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Explosionsverletzungen*

Präklinische Versorgung und Management * Erstveröffentlichung des Beitrags in: Notf.med. up2date 2013; 8: 229̶242

Explosionsverletzungen sind nicht auf kriegerische Auseinandersetzungen oder terroristische Attentate beschränkt. Auch im privaten oder industriellen Umfeld kann der Notarzt mit derartigen Verletzungen, verursacht z. B. durch Feuerwerkskörper oder Gasexplosionen, konfrontiert werden. Notfallmediziner müssen auf die Behandlung von Explosionstraumata, im Einzel- wie im Großschadensfall, vorbereitet sein. Dies erfordert Kenntnisse über die Entstehung einer Explosion und die besonderen pathophysiologischen Zusammenhänge von Explosionsverletzungen. Einleitung Die meisten durch den Notarzt zu versorgenden Explosionsverletzungen haben ihre Ursache im industriellen und häuslichen Bereich oder in der Freizeit, z. B. durch unsachgemäßen Umgang mit Feuerwerk (q Fallbeispiel 1). Bombenanschläge, wie diesen August beim Boston Marathon, aber auch industrielle Explosionen bedingen eine große mediale Aufmerksamkeit und erfordern von allen an der präklinischen Versorgung Beteiligten kompetente Strategien zur notfallmedizinischen Versorgung, um die Betroffenen zeitnah und adäquat zu versorgen und v. a. um weitere Opfer zu vermeiden. Bombenanschläge in Europa mit hohen Opferzahlen gab Kasuistik Fallbeispiel 1 Beim Spiel mit vom Jahreswechsel zurückbehaltenen Feuerwerkskörpern detoniert ein solcher in der Hand eines Jugendlichen. Der eintreffende Notarzt trifft auf einen wachen, kreislaufstabilen Patienten mit stark blutenden Verletzungen aller Finger der linken Hand (q Abb. 1). Der Arm wird von einem Rettungsassistenten hochgehalten und im Bereich der linken A. brachialis komprimiert. Zur unmittelbaren Blutstillung wird ein Tourniquet am Oberarm des Patienten angelegt. Nach Anlage eines i. v. Zugangs und Analgesie mit Midazolam / Ketamin wird ein Druckverband um die betroffene Hand angelegt und das Tourniquet wieder geöffnet. Die körperliche Untersuchung ergibt keinen Hinweis auf weitere Verletzungen, und der Patient kann zeitgerecht in die nächste Klinik mit handchirurgischer Abteilung transportiert werden. Bildnachweis: Björn Hossfeld

Abb. 1

Explosionsverletzung eines Jugendlichen durch Spiel mit Feuerwerkskörper.

es u. a. in Madrid, London und Helsinki. In Deutschland konnten nach Angaben der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren mehrfach Bombenanschläge verhindert werden. Dies macht deutlich, dass auch hier eine Gefahr für terroristische Anschläge existiert, auf die wir notfallmedizinisch vorbereitet sein müssen.

Die Seltenheit von Explosionen bedingt einerseits wenig Routine im notfallmedizinischen Vorgehen. Andererseits erfordert die Komplexität der daraus resultierenden Verletzungen jedoch spezielle Kenntnisse in der Traumaversorgung und stellt besonders im Management der Situation große Herausforderungen an alle an der notfallmedizinischen Versorgung beteiligten Kräfte.

Physikochemische Grundlagen Definition und Einteilung von Explosionen



Definition Explosion Eine Explosion ist die Reaktion eines explosiven Stoffgemisches auf engem Raum, bei der es zu schlagartigem Volumenanstieg und Freisetzung von großen Energiemengen in Form von Gas und Hitze kommt. Die umgebende Luft wird komprimiert und verursacht eine sich konzentrisch ausbreitende Druckwelle. Schädigungmechanismen Die ursächlichen Schädigungsmechanismen zeigt die q Checkliste.

Checkliste

Ursächliche Schädigungsmechanismen im Rahmen von Explosionsverletzungen (nach [2]): ▶ Druckwelle ▶ in Bewegung versetzte Splitter und Fragmente oder herabstürzende Trümmer ▶ kurzfristiger extremer Temperaturanstieg

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Thorsten Holsträter • Susanne Holsträter • Daniela Rein Matthias Helm • Björn Hossfeld

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Verpuffung Schnelle Verbrennung mit hörbarem dumpfem Knall. Deflagration Bei niederwertigen Explosivgemischen (low-order explosives, LE) wie Schwarzpulver vollzieht sich die Ausbreitung der Explosion im Gemisch langsamer als Schallgeschwindigkeit. Die schädigende Wirkung der Druckwelle reicht jedoch unter bestimmten Umständen aus, um Personen oder Gebäude zu schädigen. Detonation Bei hochwertigen Explosivgemischen (high-order explosives, HE) erfolgt die Ausbreitung der Explosion mit Überschallgeschwindigkeit. Die Detonationsgeschwindigkeit von Trinitrotoluol (TNT), der Referenzsubstanz für die Zerstörungswirkung von Sprengstoffen, beträgt etwa 6900 m/s [4]. Ausbreitung der Druckwelle Bei einer Explosion breitet sich die Druckwelle konzentrisch um den Detonationsursprung aus, wobei sie exponentiell mit zunehmender Distanz zum Entstehungsort an Energie verliert. Das Verletzungsrisiko reduziert sich mit zunehmendem Abstand von der Detonationsquelle.



Critical Bleeding

ABCDE-Schema

Akronym aus: Airway maintenance with cervical spine protection – Breathing and ventilation – Circulation with hemorrhage control – Disability: neurologic status – Exposure / Environmental control

ARDS

Acute Respiratory Distress Syndrome

ATLS

Advanced Trauma Life Support

AV-Fistel

alveolovenöse Fistel

BLI

Blast Lung Injury

COPD

chronisch obstruktive Lungenerkrankung

HE

high-order explosives

ICR

Interkostalraum

ISS

Injury Severity Score

KHK

koronare Herzerkrankung

LE

low-order explosives

MANV

Massenanfall von Verletzten

PEEP

positiver endexspiratorischer Druck

PHTLS

Pre-Hospital Trauma Life Support

RTW

Rettungswagen

SanEL

sanitätsdienstliche Einsatzleitung

SHT

Schädel-Hirn-Trauma

START-Algorithmus

Akronym aus: Simple Triage and Rapid Treatment

TNT

Trinitrotoluol

ZNS

zentrales Nervensystem

Ort der Explosion Trifft die Druckwelle auf eine harte Fläche, z. B. eine Wand, wird sie reflektiert. Dies kann die schädigende Wirkung extrem verstärken. Die Wirkung von auf diese Weise mehrfach reflektierten Druckwellen wird sehr eindrucksvoll durch eine Arbeit von Leibovici und Kollegen [5] bestätigt, welche die Folgen von Bombenattentaten an Bushaltestellen („open space“) und in Bussen („confined space“) in Israel vergleichen (q Tab. 1). Explosionen in geschlossener Umgebung, wie in Gebäuden oder in einem Bus, sind im Vergleich zu Explosionen in freier Umgebung mit erhöhter Mortalität und Morbidität assoziiert [5, 6].

Abb. 2 Durch den der Druckwelle folgenden „blast wind“ werden Splitter und Trümmer in Bewegung versetzt; ihr schädigender Radius ist bis zu 100-mal größer als der der Druckwelle. Im Rahmen des ISAF-Einsatzes durch umherfliegende Trümmerteile beschädigtes Fahrzeug in Afghanistan.

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Stärke der Explosion Sie ist abhängig von der Art und Menge des Explosivgemisches sowie verschiedenen physikalischen Kenngrößen. Eine maßgebliche Größe für das Ausmaß der Explosion ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Explosion vollzieht. Sie wird unterschieden in:

Glossar

Bildnachweis: Björn Hossfeld

Splitter entstammen entweder der Ummantelung des Explosivgemisches oder entstehen durch Fragmentierung von Gegenständen in der Umgebung der Explosion. Durch den der Druckwelle folgenden „blast wind“ werden Splitter und Trümmer in Bewegung versetzt; ihr schädigender Radius ist bis zu 100-mal größer als der der Druckwelle [3] (q Abb. 2). Freigesetzte heiße Explosionsgase verursachen thermische Verletzungen direkt oder indirekt durch Inbrandsetzung der Umgebung.

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N Folgen von Bombenattentaten an Bushaltestellen und in Bussen in Israel Anschlagorte im Businneren (n = 2) (confined space)

Anschlagorte an offener Bushaltestelle (n = 2) (open space)

Verletzte gesamt

93

204

davon verstorben

46 (49 %)

15 (7,8 %)

0,00001

Verletzte mit primären Explosionstraumata

31 (77,5 %)

25 (34,2 %)

0,00003

mittlerer Injury Severity Score (ISS)

18

4

0,0001

Definition und Einteilung der Explosionsverletzungen



Definition Der Begriff Explosionsverletzung (engl. „blast injury“) bezeichnet die biomechanischen und pathophysiologischen Veränderungen und ihre klinischen Symptome, die resultieren, wenn ein lebender Körper einer Detonation von explosiven Stoffen ausgesetzt wird [7]. Explosionen verursachen thermomechanische Kombinationsverletzungen, deren Ausmaß von leichten Schädigungen ohne Störung der Vitalfunktionen bis zum komplexen Polytrauma reicht.

Verletzungsausmaß Das Verletzungsausmaß ist von zahlreichen Faktoren abhängig, u. a. von ▶ der Entfernung des Opfers zur Explosion, ▶ Art und Menge des explodierten Gemisches und ▶ dem Explosionsort. Laut Kluger et al. 2004 [8] weisen explosionsbedingte Traumata, verglichen mit Traumata anderer Ursachen, eine höhere Verletzungsschwere auf und bedingen mehr chirurgische Interventionen und eine längere Krankenhausverweildauer. Zudem sind öfter mehr als 3 Körperregionen parallel verletzt.

Bildnachweis: Thorsten Holsträter

Abb. 3 Sekundäre Explosionsverletzung. Komplexe penetrierende Weichteilverletzungen, verursacht durch umherfliegende Splitter. Aufnahme im Rahmen des ISAF-Einsatzes, Afghanistan.

Signifikanzniveau p

Häufigste unmittelbare Todesursachen der schweren Explosionsverletzung sind ▶ Polytrauma, ▶ Kopfverletzungen, ▶ Thoraxverletzung, ▶ Abdominaltrauma, ▶ Amputation und ▶ Luftembolie im Rahmen von primären Explosionsverletzungen [9].

Kategorien Explosionsverletzungen werden, entsprechend ihres Entstehungsmechanismus und der Schädigungsursache, in 4 Kategorien eingeteilt [10]: Primäre Explosionsverletzungen Diese Verletzungen entstehen durch die barotraumatisierende Wirkung der Druckwelle auf den Körper und werden pathophysiologisch den stumpfen Verletzungen zugeordnet. Druck- und Scherkräfte wirken v. a. auf luftgefüllte Organe wie Lunge, Darm und Ohren, möglicherweise ohne dabei extern sichtbare Verletzungen zu verursachen. Luftgefüllte Hohlorgane werden durch die Druckwelle zunächst stark komprimiert, der darauf folgende plötzliche Druckabfall bewirkt eine rasche Expansion mit traumatischer Eröffnung des Hohlraums [11]. Schutzwesten, wie sie von Polizei und Militär getragen werden, schützen nicht vor primären Explosionsverletzungen, sondern wirken hier möglicherweise sogar verstärkend [12]. Ihre Aufgabe ist vielmehr der Schutz vor den sekundären Explosionsverletzungen. Sekundäre Explosionsverletzungen Die sekundären Explosionsverletzungen werden durch von der Detonation beschleunigte Fragmente und Trümmer unterschiedlicher Größe verursacht, die den Körper des Patienten penetrieren. Diese Fragmente können ▶ Teil des Sprengsatzes sein (z. B. Ummantelung oder extra zugegebene Schrauben, Nägel, Murmeln) oder ▶ in der Umgebung der Detonation beschleunigt worden sein (z. B. Steine, aber auch Knochenfragmente des Attentäters bei Selbstmordanschlägen).

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Tab. 1 Vergleich der Folgen von Bombenattentaten an Bushaltestellen („open space“) und in Bussen („confined space“) in Israel. Daten aus [5].

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N Einteilung der Explosionsverletzungen Einteilung

Schädigungsursache

betroffene Organe

Verletzungsmuster

primäre Verletzungen

direkte Auswirkung der Druckwelle auf den Körper im Sinne von Druck- und Scherkräften

luftgefüllte Organe

▶ Ohr: Trommelfellruptur ▶ Lunge: Blast Lung Injury (BLI) ▶ Gastrointestinaltrakt: Darmkontusionen, -perforationen, Mesenterialeinrisse ▶ Extremitäten: traumatische Amputationen ▶ Weichteilverletzungen

sekundäre Verletzungen

Splitter, Fragmente

alle Körperregionen

▶ überwiegend penetrierende Verletzungen

tertiäre Verletzungen

indirekte Auswirkung der Druckwelle: Sturz, Anprall

alle Körperregionen

▶ penetrierende und stumpfe Verletzungen

Verschüttung verschiedene Ursachen: Flammen, Rauchgase

alle Körperregionen

▶ Verbrennungen ▶ Rauchgasintoxikationen

Giftstoffe

▶ Intoxikationen ▶ Kontamination

akute Manifestation chronischer Erkrankungen

▶ Dekompensation (z. B. COPD, KHK)

Die sekundären Verletzungen sind die häufigsten im Rahmen einer Explosion auftretenden Verletzungen [13, 14] (q Abb. 3).

Selbst kleinste Läsionen können Hinweis auf ein eingesprengtes Fragment sein, das schwerste innere Verletzungen an Thorax, Abdomen oder Schädel hervorruft. Die sichere Diagnostik ist erst innerklinisch mittels Bildgebung möglich.

Tertiäre Explosionsverletzungen Diese Traumata sind klassische stumpfe Verletzungen und entstehen, wenn der von der Druckwelle beschleunigte Körper des Patienten gegen Hindernisse prallt oder von einstürzenden Gebäudeteilen getroffen wird. Quartäre Explosionsverletzungen Die quartären Explosionstraumata sind im Wesentlichen durch thermische Effekte der Explosion oder durch entzündete Materialien am Schadensort bedingt. Darüber hinaus werden zu den quartären Verletzungen alle Umstände gezählt, die zu einer negativen Beeinflussung der Verletzungen infolge explosionsunabhängiger Ursachen führen. Die Einteilung der Explosionsverletzungen ist in q Tab. 2 zusammengefasst.

und Rettungsdienst vor eine große Herausforderung.

Tab. 2 Daten aus [10]. COPD = chronisch obstruktive Lungenerkrankung; KHK = koronare Herzerkrankung.

Lagebeurteilung und Eigengefährdung



Eigenschutz hat Vorrang Eigenschutz ist die Grundvoraussetzung für das Tätigwerden der Rettungskräfte am Einsatzort. Eine enge Zusammenarbeit mit den Organen der Gefahrenabwehr, Polizei und Feuerwehr ist zwingend erforderlich. Die sorgfältige Lagebeurteilung vor Betreten des Schadensortes dient der Erkennung von möglichen Gefahren am Einsatzort und der Risikoreduktion für Rettungskräfte und Patienten (q Tab. 3).

Mögliche Gefahren vorab abklären Während, wie in q Fallbeispiel 1 dargestellt, von einem einzelnen, bereits detonierten Explosionskörper keine weitere Gefahr mehr für die Helfer ausgeht und somit eine gefahrlose Annäherung an den Tab. 3

Mögliche Gefahren für Helfer strukturelle Gefahren

▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Gebäudeeinsturz ungesicherte Gefahrenstellen defekte Leitungen Brand weitere Explosionen

Besonderheiten der Einsatztaktik nach Explosionen

Gefahr durch Beteiligte

▶ Massenpanik ▶ irrational handelnde Betroffene ▶ Fehleinschätzungen der Einsatzleitung

Das ungewohnte Schadensereignis, hohe Opferzahlen mit komplexen Verletzungsmustern und eine mögliche Eigengefährdung stellen Notarzt

Second Hit (bei Terroranschlägen)

▶ zeitverzögert gezündete Sprengsätze, um Helfer gezielt zu treffen

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quartäre Verletzungen

▶ Crush-Verletzungen ▶ Kompartment

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N Fallbeispiel 2 Durch die integrierte Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst werden neben 2 Löschzügen mit Drehleiter 3 Rettungswagen, 2 Notärzte und die sanitätsdienstliche Einsatzleitung (SanEL) des zuständigen Rettungsdienstbereichs zu einer „Explosion in Wohnhaus“ alarmiert. Beim Eintreffen des ersten Notarztes ist die Lage zunächst unklar, auf Zuruf von Umstehenden erfährt er, dass vermutlich Verletzte im zerstörten und qualmenden Mehrfamilienhaus zu erwarten sind. Nach Einschätzung des zuständigen Einsatzleiters der Feuerwehr wird eine Gasexplosion als Ursache für die Zerstörung angenommen. Vor einer Sichtung des zerstörten Gebäudes durch die Feuerwehr werden die zuständigen Stadtwerke mit einer Unterbrechung der Gaszufuhr beauftragt. Für die dann zu rettenden Betroffenen wird eine Verletztenablage in sicherem Abstand zur Gefahrenquelle sowie ein Wagenhalteplatz für nachrückende Rettungsdienstkräfte festgelegt.

Patienten mit unmittelbarer Versorgung möglich ist, verhält sich dies bei unklaren Lagebildern gänzlich anders (q Fallbeispiel 2). Sowohl bei Gasexplosionen, Industrieunfällen oder nicht auszuschließendem terroristischem Hintergrund muss mit weiteren Detonationen gerechnet werden. Dementsprechend muss sich der Rettungsdienst vor Eindringen in den möglichen Gefahrenbereich aus Gründen des Eigenschutzes mit dem Einsatzleiter vor Ort über mögliche Gefahrenstellen und weitere Explosionen absprechen. Eine Rettung der Betroffenen aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich darf in solchen Fällen nur in kleinen Trupps erfolgen. Ähnlich wie z. B. bei Bränden erfolgt eine erste notfallmedizinische Versorgung erst nach Rettung aus dem Gefahrenbereich.

Second Hit Nicht nur bei Gasexplosionen muss zwingend mit weiteren Detonationen gerechnet werden. Insbesondere bei terroristischen Anschlägen werden weitere Sprengsätze in der Umgebung des ersten Sprengsatzes platziert, um nach Eintreffen von Helfern und Schaulustigen mit einer zweiten Zündung die Opferzahlen zu erhöhen.

In diesem Zusammenhang spricht man von „second device“ oder „second hit“. Diese Möglichkeit muss den Einsatzkräften bewusst sein, um sich vor einer zweiten Explosion schützen zu können. Auf keinen Fall sollten unter diesem Gesichtspunkt die Opfer eines möglicherweise kriminellen oder terroristischen Anschlags am Schadensort versorgt werden. Vielmehr sollte wie in q Fallbeispiel 2 eine Versorgung erst in sicherem Abstand zum Explosionsort erfolgen. Infobox START-Algorithmus S T A R T

Simple Triage and Rapid Treatment

Sichtung START-Algorithmus Bei großen Explosionsereignissen ist mit einem hohen Anteil an Leichtverletzten zu rechnen [15]. Vor der Behandlung stehen die zügige Evakuierung der Verletzten aus

dem Gefahrenbereich sowie die Sichtung. Als präklinischen Sichtungsalgorithmus empfiehlt die S3-Leitlinie Polytrauma-/ Schwerverletztenbehandlung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) [1] den in den USA entwickelten START-Algorithmus (q Infobox) [16]. Dieser berücksichtigt auch die Prioritäten nach den ATLS-Vorgaben (ATLS = Advanced Trauma Life Support).

Die Sichtung dient der Identifizierung kritisch Verletzter, die unmittelbarer Behandlung bedürfen, ihrer Versorgung mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen und dem Transport in eine geeignete Klinik mit Behandlungskapazität [17].

Strukturierte präklinische Untersuchung und Erstmaßnahmen < C > ABCD-Schema Um die Prähospitalzeit so kurz wie möglich zu halten, wird empfohlen, nach dem prioritätenorientierten, symptombasierten ABCDE-Schema vorzugehen, einer militärischen Modifikation des PHTLS-Algorithmus (PHTLS = Pre-Hospital Trauma Life Support) [18]. Dabei steht für „critical bleeding“ = zeitkritische Identifikation und Behandlung komprimierbarer lebensbedrohlicher Blutungen [19]. Diese Empfehlung steht im Einklang mit der aktuellen Fassung der S3-Leitlinie Polytrauma-/ Schwerverletztenbehandlung [1].

< C > – Critical Bleeding



Häufige, aber vermeidbare Todesursache Lebensbedrohliche Extremitätenblutungen sind besonders zeitkritisch, weshalb ihre Kontrolle Priorität hat. Stark blutende Extremitätenverletzungen sind eine häufige, aber vermeidbare Todesursache [20] sowohl auf dem militärischen Gefechtsfeld [21] als auch bei Explosionsereignissen im zivilen Umfeld.

Kompression Wie in q Fallbeispiel 1 beschrieben sind manuelle Kompression und ein Kompressionsverband die Mittel der Wahl. Vor allem im Rahmen eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) sollte die Verwendung von im militärischen Umfeld erfolgreich eingesetzten Tourniquets zur Abbindung erwogen werden [22, 23] (q Abb. 4). ▶ Die Anwendung von Tourniquets an Patienten mit schweren Extremitätenblutungen nach Explosionstraumata reduziert die Mortalität signifikant [24]. Die Anwendung eines Tourniquets stellt eine temporäre Maßnahme dar und sollte, sobald es Situation, Zeit und Versorgungskapazität ermöglichen, durch andere blutstillende Maßnahmen ersetzt

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Kasuistik

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N werden. Die Anlage des Tourniquets sollte zum sicheren Stoppen distaler Blutungen, zur Reduktion der Anlagezeit und Minimierung des Druckschadens auf das Weichteilgewebe in dieser Situation immer eine Handbreit unter Achsel / Leiste erfolgen [25].

Weitere Verfahren Eine weitere Option ist die Anwendung hämostyptischer Substanzen (z. B. Celox®) oder extrem saugfähiger Verbandmaterialien (Kerlix®-Binde, Bauchtücher), deren Anwendung an anderer Stelle beschrieben ist [22].

A – Atemwege und HWS-Immobilisation

Erhaltene Spontatmung Bei Notfallpatienten mit erhaltener Spontanatmung ist nach Freimachen der Atemwege die Gabe von Sauerstoff mit höchstmöglichem Fluss über Maske mit Reservoirbeutel obligat.

Intubation Die Indikation zur endotrachealen Intubation sollte großzügig gestellt werden, wenn es taktische Lage und eigene Fähigkeiten zulassen. Denn insbesondere Patienten mit einer sog. Blast Lung Injury (BLI) profitieren von einer frühen, zielgerichteten (Beatmungs-)Therapie. Entsprechend der Handlungsempfehlung für das präklinische Atemwegsmanagement der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) sollte die Anzahl der Intubationsversuche nicht mehr als 2 betragen – mit einer max. Dauer von jeweils 30 s [26]. Alternativen Supraglottische Atemwegshilfen stellen eine Alternative bei Patienten dar, die nicht intubiert werden können. Die Koniotomie ist die Ultima Ratio in der Situation „cannot ventilate – cannot intubate“ [27].

Bildnachweis: Thorsten Holsträter

Hierzu ist die Entlastungspunktion mittels großkalibriger Nadel im 2. Interkostalraum (ICR) medioklavikular (Monaldi-Position) eine einfach und schnell durchzuführende, aber temporäre Maßnahme, bis eine Minithorakotomie mit Einlage einer Thoraxdrainage erfolgen kann [28].

C – Circulation



Nach weiteren Blutungen suchen Nachdem initial bereits vital bedrohliche Blutungen unterbunden wurden, gilt es nun, die Verletzten nach weiteren Blutungen abzusuchen und ggf. blutstillende Maßnahmen durchzuführen. Liegende Tourniquets und Druckverbände müssen erneut auf ihre Effektivität überprüft werden.

B – Belüftung / Beatmung

Zugang Die Anlage eines intravenösen Zugangs bei hämodynamischer Instabilität darf die präklinische Versorgungszeit nicht unnötig verlängern. Der intraossäre (i. o.) Zugang bietet hier spätestens nach 3 frustranen periphervenösen Punktionsversuchen eine sinnvolle Alternative [29]. Als Punktionsstellen eignen sich die proximale und distale Tibia sowie bei Patienten mit explosionsbedingten Amputationen in diesem Bereich auch der proximale Humerus.

Spannungsthorax Offene Thoraxverletzungen sind unverzüglich mit luftdichten Verbandmitteln zu schließen. Ein Spannungspneumothorax fand sich in einer Untersuchung von Arnold et al. 2004 [6] bei bis zu 9 % der Patienten, die einer Explosion ausgesetzt waren. Der Spannungspneumothorax ist, neben der Hämorrhagie, eine weitere vermeidbare Todesursache bei Explosionstraumata. ▶ Dementsprechend sollte der Notarzt bei Explosionsverletzten stets die Notwendigkeit einer Pleuraentlastung bedenken.

Volumentherapie Kreislaufinstabile Patienten mit unkontrollierten Blutungen profitieren einzig von einer zügigen chirurgischen Therapie. Bis zum Erreichen der Klinik kann die Kreislaufstabilisierung mit Volumen und Katecholaminen erfolgen. Das Konzept der permissiven Hypotension mit systolischem Blutdruck von 80–90 mmHg verbessert möglicherweise das Outcome von Patienten mit nicht beherrschbaren Blutungen [30], sollte jedoch bei Patienten mit SchädelHirn-Trauma keine Anwendung finden. Ein restriktives Volumentherapieregime wirkt sich

Die Oxygenierung und Sicherung der Atemwege sowie die Immobilisation der Halswirbelsäule sind lebensrettende Maßnahmen mit gesicherter Evidenz [26].



Abb. 4 Explosionstrauma mit Amputationsverletzung und Versorgung durch Tourniquet. Aufnahme im Rahmen eines ISAF-Einsatzes, Afghanistan.

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N D – Disability

betroffenes Organ

Verletzung, Störung

Hörorgan

▶ Trommelfellruptur ▶ Verletzung Cochlea, Gehörknöchelchen ▶ Fremdkörper

Auge, Orbita, Mittelgesicht

▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Bulbusperforation Fremdkörper Luftembolie Frakturen Weichteilverletzungen

Atmungsorgane

▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Blast Lung Injury Hämatothorax Pneumothorax Lungenkontusion AV-Fistelbildung (Ursache für Luftembolien) Inhalationstrauma Aspirationspneumonie Sepsis

▶ ▶ ▶ ▶

Darmperforation intraabdominelle Blutung Leber- und Milzruptur Mesenterialischämie

kardiozirkulatorisches System

▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Herzkontusion Myokardinfarkt (Luftembolie) Schock vasovagal vermittelte Hypotension periphere Gefäßverletzung Schäden durch Luftembolie

ZNS

▶ ▶ ▶ ▶

SHT offen / geschlossen Schlaganfall Rückenmarkverletzung Schäden durch Luftembolie

Verdauungsorgane

Niere

▶ Nierenkontusion, -lazeration ▶ akutes prärenales Nierenversagen durch Rhabdomyolyse ▶ Hypotension ▶ Hypovolämie

Extremitäten, Weichteile

▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Tab. 4 AV = alveolovenös; SHT = Schädel-Hirn-Trauma; ZNS = zentrales Nervensystem.

traumatische Amputationen Frakturen Crush-Verletzungen Kompartment Verbrennung Schnittverletzungen arterielle Gefäßverschlüsse Schäden durch Luftembolie

zudem positiv bei Patienten mit Blast Lung Injury aus [11].

Blutverlust reduzieren Instabile Beckenfrakturen sollen durch Anlage einer Beckenschlinge komprimiert und frakturierte Extremitäten geschient werden, um den Blutverlust zu reduzieren.



Neurologische Untersuchtung Eine orientierende neurologische Untersuchung umfasst ▶ die Erhebung der Glasgow Coma Scale, ▶ ggf. die Abfrage der Orientierung zu Ort, Zeit und Person sowie ▶ die Untersuchung der Pupillenreaktion. Neurologische Störungen nach Explosionen können ihre Ursache sowohl in stumpfen oder penetrierenden Traumata (primäre bis tertiäre Explosionstraumata) als auch in arteriellen Luftembolien haben [2]. Differenzialdiagnostisch sind häufig auftretende Mittelohrschädigungen (Hörsturz, Trommelfellruptur) mit Hypakusis und Vertigo abzugrenzen.

E – Environment



Hypothermie Hypothermie verstärkt die traumainduzierte Koagulopathie und muss frühzeitig durch wärmeerhaltende Maßnahmen und angewärmte Infusionen therapiert werden. Polytraumatisierte Patienten oder solche mit unklarem Verletzungsausmaß sollen primär in ein überregionales Traumazentrum transportiert werden.

Individualmedizinische Maßnahmen bei ausgewählten Verletzungen Leitliniengerecht In q Tab. 4 sind die Explosionsverletzungen bezogen auf die Organsysteme dargestellt. Grundsätzlich soll die Behandlung von Explosionsverletzungen der S3-Leitlinie Polytrauma-/ Schwerverletztenbehandlung der DGU folgen [1], weshalb hier lediglich auf eine Auswahl der für Explosionen typischen Verletzungen und ihre Behandlung eingegangen wird.

Blast Lung Injury (BLI)



Die sog. BLI ist direkte Folge der Überdruckwelle und stellt ein Barotrauma dar.

Epidemiologie Die Inzidenz der BLI bei Überlebenden ist nach Explosionen in geschlossenen Räumen mit bis zu 44 % am höchsten [5, 6]. Bis zu 47 % der durch Explosionen getöteten Opfer weisen eine BLI auf [12]. Dies ist Ausdruck der Nähe des Opfers zum Explosionsort. Patienten mit Verbrennungen von ˃ 10 % Körperoberfläche zeigen eine höhere BLI-Inzidenz als diejenigen ohne Verbrennungen [31].

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Organbezogene Verletzungen

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Behandlung Die wichtigste Therapie der BLI stellt die Sicherstellung der Oxygenierung dar. Die Indikation zur endotrachealen Intubation und maschinellen Beatmung mit positivem endexspiratorischen Druck (PEEP) sollte großzügig gestellt werden, da die meisten Patienten mit klinisch manifestem BLI einer Beatmung bedürfen [34]. Bei früher Diagnose und adäquater Therapie hat die Blast Lung Injury eine gute Prognose [35].

Trommelfellperforation



Kein Marker für BLI Verletzungen des Trommelfells sind mit einer Inzidenz von 9–47 % [31] die häufigste primäre Explosionsverletzung am Mittelohr. Ein Zusammenhang zwischen Trommelfellperforation und BLI konnte nicht nachgewiesen werden [32]; eine Trommelfellperforation ist somit kein Marker für eine BLI.

Penetrierende Weichteilverletzungen, herbeigeführt durch die Druckwelle, herumfliegende Trümmer, Splitter oder durch Sturz, sind die häufigsten Verletzungen, v. a. bei Explosionen in offener Umgebung.

Verbrennungsverletzungen



Quartäre Explosionstraumata Schwere Verbrennungen und Inhalationstraumata, die den quartären Explosionstraumata zugeordnet werden, stellen die Behandler vor weitere Herausforderungen. Sie sind aufgrund der Nähe zum Explosionsort häufig mit primären Verletzungen assoziiert und treten vornehmlich bei Explosionen in geschlossener Umgebung auf (22 %) [13]. Ursachen Ursache sind entweder der direkte Einfluss der frei gewordenen thermischen Energie, brennende Kleidung oder Feuer in der Umgebung des Verletzten. Betroffen sind v. a. Hände und Gesicht sowie die Atemwege durch Inhalationstraumata. Weitere mögliche Ursachen für Inhalationstraumata können Gase und Toxine sein. Diagnostik Im Rahmen von Explosionsverletzungen sind Verbrennungen mitunter schwerwiegend, jedoch selten die führende Verletzung. Dementsprechend sollten auch Patienten mit Verbrennungen von ˃ 10 % Körperoberfläche zur primären Diagnostik in ein überregionales Traumazentrum gebracht und erst sekundär für ein Schwerbrandverletztenzentrum disponiert werden. Danksagung Wir danken dem Kollegen F. Josse für die Bereitstellung von Bildmaterial.

Weichteilverletzungen und Bewegungsapparat



Häufigste Verletzungen Penetrierende Weichteilverletzungen durch die Druckwelle, herumfliegende Trümmer, Splitter oder durch Sturz herbeigeführt, sind mit 66–86 % die häufigsten Verletzungen, v. a. bei Explosionen in offener Umgebung [13]. Sie finden sich aber auch bei unsachgemäßem Umgang mit geringeren Mengen Sprengstoff wie z. B. Feuerwerkskörpern. Bei Explosionen, die den Einsturz eines Gebäudes verursachen, ist mit einem erhöhten Anteil an Verschütteten zu rechnen. Die Verletzungsmuster sind auch hier komplex; Crush-Verletzungen, Kompartment-Syndrome, Frakturen sowie Unterkühlung durch verzögerte Extraktion treten gehäuft auf.

Fazit Explosionsverletzungen sind nicht auf kriege-

Beitrag online zu finden unter http://dx.doi. org/10.1055/s-0033-1361987

VNR: 2760512013141211996

rische Auseinandersetzungen oder terroristische Attentate beschränkt. Auch im privaten oder industriellen Umfeld kann der Notarzt mit derartigen Verletzungen, verursacht z. B. durch Feuerwerkskörper oder Gasexplosionen, konfrontiert werden. Dabei sind die Verletzungsmuster besonders komplex und vereinen stumpfe und penetrierende sowie thermische Verletzungen. Notfallmediziner müssen auf die Behandlung von Explosionstraumata, im Einzel- wie im Großschadensfall, vorbereitet sein. Dies erfordert Kenntnisse über die Entstehung einer Explosion und die besonderen pathophysiologischen Zusammenhänge von Explosionsverletzungen, um eine möglichst leitliniengerechte Traumatherapie initiieren zu können. ◀

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Pathophysiologie Pathophysiologisch finden sich Zeichen der Lungenkontusion mit intraalveolärer Hämorrhagie und Lungenödem, was zu Ventilations-/ Perfusionsstörungen, verminderter pulmonaler Compliance und somit zu Hypoxie und erhöhter Atemarbeit führt. Klinisch ähnelt die BLI dem Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS). Pneumothorax und Luftembolie durch alveolovenöse Fisteln sind beschrieben [32]. Ausgehend von broncho- und alveolovenösen Fisteln gelangen hämodynamisch relevante Luftmengen in die Pulmonalgefäße, was zu Kreislaufversagen, Herzrhythmusstörungen und akuten neurologischen Defiziten führen kann [33].

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Fachwissen

N Dr. med. Thorsten Holsträter ist Flottillenarzt und seit 2007 in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Bundeswehrkrankenhaus Ulm tätig, Er hat mehrfach an Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan, Djibouti und Bosnien teilgenommen und ist Notarzt auf dem Rettungshubschrauber Christoph 22, Ulm. E-Mail: [email protected]

Kernaussagen ▶ Die Ursachen von Explosionsverletzungen in Deutschland sind meist industrieller Natur, dazu kommen Haushalts- und Freizeitunfälle. ▶ Bombenexplosionen mit terroristischem Hintergrund sind in Krisengebieten an der Tagesordnung. Aber auch in Europa und den USA kommen solche Ereignisse vor. Notärzte sollten mit den speziellen, komplexen Verletzungsmustern und den Besonderheiten einer solchen Einsatzstelle vertraut sein. ▶ Explosionsverletzungen sind häufig komplexe Polytraumen. Typisch ist die Kombination aus stumpfen und penetrierenden Verletzungen sowie Verbrennungen. Die Einteilung erfolgt in primäre bis quartäre Verletzungsmechanismen. ▶ Der Anteil an Toten und Schwerstverletzten steigt bei Explosionen in geschlossenen Räumen bzw. wenn die Explosion den Einsturz von Gebäuden zur Folge hat. ▶ In MANV-Situationen (MANV = Massenanfall von Verletzten) treten hohe Anteile an Leichtverletzten und geringere Anteile an Schwerstverletzten auf. Durch sorgfältige Sichtung müssen die kritisch Verletzten identifiziert, erstversorgt und zügig in geeignete Behandlungseinrichtungen transportiert werden.

Daniela Rein ist Oberstabsarzt und seit Mai 2013 Truppenärztin der Deutsch-Französische Brigade in Müllheim, Breisgau. Sie hat an einem Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo teilgenommen.

▶ Die Erstbehandlung soll prioritätenorientiert nach dem ABCDE-Algorithmus erfolgen. Lebensrettende Maßnahmen vor Ort umfassen das Stillen kritischer Blutungen, die Sicherstellung der Oxygenierung und die Immobilisation der Halswirbelsäule sowie die Entlastung eines Spannungspneumothorax. ▶ Bei fehlender Kontraindikation (Schädel-Hirn-Trauma) soll bezüglich der Volumentherapie das Konzept der permissiven Hypotension verfolgt werden. Dies gilt auch für Schwerbrandverletzte.

Dr. med. Matthias Helm ist Oberstarzt und seit 2007 Leiter der Sektion Notfallmedizin am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Er hat regelmäßig an Auslandseinsätzen der Bundeswehr (Bosnien, Kosovo, Afghanistan etc.) teilgenommen.

▶ Blast Lung Injury (BLI) stellt ein durch die Druckwelle verursachtes Barotrauma dar und ist Ausdruck der Nähe des Opfers zum Explosionsort. Klinisch zeigen sich schwerste Oxygenierungsstörungen, auch ein Pneumothorax kann auftreten. Therapeutisch stehen die Sicherung der Oxygenierung und ggf. die Entlastung des (Spannungs-) Pneumothorax im Vordergrund.

Literaturverzeichnis 1 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). S3-Leitlinie Polytrauma-/Schwerverletzten-Behandlung 2011. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/012-019.html (Stand: 01.07.2011) 2 Horrocks CL. Blast injuries: biophysics, pathophysiology and management principles. J R Army Med Corps 2001; 147: 28–40 3 Champion HR, Holcomb JB, Young LA. Injuries from explosions: physics, biophysics, pathology, and required research focus. J Trauma 2009; 66: 1468–1477 4 Sattin RW, Sasser SM, Sullivent III EE. The epidemiology and triage of blast injuries. In: Elsayed NM, Atkins JL, eds. Explosion and blast-related injuries. London: Elsevier Academic Press; 2008: 3–40 5 Leibovici D, Gofrit ON, Stein M et al. Blast injuries: bus versus open-air bombings – a comparative study of injuries in survivors of open-air versus confined-space explosions. J Trauma 1996; 41: 1030–1035 6 Arnold JL, Halpern P, Tsai MC et al. Mass casualty terrorist bombings: a comparison of outcomes by bombing type. Ann Emerg Med 2004; 43: 263–273 7 Cullis IG. Blast waves and how they interact with structures. J R Army Med Corps 2001; 147: 16–26 8 Kluger Y, Peleg K, Daniel-Aharonson L et al. Israeli Trauma Group. The special injury pattern in terrorist bombings. J Am Coll Surg 2004; 199: 875–879 9 Halpern PP, Tsai MC, Arnold JL. Mass-casualty, terrorist bombings: implications for emergency department and hospital emergency response (Part II). Prehosp Disaster Med 2003; 18: 235–241

Dr. med. Björn Hossfeld ist Oberfeldarzt und Oberarzt in der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Darüber hinaus ist er Notarzt auf dem Rettungshubschrauber Christoph 22, Ulm, und hat mehrfach an Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan, Kosovo und Kongo teilgenommen.

Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur online Das vollständige Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden Sie im Internet: Abonnenten und Nichtabonnenten können unter „www.thieme-connect.de/ejournals“ die Seite der AINS aufrufen und beim jeweiligen Artikel auf „Zusatzmaterial“ klicken – hier ist die Literatur für alle frei zugänglich. Abonnenten können alternativ über ihren persönlichen Zugang an das Literaturverzeichnis gelangen. Wie das funktioniert, lesen Sie unter: http://www.thieme-connect.de/ejournals/help#SoRegistrieren

Holsträter T et al. Explosionsverletzungen – Präklinische Versorgung und Management. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2013; 48: 688–696

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Dr. med. Susanne Holsträter ist Oberstabsarzt und seit 2011 Assistenzärztin in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Sie hat mehrfach an Auslandseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan teilgenommen.

CME

Fachwissen

Präklinische Versorgung und Management von Explosionsverletzungen

A B C D

E

Trinitrotoluol wird den niederwertigen Explosivgemischen zugeordnet. Der schädigende Radius von Trümmern und Splittern ist geringer als der der Druckwelle. Eine Druckwelle im Rahmen einer Explosion breitet sich exzentrisch um den Detonationsort aus. Der schädigende Radius von Trümmern und Splittern, die durch den der Druckwelle folgenden „Blast Wind“ in Bewegung versetzt werden, kann bis zu 100-mal größer sein als der der Druckwelle. Gegenstände werden im Allgemeinen nicht durch die Druckwelle oder den „Blast Wind“ in Bewegung versetzt.

B C D E

7 Welche Aussage ist nicht richtig? A

B

2 Eine der folgenden Aussagen ist unzutreffend. Welche? A B C

D E

Für Trinitrotoluol (TNT) beträgt die Detonationsgeschwindigkeit etwa 6900 m/s. Trifft die Druckwelle auf eine harte Fläche, z. B. eine Wand, so wird sie abgeschwächt. Explosionen in geschlossener Umgebung sind im Vergleich mit solchen in offener Umgebung mit erhöhter Mortalität und Morbidität verbunden. Das Verletzungsrisiko reduziert sich mit zunehmendem Abstand von der Detonationsquelle. Bei niederwertigen Explosionsgemischen vollzieht sich die Detonationsgeschwindigkeit langsamer als bei hochwertigen.

3 Explosionsverletzungen (Blast Injuries) … A B C D E

sind ausschließlich penetrierende Verletzungen. entstehen unabhängig von der Entfernung des Opfers zum Detonationsort. werden entsprechend ihrem Entstehungsmechanismus in primäre bis quartäre Verletzungen eingeteilt. treten nur im Rahmen von Terroranschlägen auf. werden nur durch die Druckwelle verursacht.

4 Welche Aussage ist korrekt? A B C D E

Primäre Explosionsverletzungen sind thermische Verletzungen. Schutzwesten, wie von Polizei und Militär getragen, schützen zuverlässig vor der Druckwelle. Penetrierende Verletzungen sind die häufigsten im Rahmen einer Explosion auftretenden Verletzungen. Tertiäre Verletzungen sind u. a. Verbrennungen. Die Explosion von hochexplosiven Stoffen wird Verpuffung genannt.

5 Welche Aussage ist unzutreffend? A B C D E

Die sorgfältige Lagebeurteilung dient der Erkennung von möglichen Gefahren und somit der Risikoreduktion für die Helfer. Der sog. „second hit“ soll herbeigeeilte Helfer treffen. Bei Explosionsereignissen mit terroristischem Hintergrund gibt es in der Regel mehr Leicht- als Schwerverletzte. Die Sichtung der Patienten bei großen Explosionsereignissen erfolgt immer erst im Krankenhaus. Kritisch verletzte Patienten müssen zügig einer chirurgischen Therapie zugeführt werden.

Nach einer Explosion behandeln Sie einen Patienten mit

6 einer starken Blutung im Bereich des offen frakturierten

CME

distalen Oberschenkels. Wie gehen Sie vor?

A

Analgosedierung, Anamnese nach Allergien, Atemwegsmanagement, Abbinden.

Extremität hochhalten, Abdrücken, Tourniquet, weiter mit ABCDE. Atemweg sichern, Beatmung prüfen, Kreislauf stabilisieren, Blutung stillen, Wärmeerhalt, ausführliche neurologische Untersuchung. Das Konzept der permissiven Hypotension besteht darin, bei jeder Blutung eine Blutdrucksenkung auf max. 100 mmHg zu erwirken. Der Tourniquet braucht nicht durch einen Druckverband ersetzt zu werden.

C D E

Ein Tourniquet sollte sobald wie möglich durch einen Druckverband ersetzt werden, um eine zusätzliche Traumatisierung der Extremität zu verhindern. Die Entlastungspunktion bei Spannungspneumothorax mittels großkalibriger Nadel sollte immer im 4. ICR / vordere Axillarlinie erfolgen. Ein Spannungspneumothorax wird zu den vermeidbaren präklinischen Todesursachen gerechnet. Zur Kreislaufstabilisierung stehen dem Notarzt Infusionen und Katecholamine zur Verfügung. Kontraindikation für das Konzept der permissiven Hypotension stellt das Schädel-Hirn-Trauma dar.

Eine der folgenden Maßnahmen gehört nicht zur

8 algorithmusbasierten präklinischen Untersuchung und Therapie. Welche? A B C D E

Wärmeerhalt zur Prävention der traumainduzierten Koagulopathie Beginn der antibiotischen Therapie in der Präklinik Ruhigstellung frakturierter Extremitäten zur Reduktion des Blutverlusts Sicherstellung ausreichender Oxygenierung eine orientierende neurologische Untersuchung mit Prüfung der Pupillenreaktion

Wodurch ist die „Blast Lung Injury“ (BLI)

9 gekennzeichnet? A B C D E

Die BLI wird den tertiären Explosionsverletzungen zugeordnet. Die BLI ist stets mit einem Pneumothorax vergesellschaftet. Die BLI ist Ausdruck der Nähe des Opfers zur Detonation. Das rupturierte Trommelfell ist ein sicheres Zeichen für ein BLI. Die BLI wird stets erst mit einer Verzögerung von Tagen klinisch apparent und ist somit präklinisch irrelevant.

Nur eine der folgenden Aussagen ist zutreffend.

10 Welche? A

B C D E

Opfer von Explosionsverletzungen mit schweren Verbrennungen sollen immer erst in ein Schwerbrandverletztenzentrum gebracht werden. Polytraumata sollten in regionale oder überregionale Traumazentren transportiert werden. Bei Verbrennungen sollte stets ein sehr liberales Volumenregime zur Anwendung kommen. Der i. o.-Zugang stellt jederzeit eine gleichwertige Alternative zum i. v.-Zugang dar. Der START-Algorithmus dient der individuellen strukturierten präklinischen Versorgung.

CME.thieme.de CME-Teilnahme ▶ Viel Erfolg bei Ihrer Teilnahme unter http://cme.thieme.de ▶ Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, unter http://cme.thieme.de/hilfe finden Sie eine ausführliche Anleitung.

CME-Fragen – Präklinische Versorgung und Management von Explosionsverletzungen. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2013; 48: 697

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Wodurch ist die schädigende Wirkung einer Explosion

1 gekennzeichnet?

N

HINWEIS: Diese Fortbildungseinheit ist nicht wie üblich 12 Monate, sondern nur bis zum 15.09.2014 online für die CME-Teilnahme verfügbar.

CME-Fragen

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[Explosion injuries - prehospital care and management].

Explosion injuries are not restricted to war-like military conflicts or terrorist attacks. The emergency physician may also encounter such injuries in...
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