das Kindeswohl gegenüber dem Wohl der Mutter priorisiert hat, ansonsten hätte sie diese als Patientin vor dem Zugriff des ASD noch im Wochenbett schützen müssen. Ethische Debatten im Umfeld der meist medizinisch, aber gelegentlich auch sozial begründeten Spätabtreibungen oder bspw. im Fall des 1992 von einer seit längeren Zeit hirntoten Frau im Uniklinikum Erlangen entbundenen Kindes zeigen, dass der Wert Kindeswohl immer auch gegen die Situation der Mutter verhandelt werden muss. Aus einer systemischen Perspektive heraus ist das Kindeswohl ohnehin nur in einer Mutter-Kind-Beziehung, die die Wahrung der Integrität der Mutter mitbeinhaltet, zu garantieren.

Vertrauensbeziehung und ärztliche Rolle – ethische Konflikte im Umfeld einer Suizidankündigung !

Als letztes möchte ich auf ein Thema eingehen, das in der klinischen Ethik sehr häufig zu Beratungsbedarf führt, in der Psychiatrie jedoch auf den ersten Blick weniger relevant zu sein scheint als beispielsweise auf Intensivtherapiestationen: Es geht um Entscheidungen am Lebensende. Zwar versterben in psychiatrischen Kliniken vergleichsweise wenige Patienten, der Umgang mit der Suizidalität von Patienten ist aber für viele Mitarbeiter nicht nur psychisch belastend, sondern führt in manchen Fällen auch zu ethischen Konflikten. Der folgende Fall ist mir in einer Supervision mit im Rahmen eines gemeindepsychiatrischen Verbundes ambulant tätigen Ärzten vorgestellt worden. Es ging um eine über 60-jährige Patientin, die seit mehr als 15 Jahren mit schweren depressiven Zuständen zu kämpfen hat und bei der es, trotz mehrfacher, oft lang dauernder stationärer Aufenthalte und relativ hoch dosierter Antidepressiva keine dauerhafte Zustandsverbesserung gab. Die Ärztin, die den Fall vorstellte, war von Anfang an ambulante Bezugstherapeutin der Patientin gewesen und hatte über die Jahre eine vergleichsweise enge Vertrauensbeziehung zu dieser Klientin aufgebaut. Im Rahmen eines Bereitschaftsdienstes beim Krisentelefon des gemeindepsychiatrischen Verbundes – das vorwiegend von chronischen Patienten genutzt wird, die schon beim gemeindepsychiatrischen System angebunden sind, wurde sie – quasi anonym – von dieser Patientin angerufen, die ihr sehr klar, entschieden und sachlich ankündigte, dass sie sich von ihr verabschieden wolle, da sie nicht mehr die Kraft habe, weiter gegen die Depression anzukämpfen. Alle Interventionen der Ärztin vermochten nicht, sie von diesem Entschluss abzubringen, eine stationäre Aufnahme, in die sie bei vorangegangenen suizidalen Krisen mehrfach eingewilligt hatte, lehnte sie ab. Sie habe nur noch einmal mit der Ärztin sprechen, ihr für ihr Bemühen danken und sich verabschieden wollen. Danach legte sie auf. Die Ärztin, die die Patientin trotz des anonymen Settings (er)kannte, informierte daraufhin Polizei und Notarzt, die zur Wohnung der Patientin fuhren und sie in die Klinik brachten. Das Problem der gemeindepsychiatrisch sehr erfahre-

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Kritisches Essay Supervision und ethische Beratung – sinnvolle Ergänzung oder Widerspruch? !

Wenn man sich das Vorgehen in diesen drei Supervisionssitzungen, die notwendigerweise verkürzt dargestellt sind, noch einmal verdeutlicht, sieht man, dass in diesen Fällen insofern die übliche Ebene der Supervision verlassen wird, als man über die im engeren Sinn psychiatriefachliche, psychologisch-interpersonale oder gruppendynamische Ebene hinausgeht und die vorgestellten Fälle explizit auf der normativ-ethischen Ebene verhandelt: Was sind Normative, an denen sich hier zu orientieren ist? Welche (kollektiven) Werte (nicht nur individuelle Werthaltungen) stehen im konkreten Fall im Konflikt? Wie sind diese gegeneinander zu verhandeln und zu gewichten? Das ist sicher nicht in jeder Supervision nötig, die Mehrzahl wird weiter die Reflexion fachlicher oder Beziehungsprobleme zur Verbesserung der Behandlungsqualität fokussieren. Es ist aber möglich: und zwar dann, wenn hinter einem „Behandlungsproblem“ ein ethischer Konflikt erkennbar wird. Gleichzeitig setzt die Arbeitsform der Supervision der ethischen Abwägung auch Grenzen, da sie grundsätzlich als offener und interpersonal orientierter Prozess angesetzt ist, weniger systematisch als eine klinische Ethikkonsultation abläuft [18, 19] und – im Unterschied zu dieser – auch nicht notwendig zu einer Entscheidung führen muss, da ein Supervisionsprozess Themen oft über mehrere Sitzungen entwickelt und variiert und in diesem Sinn eher qualifikations-, team- und organisationsentwickelnd wirken soll. Zumeist ist es im Rahmen einer Supervision auch nicht möglich, die mit ethischen Konflikten häufig verknüpfte rechtliche Dimension ausreichend präzise abzubilden. Nicht zuletzt hängt das Ausmaß, in dem ethische Konflikte im Rahmen einer Supervision thematisiert werden können, von der entsprechenden Qualifikation und ethischen Sensibilität des Supervisors ab. Im Moment ist es eher die Ausnahme, dass Supervisoren eine Zusatzausbildung in ethischer Konsultation haben und Ethikberatung bzw. die Reflexion ethischer Konflikte ist bisher kein zwingender Bestandteil der Supervisionsausbildung.

Konsequenzen für Klinik und Praxis Aus Sicht dieser Arbeit spricht einiges dafür, die Supervision mehr als bisher auch zur ethischen Reflexion in der Psychiatrie zu nutzen. Zum einen, weil viele Fälle in der Psychiatrie – insbesondere im Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten – diese Dimension beinhalten. Zum anderen eben, weil die Supervision eine bereits eingeführte Form der Reflexion in der Psychiatrie ist, und interne Fallbesprechungen in jedem Fall um eine externe Perspektive ergänzt und erweitert. Möglicherweise wäre die Supervision auch ein Raum, in dem ethisches Wissen und Denken in Bezug auf konkrete Fälle vermittelt werden könnte. Damit könnte sie Ausgangspunkt für eine stärker strukturierte und systematische Ethikkonsultation in kritischen Fällen werden, die zumindest in größeren psychiatrischen Krankenhäusern oder Abteilungen auch strukturell etabliert werden sollte. Nicht um den in der Psychiatrie ohnehin schon manchmal überhandnehmenden Reflexionsgremien ein Weiteres hinzuzufügen, sondern weil angesichts wachsender Komplexität vieler psychiatrischer Fälle und auch angesichts eines absehbar steigenden ökonomischen Drucks auf psychiatrische Kliniken [20] eine kompetente Diskussion auch auf einer normativ- ethischen Ebene

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nen Ärztin war, dass sie im Nachhinein mit dieser Entscheidung „Gewissenskonflikte“ hatte und ihre Intervention als „Vertrauensbruch“ empfand. Sie war unsicher, ob sie die ja quasi unter dem Schutz der Anonymität erfolgte Verabschiedung, gegen den Willen der Patientin, die diese Entscheidung ja nicht leichtfertig oder aus einer akuten Verzweiflung heraus treffen wollte, vielleicht fälschlicherweise mit einer zwangsweisen Einweisung beantwortet habe. Obwohl die Diskussion der Kollegen sehr schnell darauf hinauslief, dass sie fachlich absolut korrekt gehandelt habe und im Rahmen der ärztlichen Rolle, die zur Hilfeleistung verpflichte und dazu, Schaden zu vermeiden, so handeln habe müssen, wurde dabei auch deutlich, dass die meisten Kollegen den „Gewissenskonflikt“ auf einer grundsätzlicheren Ebene verstanden oder zumindest nachfühlen konnten. Einer der Kollegen formulierte: Gilt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht auch für den Zeitpunkt des eigenen Todes bzw. die Frage, wie viel Leiden (an der Depression) man aushalten muss? Wieso wird ein Suizid bzw. das Unterlassen ärztlicher Hilfe bei schweren Körperkrankheiten (Endstadien onkologischer Erkrankungen, ALS o. Ä.) unter Medizinern relativ toleriert bzw. sogar mit einem gewissen Respekt betrachtet, bei langwierigem psychischen Leiden aber als fachliches oder gar persönliches Scheitern angesehen? Allerdings wurde von den ärztlichen Kollegen auch darauf hingewiesen, dass die Patientin die Ärztin nicht hätte anrufen müssen und sich des Risikos, dass diese sie an der Umsetzung ihres Beschlusses hindern könnte oder sogar müsste, wohl bewusst war, da sie einschlägige Vorerfahrungen hatte. Insofern kann der Anruf durchaus auch als Appell an das ärztliche Handeln verstanden werden. Bei der Bearbeitung des Konflikts auf einer explizit ethischen Ebene, wurden wiederum die verschiedenen Werte gegeneinander verhandelt und die Hilfeleistung bzw. die Schadensabwendung als in diesem Fall dem Selbstbestimmungsrecht der Patientin übergeordnet bewertet: Erstens, weil von einer klaren Krankheitswertigkeit der Depression auszugehen sei und die Entscheidung der Patientin damit keinem „freien Willen“ im engeren Sinn entspringen würde. Dieses ist im Grunde das Kriterium, das zum Eingreifen zwingt und das auch in anderem Umfeld-, bspw. bei der Bewertung von Behandlungsverweigerungen im somatischen Bereich bzw. Entscheidungen am Lebensende, eine wesentliche Rolle spielt. Zweitens geht es um ein Verständnis der aus der ärztlichen Rolle entstehenden Verpflichtung: Die Fähigkeit der Patientin, selbst Schaden von sich abzuwenden, erscheint erkennbar eingeschränkt und der Arzt ist, entsprechend des hippokratischen Eides, damit zum Handeln aufgerufen. Natürlich spielt auch die Abwägung eines, wie in diesem Fall nicht erteilten Behandlungsauftrags eine Rolle für das ärztliche Handeln, allerdings muss in der Argumentation der möglicherweise appellative Charakter des Anrufs mitbedacht werden. Die Patientin hätte auf diesen Anruf auch verzichten können, wenn ihre Entscheidung zum Suizid unwiderruflich wäre. Drittens ist auch mit einer (vorübergehenden) Unterbringung das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, auch bezüglich des eigenen Todes, nicht außer Kraft zu setzen, wie viele psychiatrisch Tätige leidvoll erfahren haben. Das Argument der möglicherweise gestörten Vertrauensbeziehung ist gegenüber diesen Fragen nach Tod oder Leben schwächer, wenn die Patientin lebt, ist das im Nachhinein besprechbar, wenn sie aber stirbt, ist die Beziehung ohnehin beendet.

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zunehmend wichtiger wird. Nicht zuletzt geht es darum, nicht nur die professionelle Rolle und ethische Grundhaltung von Ärzten, Pflegenden und anderen Berufsgruppen in der Psychiatrie immer wieder zu stärken, sondern auch darum, ethische Normative in der Struktur psychiatrischer Organisationen dauerhaft zu verankern [21]. Nur so kann einem Missbrauch der Psychiatrie oder einer Umfunktionalisierung zum Disziplinierungs- oder Ausleseinstrument begegnet werden.

Interessenkonflikt !

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Ethical Conflicts in Psychiatry as a Subject of Supervision Processes !

Objective: The objective of the paper is to discuss, how far supervision processes in psychiatry are used for ethical consultation. Method: Analyzing three cases from the supervision practice of the author ethical conflicts in psychiatric care are described and discussed. Results: Ethical conflicts in psychiatric care mostly concern the conflict between patient autonomy and the need of psychiatric treatment, questions about professional role, but also the question of equitable utilization of limited treatment resources. In each of the discussed cases it can be asked, how far the patient is able to understand the benefits and necessity of treatment and provide consent and the possible consequences of non-treatment. Conclusion: Supervision can be a useful means of addressing and reflecting on ethical conflicts in psychiatry. As a common process of the team it can argue and prepare treatment decisions and strengthen the ethical orientation among the staff. Because of the more open process and the long-term professionalization attitude it can support but not replace more formal and highly structured ethical consultation in critical cases and the establishment of ethic commission, ethic codices and rules in psychiatric institutions.

Mitzscherlich B. Ethische Konflikte in … Psychiat Prax 2014; 41: 379–384

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[Ethical conflicts in psychiatry as a subject of supervision processes].

The objective of the paper is to discuss, how far supervision processes in psychiatry are used for ethical consultation...
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