Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2015) 109, 40—45

Online verfügbar unter www.sciencedirect.com

ScienceDirect journal homepage: http://www.elsevier.com/locate/zefq

SCHWERPUNKT

Evidenzbasierte Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: Welche Studiendesigns brauchen wir? Evidence-based health promotion and prevention in settings: Which types of study designs are needed? Ansgar Gerhardus a,d,∗, Eva Rehfuess b, Hajo Zeeb c,d a

Abteilung 1: Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland b Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie, Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland c Leibniz Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie — BIPS, Bremen, Deutschland d Health Sciences Bremen, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Eingegangen/submitted 25. September 2014; überarbeitet/revised 17. Dezember 2014; akzeptiert/accepted 17. Dezember 2014

SCHLÜSSELWÖRTER Prävention; Gesundheitsförderung; Public Health; Evidenzbasierung; Studiendesigns



Zusammenfassung Prävention und Gesundheitsförderung sind Kernbereiche von Public Health. Ein im Jahr 2013 vorgelegter Gesetzesentwurf zur Prävention wurde im Bundesrat auch mit Verweis auf die einseitige Fokussierung auf individuumsbezogene, verhaltenspräventive Maßnahmen abgelehnt. Im Gegensatz zur Verhaltensprävention zielen Maßnahmen zu Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung (auch) auf Änderungen der gesellschaftlichen und der Umgebungsbedingungen ab. Für sie fehlen häufig belastbare Wirksamkeitsstudien. Dies liegt u.a. an mangelnden Ressourcen, der Komplexität der Maßnahmen und der Schwierigkeit einer Randomisierung. So sind z.B. regulative Maßnahmen zum Nichtraucherschutz politischen Prozessen unterworfen, deren Akteure einer Randomisierung nur in Ausnahmefällen zustimmen würden. In einem Workshop im Rahmen der 15. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (2014) wurden für zwei aktuelle Fallbeispiele Studiendesigns wie Controlled-Beforeand-After- (CBA-) Studien oder Interrupted Time Series (ITS) als mögliche Alternativen zu

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Ansgar Gerhardus, M.A., MPH, Abteilung 1: Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Fachbereich 11, Universität Bremen, Grazer Str. 4, 28359 Bremen, Deutschland. Tel.: +49 (0)421-218 688 00; Fax: +49 (0)421-218 98 688 00 E-Mails: [email protected] (A. Gerhardus), [email protected] (E. Rehfuess), [email protected] (H. Zeeb).

http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2014.12.002 1865-9217/

Evidenzbasierte Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: welche Studiendesigns brauchen wir?

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randomisierten, kontrollierten Studien zur Evaluation von Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung entwickelt. Vor- und Nachteile der verschiedenen Designs wurden diskutiert und mit den Ansätzen aus den tatsächlichen Studien verglichen. Die breite Spanne vorgeschlagener Ansätze für Wirksamkeitsstudien illustrierte die Möglichkeiten, aber auch die besonderen Herausforderungen, denen sich die Evidenzbasierung von Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung stellen muss.

KEYWORDS Prevention; health promotion; public health; evidence based; research design

Summary Health promotion and health prevention are cornerstones of public health. In Germany, a draft health prevention law was rejected in 2013, partly because it almost exclusively focused on measures at the individual level. Many health promotion and prevention measures, by contrast, (also) address the societal level and the environment, but there are few robust studies on their effectiveness, not least because of a lack of resources, the complexity of the measures, or randomisation problems. For example, regulations that protect non-smokers from smoke are subject to political processes where the majority of decision-makers would decline consent for randomisation. In a workshop at the 15th Annual Meeting of the German Network for Evidence-based Medicine (DNEbM) two case studies on controlled before-and-after studies (CBA) and interrupted time series (ITS) were developed by the audience as possible alternatives to randomised controlled trials for the evaluation of health promotion and health prevention programmes. The suggestions made by the audience were compared to the study designs chosen in published studies, and the strengths and weaknesses of the different study designs were discussed. The wide array of suggestions for effectiveness studies illustrated the potential of evidencebased health promotion and prevention, but also the specific challenges to be faced.

Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung sollen durch Änderungen der gesellschaftlichen und der Umgebungsbedingungen den Gesundheitsstatus der Bevölkerung verbessern. Mit den methodischen Herausforderungen bei der Evaluation der Wirksamkeit solcher Maßnahmen hat sich ein Workshop im Rahmen der 15. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) auseinandergesetzt.

Verhaltensprävention: Ansatz beim Individuum Die Formel ,,Vorbeugen ist besser als heilen‘‘ hat es inzwischen in den allgemeinen Wortschatz geschafft. Mit viel Hoffnung wurde daher ein erneuter Anlauf zu einem Präventionsgesetz in Deutschland begleitet. Das im Juni 2013 verabschiedete Gesetz zur Förderung der Prävention sah sich aber heftiger Kritik ausgesetzt und wurde letztlich durch den Bundesrat gestoppt. Dieser bemängelte u.a., dass das Gesetz von einem ,,überholten und engen Verständnis von Prävention geprägt‘‘ sei, welches überwiegend auf individuelle Verhaltensänderungen abziele [1]. Der Kritik liegt eine Einteilung in Verhaltens- und Verhältnisprävention zugrunde. Reine Verhaltensprävention zielt auf eine Änderung von (schädlichen) Verhaltensmustern bei Einzelpersonen oder Gruppen ohne dass ein expliziter Kontextbezug gegeben wäre [2]. Beispiele für reine Verhaltensprävention sind Fitnessangebote durch Krankenkassen oder Plakate, die vor Alkohol oder Rauchen warnen. Kontextorientierte Verhaltensprävention nutzt ein bestimmtes Setting, wie die Schule (z.B. Tabakprävention als Teil des regulären Unterrichts) oder den Betrieb (z.B. ,,mit dem Rad zur Arbeit‘‘). Auch wenn viele dieser Maßnahmen auf den ersten Blick plausibel erscheinen, zeigen systematische Übersichtsarbeiten für verhaltenspräventive

Programme z.B. zur Verringerung des Drogenkonsums bei Jugendlichen oder zur Steigerung der körperlichen Aktivität und zur Verhinderung von Übergewicht bei Kindern nur geringe oder keine positiven Effekte [3—5]. Ein wichtiger Grund für die oft mangelnde Wirksamkeit verhaltenspräventiver Ansätze wird darin gesehen, dass die Gesundheit der Menschen maßgeblich von ihrer physischen und sozialen Umgebung beeinflusst wird.

Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: Fokus auf den Bedingungen Im Gegensatz zur Verhaltensprävention setzt die Verhältnisprävention bei Veränderungen der sozialen, kulturellen und technisch-materiellen Umgebung sowie bei der Beeinflussung von Regeln, Gesetzen und sozialen Systemen an [2,6]. Beispiele sind der Schutz vor Autoabgasen durch die Einrichtung von Umweltzonen oder die Vermeidung von Unfällen durch bauliche Maßnahmen. Auch viele Maßnahmen zur Gesundheitsförderung setzen bei den Umgebungsbedingungen an. Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta von 1986 zielt darauf ab, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und soziale und individuelle Ressourcen zu stärken. Grundlegende Bedingungen für Gesundheit sind nach der Charta angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit (WHO 1986). Gesundheitsförderung wird als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen, die weit über den Gesundheitssektor hinausgeht. Beispiele sind städtebauliche Veränderungen zur Erleichterung des Radfahrens oder Maßnahmen, die die Inklusion

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von Menschen unterschiedlicher Voraussetzungen fördern. Vielfältig sind auch die Ziele, die oft mit einer einzigen Intervention verfolgt werden. Welche Aktivitäten tatsächlich dazu beitragen, die Ziele von Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention zu erreichen, sollte in adäquaten Studien untersucht werden.

dennoch vorstellbar wäre, ist das bei vielen regulativen Interventionen deutlich schwieriger. So folgen z.B. Regelungen zum Nichtraucherschutz primär politischen Abstimmungsprozessen und werden teilweise in Volksabstimmungen erkämpft — eine zufällige Zuteilung von definierten Verboten wäre nicht umsetzbar.

Faktoren der Evaluierbarkeit Ziel bei der Auswahl eines passenden Studiendesigns ist eine möglichst hohe interne und externe Validität. Eine Interventionsstudie zeichnet sich durch eine hohe interne Validität aus, wenn - die Intervention zufällig, meist auf individueller Ebene, zugeteilt werden kann, - es eine Vergleichsintervention gibt und für keinen der Beteiligten erkennbar ist, wer welche Intervention erhalten hat, - die Intervention gut messbare Auswirkungen auf die Gesundheit hat, - die Intervention standardisiert ist und kontrolliert umgesetzt wird. Für die externe Validität ist es hilfreich, wenn - es sich um einen einzelnen, gut definierten, standardisierten, und reproduzierbaren Wirkmechanismus handelt, - ein einzelner präziser primärer Outcomeparameter beeinflusst wird, - die Zielgruppe klar definiert ist, - die Wirkung weitgehend unabhängig von der Art der Implementation ist, - die (übrige) Umgebung eine untergeordnete Rolle spielt. In der Medizin erfüllt die Intervention ,,Arzneimittel‘‘ diese Bedingungen weitgehend, auch wenn die externe Validität in der Studienpraxis aufgrund der hohen Selektivität der Patientenpopulationen oft ein Problem darstellt. Vor diesem Hintergrund werden ähnliche Erwartungen auch an andere Interventionen gestellt, die allerdings auch im klinischen Bereich schon von operativen oder diagnostischen Verfahren nur noch teilweise erfüllt werden. Noch komplexer ist die Situation bei Maßnahmen zu Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention, wie am Beispiel der komplexen ,,Sure Start Local Programmes (SSLPs)‘‘ in England deutlich wird: Ziel der SSLPs ist es, Gesundheit und Wohlbefinden von dreijährigen Kindern in benachteiligten Wohngegenden zu verbessern und Ungleichheiten zu verringern [7]. Die Interventionen waren bewusst nicht genau definiert, die einzige Vorgabe lautete ,,to improve existing services according to local needs’’. Zu den ,,Services‘‘ gehörten eine große Gruppe von Maßnahmen aus dem Bereich der kommunalen Gesundheitspflege und der sozialen Arbeit. Bei der Evaluation umfasste die Liste der Outcomes 14 verschiedene Variablen. An dem Beispiel wird unmittelbar deutlich, dass in der Gesundheitsförderung Interventionen und Outcomeparameter vielschichtig sein können und die Art der Implementation (wer? wie? wann?) sehr flexibel ist. Während in diesem Beispiel eine Randomisierung der Intervention und eine einfache Verblindung der Zielgruppe

Studiendesigns für Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung Ein entscheidender erster Schritt für eine belastbare Evaluation komplexer verhältnispräventiver (und verhaltenspräventiver) Maßnahmen ist ihre explizite Konzeptionalisierung und Beschreibung als potenziell komplexe Intervention (bestehend aus mehreren interagierenden Komponenten, zugrunde liegende theoretische Annahmen, Implementierungsmodi und Outcomes) in einem potenziell komplexen System (bestehend aus Zielgruppe und Kontext). Logische Modelle [8,9] versuchen Ordnung in diese Zusammenhänge zu bringen und sind ein vielversprechender Ansatz für einen expliziten und transparenten Umgang mit indirekten, multiplen und nicht-linearen Wirkmechanismen. Sie erleichtern die Formulierung relevanter Fragestellungen und die Zuordnung adäquater Studiendesigns zur Erforschung dieser Fragestellungen. Orientiert an den Maßgaben der einschlägigen ReviewGruppen der Cochrane Collaboration (Cochrane Nonrandomized Studies Methods Group und Cochrane Effective Practice and Organisation of Care (EPOC) Group; http://epoc.cochrane.org/) sind insbesondere vier Studiendesigns von Bedeutung (s. Box 1), die im Folgenden illustriert durch Public-Health-Fragestellungen vorgestellt werden. Weitere Details finden sich hier [10]. Übergewicht und mangelnde körperliche Aktivität führen weltweit zu erheblicher Morbidität, zunehmend auch unter Kindern und Jugendlichen, dann aber insbesondere bei Erwachsenen. Eine wichtige Zielgruppe für entsprechende Interventionen sind Schulkinder, mit Schulen als Setting für deren Umsetzung. Die Effektivität schulbasierter Programme zur Förderung der körperlichen Aktivität und Erhöhung des Konsums von Gemüse und Früchten lässt sich mit cluster-randomisierten Studien untersuchen. Dafür wurden in einer Arbeit von alle Grundschulen eines geografischen Einzugsbereichs zufällig entweder dem Interventionsoder dem Kontrollarm der Studie zugeordnet [11]. In dieser Studie bestand die Intervention aus Lehrertraining, speziellen Unterrichtsstunden, Materialien und Hausaufgaben sowie schulbezogenen Informationsunterlagen. In der Studie zeigten sich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der primären und sekundären Zielparameter. Die gleiche Fragestellung könnte man auch mit einem nicht-randomisierten, cluster-kontrollierten Design untersuchen. Dafür würden z.B. Schulen in benachbarten Bezirken einer Stadt der Intervention zugeteilt und mit Schulen aus Bezirken mit ähnlichen soziodemographischen Merkmalen verglichen. In der Analyse muss nicht nur für Clustereffekte, sondern auch für Confounder adjustiert werden. Offensichtlich ist aber die Strukturgleichheit der Interventionsarme bei diesem Ansatz weniger verlässlich gegeben. Andererseits könnten durch eine stärkere räumliche Trennung eventuelle

Evidenzbasierte Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: welche Studiendesigns brauchen wir?

Box 1: Alternative Studiendesigns für die Wirksamkeitsevaluation von Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention A) Cluster-randomisierte Studie - Bei randomisierten Studien werden einzelne Individuen per Zufall entweder der Intervention oder der Kontrollgruppe zugeordnet. Bei Clusterrandomisierten Studien erfolgt diese Zuordnung nicht auf der Ebene von Einzelpersonen, sondern auf der Ebene von Gruppen (z.B. Schulen, Arztpraxen etc.). B) Nicht-randomisierte, cluster-kontrollierte Studie - Wenn eine zufällige Zuordnung nicht möglich ist, erfolgt die Auswahl der Kontrollgruppe anhand von pragmatischen Kriterien. Man kann in bestimmten Schulen ein neues Ernährungsangebot machen und möglichst ähnliche Schulen als Kontrollgruppe auswählen. Gegenüber A) gibt es allerdings ein höheres Risiko, dass sich Interventions- und Kontrollgruppe auch in anderen Faktoren als der Einführung des Ernährungsangebotes unterscheiden. C) Kontrollierte Vorher-Nachher Studie (Controlled before-and-after study, CBA) - Ähnlich wie in B) werden auch hier Interventionsregionen/-einrichtungen (z.B. Kindergärten, Krankenhäuser) mit einer möglichst ähnlichen Kontrollgruppe verglichen, ohne dass eine zufällige Zuordnung erfolgt. Im Unterschied zu B) liegt der Zeitpunkt der ersten Messung allerdings vor dem Beginn der Intervention, es folgen weitere Messzeitpunkte nach der Intervention. D) Unterbrochene Zeitserien Studie (Interrupted time series study, ITS) - In vielen Konstellationen (z.B. Intervention auf der Ebene eines gesamten Landes) lässt sich keine sinnvolle Kontrollgruppe bilden. Im Unterschied zu den Studientypen A-C) gibt es bei der ITS keine Kontrollgruppe. Dafür verwendet die ITS mehr als zwei Messpunkte. In der Regel sollten mindestens drei Messpunkte vor und drei nach der Intervention (der ,,Unterbrechung‘‘) liegen. Dadurch soll insbesondere eine Verwechslung mit Effekten von säkularen Trends (z.B. eine kontinuierliche Abnahme der Rauchrate, unabhängig von Verboten) verhindert werden. E) Natürliches-Experiment-Studie - Ein ,,natürliches Experiment‘‘ liegt vor, wenn die Effekte von Ereignissen untersucht werden, die nicht der Kontrolle durch Forschende unterliegen (z.B. neue Gesetze, Änderungen von Kosten für bestimmte Konsumgüter). Diese Ereignisse werden wie Interventionen angesehen und in Hinsicht auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen wissenschaftlich analysiert. Ein randomisiertes Studiendesign ist in dieser Konstellation nicht möglich.

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Kontaminierungseffekte zwischen Interventions- und Kontrollschulen eingedämmt werden. Ein ähnliches Design ist der kontrollierte Vorher-Nachher Vergleich (Controlled before-and-after study, CBA), bei dem in Interventions- und Kontrollgruppen/regionen jeweils vor und nach der Intervention die Zielparameter standardisiert gemessen werden. Mindestens zwei Interventions - und zwei Kontrollregionen sollten evaluiert werden. Verglichen werden die mittleren Veränderungen in beiden Gruppen. Auch hier stellt die Kontrolle von individuellen und kontextuellen Confoundern eine erhebliche Herausforderung dar. Die oben beschriebene schulbezogene Intervention könnte auch mit einer Unterbrochenen-Zeitserien-Studie (Interrupted time series study, ITS) untersucht werden, insbesondere wenn eine Evaluation auf nationaler Ebene vorgesehen ist und somit kein Kontrollgebiet zur Verfügung steht. Die Cochrane EPOC Review Group fordert mindestens drei Messungen vor und drei Messungen nach der Intervention. Bei diesem Design würde z.B. der mittlere Body Mass Index der Schulkinder (mindestens) zu drei Zeitpunkten vor und zu drei Zeitpunkten nach der Intervention ausgewertet. Unter dem Begriff ,,Natürliche Experimente - Studien‘‘ wird die Evaluation von Ereignissen, Interventionen oder Politiken verstanden, die nicht der Kontrolle der Forschenden unterliegen [12]. Ein Beispiel wäre die Einführung von Gesetzen zum Schutz vor Tabakrauch. Mögliche Variationen in der Intensität der ,,Exposition‘‘ gegenüber den Regelungen oder Ereignissen — etwa weil Gesetze regional unterschiedlich umgesetzt werden — kann man nutzen, um deren gesundheitsbezogene Effekte zu charakterisieren. Zur Auswertung können unterschiedliche Studiendesigns und statistische Analyseverfahren herangezogen werden, das UK Medical Research Council hat hierzu einen guten Überblick erstellt [12].

Studiendesigns für Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung In dem Workshop wurden die Teilnehmer mit zwei Fallbeispielen aus publizierten Studien zu Maßnahmen der Verhältnisprävention konfrontiert und gebeten, angemessene Studiendesigns zur Evaluation zu entwickeln. 1) Staatliches Programm zur Reduzierung der Feinstaubbelastung in der Stadt Launceston, Australien: Heizen mit Holz ist in Tasmanien seit den 1980er Jahren weit verbreitet. Launceston, die zweitgrößte Stadt Tasmaniens, ist aufgrund ihrer Lage in einem Flusstal besonders stark von der daraus resultierenden Luftverschmutzung betroffen. Während der 1990er Jahre beheizten dort etwa 66% der Bevölkerung ihre Häuser primär mit Holzöfen. Deren Emissionen waren für etwa 85% der lokalen Feinstaubbelastung während der Wintermonate verantwortlich. 1991 wurde deshalb ein umfassendes Feinstaub-Monitoring (ursprünglich PM10 , später auch PM2.5 ) eingeführt. Als Reaktion auf wachsende Bedenken initiierte Launceston im Jahr 2001 ein koordiniertes Programm zur Reduzierung der Feinstaubbelastung. Hauptkomponente war das sogenannte Launceston Wood Heater Replacement Programme, das staatlich subventioniert das Umsatteln von Heizen mit Holz auf Elektrizität propagierte. Außerdem

44 implementierte die Regierung weitere Maßnahmen zur Reduktion der Luftverschmutzung wie die Anleitung zum effizienteren Einsatz bestehender Holzöfen und Werbeund Monitoring-Komponenten. 2) Multisektoraler Ansatz zur Erreichung der Milleniumentwicklungsziele in ,,Millennium Villages‘‘ in Sub-Sahara Afrika: Das Millennium-Villages-Projekt hat sich zum Ziel gesetzt zu zeigen, dass die Millenniumentwicklungsziele mit einem aus wissenschaftlich fundierten Einzelinterventionen geschnürten integrierten Paket innerhalb von fünf Jahren erreicht werden können. Der Ansatz ist multisektoral, bezieht die betroffene Bevölkerung in Planung und Umsetzung ein und ist mit einem Budget von etwa 120 US-Dollar pro Person und Jahr (davon etwa 40 USDollar für Gesundheit) finanziert. Das Paket umfasst u.a. Mikrokredite, Düngemittel, Ernährungsprogramme für Schulkinder und sanitäre Versorgung. Im Gesundheitsbereich beinhalten die Maßnahmen z.B. Familienplanung, Impfprogramme, Malarianetze, Diagnose und Behandlung von HIV/AIDS und Tuberkulose und die Aus- und Weiterbildung von ärztlichem Personal. Das Projekt wird zunächst in zwölf ,,Millennium Villages‘‘ in Ländern Afrikas südlich der Sahara umgesetzt. Die Workshop-Teilnehmer erarbeiteten in Kleingruppen für beide Szenarien jeweils mehrere Studiendesigns. Zur Reduktion der Feinstaubbelastung bevorzugten einige Gruppen die cluster-randomisierte Studie, z.B. durch die Randomisierung einzelner Stadtteile Launcestons. Sukzessive sollten dann alle Stadtteile in das Programm einbezogen werden (Waitlist-Design). Kontamination wurde aufgrund der engen geografischen Nähe als ein Problem dieses Vorschlags erkannt. Das ITS-Design wurde nur von wenigen Teilnehmern für die Begleitung der Intervention in Launceston in Betracht gezogen. Diese hoben die Möglichkeit der Nutzung von Routinedaten zum Feinstaub-Monitoring sowie zu Mortalität und Morbidität als besondere Stärke hervor. In der tatsächlichen Studie wurde das Programm mit zwei Ansätzen evaluiert: Die Entwicklungen der Feinstaubbelastung (PM10 ) wurden mittels einer ITS nach Cochrane-EPOC-Standard in Launceston evaluiert. Parallel dazu wurden Änderungen in der Sterblichkeit in Launceston und der ebenfalls in Tasmanien gelegenen Kontrollstadt Hobart im Rahmen einer CBA verglichen [13]. Letztere genügt allerdings nicht dem Cochrane-EPOC-Standard, da sie nicht das Minimum von zwei Interventions- und zwei Kontrolleinheiten verwendete. Die Evaluation konnte zeigen, dass sich die Feinstaubbelastung in Launceston nach der Einführung des Programms stark verringert hatte. Die Sterblichkeit (Gesamtmortalität, kardiovaskuläre Mortalität, respiratorische Mortalität) sank in Launceston, nicht aber in der Vergleichsstadt Hobart, allerdings waren die Änderungen nur in der Subgruppe der Männer statistisch signifikant. Zur Evaluation der Wirksamkeit der Millennium Villages forderten die Kleingruppen ein Design, bei dem die Effekte in den Interventionsdörfern mit denen in Kontrolldörfern verglichen werden. Die meisten entschieden sich für die CBA. Tatsächlich wurde die Auswirkung des Millennium Villages-Ansatzes auf eine Vielzahl von gesundheitsrelevanten Indikatoren auch mittels einer CBA evaluiert, die

A. Gerhardus et al. von den Autoren als ,,pair-matched community intervention trial‘‘ beschrieben wird (1. Schritt: Zuordnung von je 3 Vergleichsdörfern zu jedem der 9 Interventionsdörfer basierend auf Dorfcharakteristika und Entfernung vom Interventionsdorf; 2. Schritt: zufällige Auswahl eines der drei Vergleichsdörfer) [14]. Die Veröffentlichung verdeutlicht außerdem die Bedeutung einer Kontrollgruppe: In einem einfachen Vorher-Nachher-Vergleich in den Interventionsdörfern über einen Drei-Jahres-Zeitraum (Uncontrolled Before-After Study) wiesen nahezu alle Indikatoren statistisch signifikante Veränderungen auf; in der CBA sind die Unterschiede zwischen Entwicklungen in den Vergleichsdörfern nur noch für etwa ein Drittel der Indikatoren statistisch signifikant. Über die Wirksamkeit hinaus griffen die WorkshopTeilnehmer auch andere Forschungsfragestellungen auf, z.B. bezüglich der Akzeptanz einzelner Komponenten des multisektoralen Entwicklungskonzepts für afrikanische Dörfer. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung qualitativer Forschungsansätze sowie der Integration von quantitativen und qualitativen Forschungs- und Analyseansätzen (MixedMethod Forschung) hervorgehoben.

Fazit Gesundheitsförderung und Prävention sind Kernbereiche eines jeden Gesundheitssystems. Rein verhaltenspräventive Maßnahmen weisen in methodisch adäquaten Untersuchungen oft eine moderate oder gar keine Wirksamkeit auf. Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention lassen sich nicht in auf individueller Ebene randomisierten Studien untersuchen. Statt eines ,,evaluatorischen Nihilismus‘‘ sollte in diesen Fällen auf alternative Studiendesigns zurückgegriffen werden, entsprechende Vorschläge wurden u.a. von Fachgruppen der Cochrane Collaboration entwickelt. In dem Workshop zeigte sich, dass für eine bestimmte Fragestellung oft mehrere Designs in Frage kommen, die jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen. Die Diskussion um ein Präventionsgesetz hat die Bedeutung von evidenzgestützten Bewertungen von Maßnahmen zu Gesundheitsförderung und Prävention wieder einmal deutlich gemacht. Der Workshop zeigte, dass die Identifikation des bestmöglichen und der konkreten Interventionsmaßnahme angemessenen Designs in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Abwägung bedarf.

Interessenkonflikt Kein Interessenkonflikt.

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Arzneiverordnung in der Praxis (AVP): Ausgabe 1/2015 jetzt online

Mit der AVP-Ausgabe 1/2015 ist die Umstellung von der Druck- auf die Online-Version abgeschlossen. Gleichzeitig hat sich auch ein Wechsel in der Redaktion vollzogen. Näheres hierzu erfahren Sie im Editorial. Das neu bestellte Redaktionskollegium will die Vielfalt der Themen fortführen. Neben Autorenbeiträgen sollen zukünftig auch vermehrt Inhalte aus der Arbeit der Arzneimittelkommission Eingang in AVP finden. Themen der aktuellen Ausgabe sind u. a. die Behandlungsoptionen bei Haarausfall und der Stand der Arzneimitteltherapie der Multiplen Sklerose. Weitere Beiträge befassen sich mit der Medikamentenreduktion

bei geriatrischen Patienten und der Fragestellung, ob der Einsatz von Probiotika zur Vorbeugung von Antibiotika- bzw. Clostridienassoziierten Diarrhoen sinnvoll ist. Das gesamte Heft ist online kostenfrei verfügbar. Die Beiträge können auch einzeln heruntergeladen werden. AVP erscheint vierteljährlich. Das wirtschaftlich unabhängige Bulletin AVP richtet sich vor allem an Allgemeinärzte und hausärztlich tätige Internisten und an alle Ärzte, Apotheker, Medizin- und Pharmaziestudenten, die Entwicklungen in der Arzneimitteltherapie verfolgen wollen. AVP ist Mitglied der International Society of Drug Bulletins (ISDB).

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