Originalarbeit

Evaluation eines Modells zur sektorübergreifenden Integrierten Versorgung mittels Leistungsnutzung, Zufriedenheit und Symptomlast Evaluation of a Model of Cross-Sectoral Mental Health Care (Integrated Health): Service Use and Treatment Quality Autoren

Petra Schmid, Erich Flammer, Dieter Grupp, Tilman Steinert

Institut

Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" integrierte Versorgung ● " sektorübergreifende ● " ● " ● " ●

Versorgung Leistungsnutzung Behandlungszufriedenheit Symptomlast

Keywords

" integrated health ● " care systems ● " health care financing ● " administration ● " evaluation ●

!

Anliegen: Evaluation eines Vertrags zur sektorübergreifenden Integrierten Versorgung (IV) für alle psychiatrischen Diagnosen. Methode: Die stationäre und ambulante Leistungsnutzung wurde für das Jahr vor und nach Einschreibung, Zufriedenheit und Symptomlast der IV-Gruppe und einer Kontrollgruppe (KG) für das Jahr nach Einschreibung erhoben.

Einleitung !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1387231 Online-Publikation: 3.11.2014 Psychiat Prax 2015; 42: 448–454 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Petra Schmid Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm Weingartshoferstraße 2 88214 Ravensburg [email protected]

Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist die bestehende kostenrechtliche und inhaltliche Trennung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland [1, 2]. Bis zur Einführung des neuen Psychiatrieentgelts werden stationäre Klinikleistungen nach tagesgleichen, individuell verhandelten Pflegesätzen vergütet, die ambulante Leistungserbringung in den psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) nach Pauschalen (wie z. B. in Baden-Württemberg) bzw. Leistungsziffern (z. B. in Bayern). Auch nach Einführung des neuen Entgeltsystems wird diese kostenrechtliche Trennung bestehen bleiben, was inhaltliche Folgen hat. Neben dem Verlust der Behandlungs- und Beziehungskontinuität [1] treten Schnittstellenprobleme wie Informationsverlust [3] auf. Ferner unterscheiden sich ambulante und stationäre Angebote in Auslastung, Ausbau und Entwicklung [4 – 6]. Gut evaluierte alternative Angebote zur stationären Behandlung wie Home Treatment werden nicht kostendeckend vergütet und entsprechend nur in Modellprojekten angeboten [7]. Nach Meinung von Experten resultieren die genannten Probleme aus dem Vergütungsprinzip „Fee for Service“ [2, 8]. Eine Möglichkeit zur Überwindung dieser Problematik bieten sektorübergreifende Versorgungsansätze. Die gesetzliche Grundlage hierzu wird im neuen Entgeltsystem

Schmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

Ergebnisse: Eingeschriebene nutzten bereits im Jahr vor Einschreibung die Leistungsangebote umfangreicher als die Ablehner der IV. Im Vergleich mit der KG zeigte sich für die IV eine Zunahme ambulanter und eine Reduktion stationärer Leistungen. Zufriedenheit und Symptomlast unterschieden sich nicht. Schlussfolgerung: Unter Bedingungen der IV-Versorgung findet Behandlung ohne Qualitätseinbußen vermehrt ambulant statt.

im § 64b SGB V geregelt. Wird die Leistungserbringung pauschaliert vergütet (unabhängig von Behandlungsdauer, -ort, -setting) und wird zusätzlich der Versorgungsauftrag langfristig vereinbart, verändert sich die Perspektive der Leistungserbringer von „Fee for Service“ zu „Gewährleistung für Behandlung“ [5]. Der Leistungserbringer ist bei möglichst geringem Ressourceneinsatz an einer langfristigen Beschwerdefreiheit des Patienten interessiert. Die Modelle setzen beim Leistungserbringer Anreize für eine qualitätsorientierte, effiziente Patientenversorgung und damit die Sicherung der Ergebnisqualität [8]. Gleichzeitig bietet die gewonnene Unabhängigkeit zwischen Leistungserbringung und Vergütung die Möglichkeit zur Umsetzung bis dato nicht leistungsgerecht finanzierter Ansätze. Ambulante Leistungen, auch Krankenhausersatzbehandlungen wie Home Treatment, können ausgebaut und die stationäre Versorgung kann ohne betriebswirtschaftliche Einbußen reduziert werden [6, 8 – 10]. Im Jahr 2010 konnten sektorübergreifende Versorgungsansätze über das Regionale Psychiatriebudget (wie in Steinburg [2]) und über die sektorübergreifende Integrierte Versorgung (IV) (wie in Hamburg [11, 12]) umgesetzt werden. Hinsichtlich der Evaluation dieser Modelle zeichnen sich in Deutschland 4 Modellevaluationen aufgrund der gewählten Methodik aus [3]: das RPB in Steinburg, das Hamburger Modell, die

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Originalarbeit

würde, war zu Beginn des Projekts relativ offen. Abhängig von lokalen Strukturen und der Dynamik der Einschreibungen entwickelten sich regional unterschiedliche Lösungen, die aber insofern einheitlich waren, als jeweils der ambulante (und nicht der stationäre) Bereich ausgebaut wurde, z. B. durch Einstellungen zusätzlichen Personals in den PIAs und durch die Bildung eines Kriseninterventionsteams am Standort Weissenau mit mobiler 24-Stunden-Rufbereitschaft [19]. Das multiprofessionelle Team sollte in die Lage versetzt werden, die Behandlungsintensität je nach Bedarf zu steigern. Aufsuchende Behandlung wurde zum erklärten Teil des Behandlungsangebots für eingeschriebene Patienten, wenn möglich auch als Krankenhausersatzbehandlung zur Vermeidung stationärer Aufenthalte [20].

Fragestellungen Bisher liegen keine Ergebnisberichte zum Einschreibeverhalten bzw. einem möglichen Selektionsprozess bei freiwilliger Einschreibung in einen Vertrag zur Integrierten Versorgung vor. Nach entsprechenden Rückmeldungen der klinisch Tätigen sollte explorativ untersucht werden, inwiefern bei Freiwilligkeit der Einschreibung Selektionsprozesse auftreten. 1. Unterscheiden sich die Teilnehmer der Integrierten Versorgung von jenen, die sich innerhalb des Untersuchungszeitraums gegen eine Einschreibung entschieden hatten? Aufbauend auf die Befunde bisheriger Modellevaluationen sollten ferner folgende Hypothesen geprüft werden: 2. Im ersten Jahr nach Einschreibung zeigt sich für Teilnehmer der Integrierten Versorgung verglichen mit Teilnehmern der Kontrollgruppe eine ▶ stärkere Reduktion der stationären Behandlungstage, ▶ stärkere Zunahme der Anzahl ambulanter Leistungen. 3. Personen der Integrierten Versorgung sind im ersten Jahr nach Einschreibung nicht unzufriedener mit ihrer Behandlung und zeigen keine Unterschiede in der Symptomlast verglichen mit Teilnehmern der Kontrollgruppe.

Methode !

Zur Untersuchung eines möglichen Selektionsprozesses wurden Teilnehmer der Integrierten Versorgung mit den Ablehnern der Integrierten Versorgung verglichen. Zur Untersuchung der zweiten und dritten Fragestellung wurde eine prospektive Kohortenstudie mit Kontrollgruppenvergleich durchgeführt. Die Studienteilnehmer wurden über ein Jahr hinweg beobachtet. Zusätzlich wurde die Leistungsnutzung im Jahr vor Einschreibung in einem Prä-Post-Vergleich (Paneldesign) erhoben.

Stichprobe Mit Beginn der inhaltlichen Umsetzung der IV startete die Teilnehmerrekrutierung für die Evaluation. Eingeschlossen in die Studie wurden DAK-versicherte Patienten, die sich freiwillig in die IV eingeschrieben hatten. Die Kontaktaufnahme, das Informationsgespräch sowie die Einschreibung in die IV erfolgten ausschließlich über die Behandler. Mit ihrer Einschreibung erklärten sich die Patienten mit der Teilnahme an der wissenschaftlichen Begleitevaluation der IV einverstanden. Als Kontrollgruppe (KG) wurden Patienten einer anderen gesetzlichen Krankenkasse ausgewählt. Die Wahl fiel auf jene Krankenkasse, die sich im Jahr 2009 in den klinikintern erhobenen Variablen (Leistungsnutzung, Soziodemografie der behandelten Patienten, Anzahl der behandelten Patienten etc.) am wenigsten von der Gruppe der Schmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

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Integrierte Versorgung in München-Ost. Zwischenzeitlich publiziert wurde die Evaluation zur IV Berlin/Brandenburg Niedersachsen/Bremen (BB/NB [13]). In Steinburg, Hamburg und München-Ost wurden zur Evaluation jeweils prospektive Kohortenstudien mit Kontrollgruppenvergleich (KG) durchgeführt. Kritisiert werden kann beispielsweise, dass der Kostenunterschied vor Beginn der Evaluation nicht berücksichtigt wurde (Steinburg [2, 8]), ausschließlich Erkrankte mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis untersucht wurden (München-Ost [14]), die Rater bei Verwendung von Fremdbeurteilungsmaßen als Outcomevariablen nicht verblindet waren (Hamburg [11, 12]). Zwei Evaluationen verwandten einen Prä-Post-Vergleich (MünchenOst [15], BB/NB [13]). Da jedoch jeweils ein Kontrollgruppenvergleich fehlte, lassen sich die gefundenen Ergebnisse nicht unabhängig von möglichen Zeiteffekten interpretieren. Es kann festgehalten werden, dass eine Evaluation eines Modells zur sektorübergreifenden Versorgung für alle Formen psychischer Erkrankungen, welche sowohl einen Kontrollgruppenvergleich einbezieht als auch die Leistungsnutzung im Zeitraum vor Einführung des neuen Versorgungsansatzes berücksichtigt, derzeit aussteht. Allein dadurch ist es jedoch möglich, zeit- und personenabhängige Störvariablen zu kontrollieren. Als Ergebnisse bisheriger Evaluationen zeigte sich eine Reduktion der stationären bei parallelem Ausbau ambulanter Leistungen [3, 13]. Bei den erhobenen klinischen Variablen zeigte sich ein uneinheitliches Bild. Festzuhalten bleibt, dass sich in zentralen Maßen der Ergebnisqualität [16] keine Unterschiede zwischen Modell- und Kontrollgruppen zeigten. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf einen IV-Vertrag zwischen den Zentren für Psychiatrie Südwürttemberg und der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK), der zum 1.1.2010 für alle Formen psychischer Erkrankungen vereinbart wurde. Hinsichtlich der Finanzierung wurde ein Capitationsmodell vereinbart. Die fixe Jahrespauschale pro eingeschriebenem Patient ist dabei unabhängig von Behandlungsort, -dauer oder -setting. Die Höhe der Jahrespauschale ist vertraglich geregelt und orientiert sich an den bisher innerhalb eines Jahres für die Patienten dieser Krankenkasse eingesetzten Kosten für erbrachte psychiatrische Krankenhaus- und PIA-Behandlungen. Die Einschreibung in die Integrierte Versorgung ist für DAK-versicherte Patienten mit Wohnsitz im Einzugsgebiet der ZfP Südwürttemberg und einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung freiwillig [17]. Der Vertrag umfasst die gesamte psychiatrisch-psychotherapeutische Krankenhausbehandlung [18], inklusive der vertragsärztlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung [17]. Inhaltlich umgesetzt wurde die Integrierte Versorgung über ein Case Management mit der Einsetzung eines „Lotsen“ für jeden eingeschriebenen Patienten. Fallübergreifend steuert dieser die notwendigen Hilfen gemeinsam mit dem Patienten. In behandlungsfreien Phasen nimmt der Lotse eigeninitiativ, mindestens quartalsweise Kontakt zum Patienten auf. Ein weiterer Vorteil ist die gewonnene Beziehungskontinuität in der Behandlung, da der Lotse in sämtliche Behandlungen des Patienten miteinbezogen wird. Der Leistungsumfang der Integrierten Versorgung umfasst die bestehenden Leistungen der Regelversorgung (ambulant, teil-, vollstationär). Anders als im herkömmlichen Vergütungsmodell sind dabei aber auch alle Zwischenstufen und neuen Angebote, abhängig vom tatsächlichen Behandlungsbedarf, möglich (z. B. hochfrequente ambulante Behandlung, Einrichtung einer Notfallsprechstunde, Home Treatment, teilweise Nutzung tagesklinischer und klinischer Gruppenangebote etc.) [19]. In welcher Weise sich die bedarfsorientierte Versorgung entwickeln

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Originalarbeit

behandelte Patienten im Zeitraum zwischen 30.03.2010 – 30.09.2011

Kontrollkrankenkasse: n = 922

Abb. 1 CONSORT-Diagramm zur Teilnehmerrekrutierung.

DAK: n = 1669

Ausschluss von Pat. der Abteilungen Kinder- & Jugend-, Gerontopsychiatrie

n = 352

n = 633

Ausschluss mangels Einwilligung in die Studienteilnahme/ Integrierte Versorgung

Ablehner KG: n = 422

Ablehner IV: n = 745

fehlende Werte

n = 19

n = 16

Katamnese-Drop-Outs

n=6

n = 34

ohne Aufenthalt im Jahr vor Einschreibung

n = 46

n = 143

Eingehend in die Untersuchung

KG: n = 77

IV: n = 98

DAK unterschied. Zur Rekrutierung der Kontrollgruppe wurden konsekutiv wöchentlich alle neu aufgenommenen Patienten besagter Krankenkasse ermittelt und zur Teilnahme an der Evaluation motiviert. Ausgeschlossen von der Evaluation wurden in beiden Gruppen Patienten der Abteilungen Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Gerontopsychiatrie. Neben der Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit wäre hier zumindest teilweise der Einbezug der gesetzlichen Vertreter (Eltern, Betreuer) erforderlich gewesen, ebenso wie eine Adaptation der verwendeten Selbstauskunftsbögen. Dies hätte den Befragungsaufwand erhöht und die Vergleichbarkeit der Daten mit den Studienteilnehmern der anderen Abteilungen bei unterschiedlichen Messinstrumenten erschwert. " Abb. 1 stellt die Übersicht zur Teilnehmerrekrutierung dar. Ins● gesamt wurden im Rekrutierungszeitraum zwischen dem 30.3.2010 und dem 30.9.2011 n = 922 Patienten der Kontrollkrankenkasse und n = 1669 Patienten der DAK behandelt. Nach Ausschluss der Patienten der Kinder-/Jugend- und Gerontopsychiatrie entschieden sich von den verbleibenden n = 1036 DAKversicherten Patienten n = 745 gegen eine Einschreibung in die IV. Abzüglich der Ausgeschlossenen aufgrund fehlender Werte sowie Dropouts in der Katamnese konnten n = 123 Teilnehmer als Kontrollgruppe und n = 241 Teilnehmer der IV zur Teilnahme an der Evaluation rekrutiert werden. Zur Untersuchung der zweiten und dritten Fragestellung wurden von den rekrutierten Studienteilnehmern ausschließlich jene betrachtet, die im Jahr vor der Einschreibung (in die IV bzw. Begleituntersuchung) mindestens einmal stationär aufgenommen worden waren. Demnach wurden Studienteilnehmer ohne stationären Aufenthalt im Jahr vor Einschreibung (nKG = 46, nIV = 143) von der Evaluation ausgeschlossen. Letztlich gingen 98 Teilnehmer der IV und 77 Teilnehmer der Kontrollgruppe in diese Untersuchung ein. Eine Bewilligung durch eine Ethikkommission war nicht erforderlich, da die Evaluation im Rahmen des Qualitätsmanagements (§ 137 SGB V) durchgeführt wurde.

Variablen Daten zur Soziodemografie wie Alter, Geschlecht, Wohnform, Erwerbstätigkeit, Sprache, Vorliegen einer gesetzlichen Betreuung sowie erkrankungsbezogene Daten (Anzahl der VorbehandlunSchmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

gen, Krankheitsschwere [Clinical Global Impressions; CGI]) wurden aus der Basisdokumentation [21] des ersten Behandlungsfalles nach Einschreibung entnommen, ebenso wie Haupt- und Nebendiagnosen bei Einschreibung. Die genannten Daten fungierten als unabhängige Variablen. Daten zur Leistungsnutzung für die Zeiträume ein Jahr vor und ein Jahr nach Einschreibung wurden aus dem klinikinternen Dokumentationssystem extrahiert. Als abhängige Variablen wurden die Anzahl stationärer Behandlungstage und die Anzahl der PIA-Leistungen für das Jahr vor und nach Einschreibung erhoben. Ferner wurden die Symptomlast (BSI [22]) und die Zufriedenheit (ZUF-8 [23]) mit der Behandlung über Selbstauskunftsbögen erhoben. Die Messung der Behandlungszufriedenheit hat sich als eigenständiger Qualitätsindikator in Qualitätssicherungsmaßnahmen im Gesundheitssystem etabliert [24, 25]. Die Zufriedenheit mit der Behandlung wurde über den ZUF-8 [23] erhoben. Die beiden Fragebögen wurden den Teilnehmern zum Zeitpunkt der Einschreibung und im Follow-up (3, 6, 12 Monate) mit einem frankierten Rückumschlag postalisch zugesandt. Zur Steigerung des Rücklaufs fanden im Untersuchungszeitraum fünf Verlosungen unter den Einsendern statt.

Statistik Die Auswertung der Daten wurde mit dem Statistikprogramm IBM SPSS Statistics 20 durchgeführt. Das Signifikanzniveau wurde mit α = 0,05 festgelegt. Zur Untersuchung der Gruppenunterschiede wurden für intervallskalierte und normalverteilte Daten t-Tests für unabhängige Stichproben, bei Messwiederholung tTests für abhängige Stichproben berechnet. Bei intervallskalierten Daten, welche die Voraussetzung der Normalverteilung nicht erfüllten sowie bei Daten auf Ordinalskalenniveau kam der Mann-Whitney-U-Test, bei Messwiederholung der WilcoxonTest zur Anwendung. Gruppenunterschiede in nominalskalierten Daten wurden mit dem Chi-Quadrat-Test, falls dessen Voraussetzungen nicht erfüllt waren, mit dem Fisher-Exakt-Test untersucht. Als Maß für die Effektstärke wurde die punktbiseriale Korrelation (rpb) verwendet. Diese kann Werte zwischen – 1 und + 1 annehmen. Ein positiver Wert bedeutet in der vorliegenden Untersuchung einen höheren Wert im Outcome in der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe. Ein Zusammenhang von r = 0,10 gilt als kleiner Effekt ein Zusammenhang von r

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Originalarbeit

Leistungsnutzung im Jahr vor Einschreibung Anzahl stationärer Behandlungstage Anzahl der PIA-Leistungen

Teilnehmer IV

Ablehner IV

p

M

(SD)

M

(SD)

19,4

(39,5)

7,4

(27,7)

0,000***

6,0

( 9,1)

3,2

( 7,3)

0,000***

451

Tab. 1 Leistungsnutzung der Teilnehmer und Ablehner der IV im Jahr vor Einschreibung.

statistische Methoden: U-Test; *** p < 0,001

missing

Kontrollgruppe

integrierte

data Stichprobenumfang

p

Versorgung n

77 45,2

98

Tab. 2 Soziodemografische, erkrankungsbezogene und diagnosebezogene Stichprobenmerkmale.

Soziodemografie Alter (in Jahren)

0

M (SD)

weiblich

0

%

51,9 %

68,4 %

Muttersprache Deutsch

82

%

92,5 %

100,0 %

erwerbstätig

84

%

33,8 %

11,5 %

0,038*

gesetzl. Betreuung

85

%

14,1 %

11,5 %

1,00 0,442

ja

82

nein

48,7

(15,5)

%

91,0 %

88,5 %

%

6,0 %

11,5 %

%

35,4 %

20,0 %

%

47,7 %

40,0 %

0,119 0,030* 0,317

erkrankungsbezogen Anzahl station. psychiatr. Vorbehandlungen

0

85

1–5 >5

CGI

% 82

M (SD)

16,9 % 6,2

(0,8)

0,029*

40,0 % 6,4

(0,9)

0,193 1,00

Hauptdiagnose %

1,3 %

1,0 %

F1

%

39,0 %

23,5 %

0,032*

F2 und F31

%

18,2 %

34,7 %

0,017*

F3

%

24,7 %

23,5 %

0,860

F4

%

15,6 %

12,2 %

0,659

F6

%

0,0 %

5,1 %

0,068

(1,5)

0,001***

F0

Anzahl Nebendiagnosen

0

0

M (SD)

2,2

(2,3)

1,2

statistische Methoden: Alter: T-Test für unabhängige Stichproben; Anzahl stationär psychiatrischer Vorbehandlungen, CGI, Anzahl Nebendiagnosen: U-Test; alle übrigen: Fisher-Exakt-Test; * p < 0,05; *** p < 0,001

= 0,30 als mittlerer Effekt und ein Zusammenhang von r = 0,50 als großer Effekt [26]. Der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit sowie der Einfluss der Einführung der Integrierten Versorgung auf die Leistungsnutzung sowie der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit auf Zufriedenheit und Symptomlast über die Zeit wurde anhand von multivariaten Mehrebenenmodellen mit Random-Intercept untersucht. Diese Modelle erlauben die Analyse hierarchisch strukturierter Daten wie sie z. B. bei Messwiederholungen vorliegen [27]. Bei unterschiedlichen gerechneten Modellen erwies sich der Umgang mit den quantitativ nicht unerheblichen missing data (vgl. " Abb. 1) als Hindernis bei einer sinnvollen Interpretation, das ● auch durch Imputationsverfahren nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. Auf eine Darstellung der multivariablen Modelle wurde deshalb hier verzichtet. Sie sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt [28]. In der vorliegenden Arbeit werden entsprechend ausschließlich die unkorrigierten Daten zur Leistungsnutzung, Zufriedenheit und Symptomlast berichtet.

Ergebnisse !

Selektionsprozess bei freiwilliger Einschreibung Die soziodemografischen, erkrankungsbezogenen sowie diagnosespezifischen Merkmale der Ablehner der IV wurden mit denen der Teilnehmer IV verglichen. Ebenso wurden die Daten zur stationären und ambulanten Leistungsnutzung im Jahr vor Ein-

schreibung in die IV bzw. für die Ablehner der IV im Jahr vor dem ersten Behandlungstermin im Rekrutierungszeitraum erhoben. Es zeigte sich, dass die Eingeschriebenen signifikant häufiger weiblich (p < 0,01) waren und signifikant häufiger in nicht betreuten Wohnformen lebten (p < 0,01) verglichen mit den Ablehnern. Hinsichtlich der Hauptdiagnose wiesen Eingeschriebene signifikant häufiger eine F2/F31-Diagnose (p < 0,01) sowie seltener eine F0-Diagnose (p < 0,05) auf. In allen weiteren Variablen zur Soziodemografie und Erkrankung unterschieden sich die beiden Gruppen nicht voneinander. Dagegen zeigten sich signifikante Unterschiede in den Variablen zur Leistungsnutzung im Jahr vor Einschreibung. Die Eingeschriebenen wiesen verglichen mit den Ablehnern im Jahr vor Einschreibung signifikant mehr Tage in stationärer Behandlung (p < 0,001) und mehr PIA-Leistungen " Tab. 1). (p < 0,001) auf (●

Soziodemografische, erkrankungsbezogene und diagnosebezogene Stichprobenmerkmale Zwischen den Teilnehmern der IV und den Teilnehmern der Kontrollgruppe bestanden in den meisten Variablen zu den soziodemografischen, erkrankungs- und diagnosebezogenen Stichpro" Tab. 2). Teilbenmerkmalen keine signifikanten Unterschiede (● nehmer der IV waren signifikant häufiger weiblich (p < 0,05), seltener erwerbstätig (p < 0,05) und hatten signifikant mehr psychiatrische Vorbehandlungen (p < 0,05). Substanzbezogene Störungen (p < 0,05) sowie Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (p < 0,05) waren in der Gruppe der IV signifikant selteSchmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

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betreute Wohnform

(13,5)

Originalarbeit

Tab. 3 Deskriptive Angaben zur Anzahl stationärer Behandlungstage und Anzahl der PIA-Leistungen für das Jahr vor und nach Einschreibung für die Teilnehmer der Integrierten Versorgung sowie der Kontrollgruppe.

stationäre Behandlungstage Anzahl der PIA-Leistungen

Kontrollgruppe

Integrierte Versorgung

n = 77

n = 98

p

r

M

(SD)

Md

M

(SD)

Md

vor

24,3

(29,3)

14

48,4

(51,9)

30

0,000*

0,27

nach

38,0

(39,3)

29

34,5

(51,8)

13

0,015*

– 0,04

vor

2,4

( 6,5)

0

4,6

( 6,9)

0

0,000*

0,16

nach

4,1

( 8,8)

0

24,4

(24,8)

15

0,000*

0,46

vor: im Jahr vor Einschreibung; nach: im Jahr nach Einschreibung; * p < 0,05

Tab. 4 Deskriptive Angaben zur Behandlungszufriedenheit und Symptomlast über die 4 Messzeitpunkte für die Teilnehmer der Integrierten Versorgung sowie der Kontrollgruppe.

Kontrollgruppe

Behandlungszufriedenheit (ZUF-8)

Symptomlast (GSI)

integrierte Versorgung

p

r

n

M

(SD)

n

M

(SD)

102

27,2

( 4,1)

165

26,7

( 4,1)

0,381

– 0,21

3 MFU

81

26,8

( 4,8)

137

26,2

( 4,5)

0,194

– 0,19

6 MFU

67

26,8

( 4,4)

112

26,5

( 4,1)

0,499

– 0,14

12 MFU

62

27,2

( 4,8)

102

26,3

( 4,4)

0,057

– 0,20

103

63,6

(14,1)

164

66,5

(14,3)

0,065

0,13

3 MFU

82

62,8

(14,1)

147

65,6

(13,8)

0,118

0,10

6 MFU

69

59,6

(15,0)

121

63,1

(15,1)

0,092

0,13

12 MFU

61

59,0

(15,5)

103

64,5

(15,3)

0,019*

0,16

Studieneinschluss

Studieneinschluss

MFU: Monats-Follow-up; * p < 0,05

ner als Hauptdiagnose vergeben als in der Kontrollgruppe. Teilnehmer der IV wiesen signifikant weniger Nebendiagnosen auf als Teilnehmer der Kontrollgruppe (p < 0,001).

Leistungsnutzung Die Ergebnisse zur Anzahl stationärer Behandlungstage und Anzahl der PIA-Leistungen sind für das Jahr vor und nach Einschrei" Tab. 3 dargestellt. Signifikante Unbung für beide Gruppen in ● terschiede zwischen den beiden Gruppen in der Anzahl der Behandlungstage zeigten sich sowohl für das Jahr vor Einschreibung (p < 0,001) als auch für das Jahr nach Einschreibung (p < 0,05). Bei Betrachtung der Veränderungen über die Zeit getrennt für die beiden Gruppen zeigte sich ein signifikanter Anstieg der Zahl der stationären Behandlungstage in der Kontrollgruppe über die Zeit (p < 0,05). In der Gruppe der IV fiel die mittlere Behandlungsdauer signifikant über die Zeit (p < 0,01). Im Hinblick auf die Anzahl der PIA-Leistungen zeigte sich sowohl für das Jahr vor Einschreibung (p < 0,01) als auch für das Jahr nach Einschreibung ein signifikanter Gruppenunterschied (p < 0,001). Die Teilnehmer der IV erhielten jeweils mehr PIA-Leistungen (vgl. " Tab. 3). Ferner zeigte sich in beiden Gruppen über die Zeit eine ● signifikante Zunahme der Leistungsnutzung.

Zufriedenheit und Symptomlast Die Ergebnisse zu Behandlungszufriedenheit und Symptomlast " Tab. 4 dargestellt. Im Hinblick auf die Behandlungszusind in ● friedenheit starteten beide Gruppen bei Studieneinschluss ähnlich positiv in ihrer Beurteilung. Diese Angaben veränderten sich über die Zeit kaum. Zu keinem Messzeitpunkt zeigten sich signifikante Gruppenunterschiede in der Behandlungszufriedenheit. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich in der berichteten Symptomlast. Mit Ausnahme des 12MFU zeigten sich keine signifikanten Gruppenunterschiede (12MFU: p = 0,019). Schmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

Diskussion !

Mit der Evaluation der Integrierten Versorgung (IV) am ZfP Südwürttemberg wurde erstmals ein Selektionsprozess bei freiwilliger Einschreibung in einen neuen Versorgungsansatz untersucht. Die Leistungsnutzung im Jahr vor Einschreibung unterschied sich signifikant zwischen späteren Einschreibern und Ablehnern der IV. Wer bereits viel ambulante und stationäre Leistungen beanspruchte, schrieb sich auch eher in die IV ein. Aus der klinischen Erfahrung erscheint dieser Selektionsprozess nachvollziehbar. Bei „Heavy Use“-Patienten sind sich sowohl Patient als auch Behandler über die Notwendigkeit einer längerfristigen Versorgung einig, im Unterschied zur Sachlage bei Ersterkrankten. Ebenso kann davon ausgegangen werden, dass beide Seiten mit der bisherigen Versorgung tendenziell eher unzufrieden sind bzw. eher bereit sind, neue Versorgungswege in Anspruch zu nehmen. Für nachfolgende Modelle mit freiwilliger Einschreibung sind diese Ergebnisse für die inhaltliche Konzeption der Modelle und aus betriebswirtschaftlicher Sicht relevant. Interessant wäre es, weitere Einflussvariablen auf das Einschreibeverhalten zu untersuchen. Denkbar ist, dass für Patienten mit unterschiedlicher Motivlage das Behandlungsangebot der IV unterschiedlich attraktiv ist. Der Besuch von psychiatrisch Tätigen in den eigenen vier Wänden wird aus Erfahrung von einem Teil der Patienten nicht gewünscht, u. a. wegen Befürchtungen hinsichtlich Autonomieverlust, Einmischung sowie Schamgefühlen, während andere Patienten die Chance, einen Klinikaufenthalt zu vermeiden, sehr hoch bewerten und die Unterstützung annehmen. Hinsichtlich der Veränderung der Leistungsnutzung über die Zeit konnte hypothesenkonform gezeigt werden, dass die ambulante Leistungsnutzung für die Teilnehmer der IV stärker ausgebaut werden konnte verglichen mit der Kontrollgruppe. Bei der stationären Leistungsnutzung zeigte sich eine geringere Inanspruch-

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nahme der IV verglichen mit der Kontrollgruppe, die allerdings in multivariablen Modellen statistisch nicht bestätigt werden konnte. Es muss berücksichtigt werden, dass anders als bei den Evaluationen des Hamburger Modells und des RPB in Steinburg im ZfP Südwürttemberg die IV parallel zur Implementierung evaluiert wurde. Zu Beginn der Teilnehmerrekrutierung und Datenerhebung waren einzig die kostenrechtlichen Voraussetzungen gegeben, um Krankenhausersatzbehandlung in beliebiger Intensität durchführen zu können, die entsprechenden Fertigkeiten und das Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten bei den Mitarbeitern entwickelten sich erst allmählich. Bei stationärer Behandlungsbedürftigkeit musste deshalb zum Zeitpunkt des Projektstarts oft noch zwingend stationär behandelt werden, während inzwischen die Behandlungsalternativen deutlich besser entwickelt sind und die Mitarbeiter entsprechende Expertise erworben haben. Ob später implementierte klinische Neuerungen, wie die Schaffung eines Kriseninterventionsteams, zu einer substanziellen Minderung der Inanspruchnahme stationärer Behandlung führten, wäre in einem längeren Verlauf zu überprüfen gewesen. Dies war jedoch mit dem verwendeten Studiendesign nicht möglich, weil die Krankenkasse, aus deren Mitgliedern die Kontrollgruppe rekrutiert wurde, dem IV-Vertrag beitrat. Dies war auch der Grund für die begrenzte Stichprobengröße sowie die Beschränkung auf einen Ein-Jahres-Katamnese-Zeitraum. Ferner müssen bei der Einordnung der Ergebnisse zur Leistungsnutzung die Befunde zum Selektionsprozess bei Einschreibung berücksichtigt werden, welche als „Heavy User“-Selektion diskutiert wurde. Roick et al. [29] betonen in ihrer Arbeit, dass in bisherigen Modellprojekten die überproportionale Nutzung der stationären Leistungen reduziert werden konnte, wenn die gemeindenahe Betreuung intensiviert wurde. Die vorliegende Evaluation bezieht sich ausschließlich auf ein Modell zur sektorübergreifenden psychiatrischen Krankenhausleistung. Den Befunden von Roick et al. [29] folgend ist ein Modell mit Einbezug der Leistungen zur Teilhabe etc. erstrebenswert. Bisher ist deutschlandweit keine Arbeit zu einem Versorgungsansatz publiziert worden, bei dem eine Versorgung über die Vergütungsgrenzen der verschiedenen Sozialgesetzbücher hinweg erfolgt (vgl. [3]). Für die Zufriedenheit zeigten sich weder Gruppen- noch Zeiteffekte. Bei der Symptomlast zeigte sich im unkorrigierten Modell zum 12 MFU ein Gruppenunterschied. Dieser muss angesichts des Schwundes des Stichprobenumfangs und der geringen Effektstärke vorsichtig interpretiert werden. Davon ausgehend kann festgehalten werden, dass sich analog zu den bisherigen Ergebnissen in zentralen Maßen zur Ergebnisqualität zwischen IV und Kontrollgruppe keine gravierenden Unterschiede zeigten [2, 11, 14].

Stärken und Schwächen Als Stärke der Studie ist das angewandte Untersuchungsdesign anzusehen. Die Kombination aus Kontrollgruppen- und Paneldesign ermöglicht es, zeit- und personenabhängige Störvariablen zu parallelisieren. Durch das Paneldesign war es möglich, den gefundenen Selektionsprozess bei Einschreibung bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen. Eine weitere Stärke der Arbeit ist die Ökonomie der Methodik, da umfangreich auf routinemäßig erhobene Daten zurückgegriffen werden konnte, die mit Fragebogendaten ergänzt wurden. Ein Nachteil dieses Vorgehens war der hohe Aufwand bei der Aufbereitung der Daten sowie die bereits benannte Einschränkung der Auswertungsmöglichkeiten.

Zentraler Kritikpunkt an der Arbeit ist der Verzicht auf ein randomisiertes Studiendesign. Aufgrund der Selbstselektion der Teilnehmer zur Gruppe der IV durch die Einschreibung war es, wie auch bei anderen Modellevaluationen [2, 11], nicht möglich, die Studienteilnehmer zu randomisieren. Ein Vorteil des Verzichts auf eine Randomisierung und damit eines künstlichen Eingriffs in die Gruppenzuweisung bzw. Einschreibung ist die damit gewonnene ökologische Validität der Studie. Im Nachhinein ist die Wahl der Kontrollgruppenkrankenkasse zumindest als ungünstig zu bezeichnen. Bei Studienbeginn war nicht absehbar, dass diese dem IV-Vertrag zwischen den ZfP und der DAK beitreten würde. Dies hatte jedoch weitreichende Konsequenzen für die Evaluation und führte letztlich zur Beendigung der Begleitevaluation. Ferner ist zu bemängeln, dass der beobachtete Unterschied in den abhängigen Variablen zur Leistungsnutzung im Jahr vor Einschreibung zwischen IV und KG die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen und damit die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt. Die beiden Grundgesamtheiten (DAK, Kontrollkrankenkasse), aus denen die Studienstichproben rekrutiert wurden, waren in der Leistungsnutzung im Jahr 2009 vergleichbar. Aufgrund unterschiedlicher Selektionsprozesse bei der Gewinnung der Studienstichproben (IV vs. KG) aus den jeweiligen Grundgesamtheiten unterschieden sich letztlich die Studienstichproben bereits retroperspektiv. Eine weitere Limitation der Studie stellt die unterschiedliche Rekrutierung der beiden Gruppen dar. Die Teilnehmer der IV schrieben sich primär für einen neuen Versorgungsansatz ein und wurden zusätzlich befragt, die Teilnehmer der Kontrollgruppe entschieden sich für die Teilnahme an einer Befragung. Auch das Paneldesign bringt Limitationen mit sich, es ist ausschließlich für Teilnehmer mit Leistungen im Jahr vor und nach Einschreibung geeignet. Eine im Grunde sehr wünschenswerte differenzielle Auswertung nach Diagnosegruppen und unter Berücksichtigung der regional unterschiedlichen Umsetzungsmodelle war wiederum aufgrund der beschränkten Fallzahl nicht möglich. Schließlich gilt die Evaluation nur der Implementationsphase des Modells, das sich inzwischen dynamisch weiterentwickelt hat. Effekte werden dadurch eher unter- als überschätzt.

Schlussfolgerung !

Mit der Einführung der IV konnte, wie bei bisherigen Modellen, eine Umschichtung von stationären in ambulante Leistungen erreicht werden, wenngleich die Effekte limitiert waren. Die Zufriedenheit blieb im Vergleich mit der Kontrollgruppe und über die Zeit unverändert, die Symptomlast bis zum 12MFU. Für zukünftige Modellevaluationen ist es von besonderem Interesse, den Einfluss unterschiedlicher Variablen auf die Leistungsnutzung unabhängig voneinander zu untersuchen. Ebenso gilt es bei Modellevaluationen mit freiwilliger Einschreibung in einen IV-Vertrag, Selektionseffekte bei Einführung genauer zu untersuchen. Aus der vorliegenden Arbeit lässt sich die Vermutung einer „Heavy Use“-Selektion aufseiten der Eingeschriebenen ableiten. Dies ist sowohl für die Konzeption als auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht relevant. Insgesamt bestätigen die Ergebnisse die klinische Erfahrung, dass ein eventuell erwünschter stärkerer Rückgang stationärer Behandlungszeiten allein durch eine Vermehrung ambulanter Angebote in Verbindung mit ökonomischen Anreizen ohne Reduzierung der Bettenkapazitäten schwer zu erreichen ist.

Schmid P et al. Evaluation eines Modells … Psychiat Prax 2015; 42: 448–454

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Originalarbeit

Originalarbeit

Konsequenzen für Klinik und Praxis

▶ Bei freiwilliger Einschreibung in einen IV-Vertrag ist mit einem erheblichen Selektionsbias zu rechnen, der Aussagen über den Erfolg eines sektorübergreifenden Modells erschwert. ▶ Eine Zunahme ambulanter Leistungsnutzung ist leichter zu erreichen als eine Abnahme stationärer Behandlungstage, sofern keine Reduzierung der Bettenkapazitäten vorgenommen wird.

Interessenkonflikt !

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Evaluation of a Model of Cross-Sectoral Mental Health Care (Integrated Health): Service Use and Treatment Quality !

Objective: To evaluate a model of Integrated Care (IC) at the Centres for Psychiatry Suedwuerttemberg for all kinds of mental disorders implemented in 2010. Methods: We used two different approaches. Patients who subscribed to the IC model (N = 98) were compared to a control group (N = 77) 1. in a prospective design with regard to treatment satisfaction (ZUF-8) and symptom burden (BSI) and 2. in a panel design regarding use of in-patient and out-patient services in the year before and after inscription. Results: Patients who subscribed to the IC model had used more services in the year before subscription compared to those who declined. Compared to the control group, IC patients had a greater increase of use of out-patient services, use of in-patient services (hospital days) was lower after one year. Treatment satisfaction and symptom burden did not differ significantly between groups. Conclusions: Under the conditions of IC treatment is realized increasingly outside the hospital without loss of quality.

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[Evaluation of a Model of Cross-Sectorial Mental Health Care (Integrated Health): Service Use and Treatment Quality].

To evaluate a model of Integrated Care (IC) at the Centres for Psychiatry Suedwuerttemberg for all kinds of mental disorders implemented in 2010...
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