Schweiz. Ophthal. Ges., 67. Vers., Interlaken 1974 Ophthalmologica, Basel 172: 266-270 (1976)

Familiäre Optikusatrophie H. W ildberger Universitätsaugenklinik, Kantonsspital (Direktor: Prof. R. W itmer ), Zürich

Die juvenile, autosomal-dominant vererbte Optikusatrophie zeigt als besonderes Merkmal eine Blausinnstörung, im Gegensatz zu anderen er­ worbenen Optikusaffektionen, welche mit einer Farbensinnstörung im Rot-Grün-Bereich einhergehen [J aeger , 1954, 1966; F rançois und V er riest , 1957, 1961; G rützner , 1962, 1966; A ulhorn und G rützner , 1969]. Wir hatten Gelegenheit, Mitglieder einer grossen Sippschaft zu untersuchen, in der sich eine juvenile, autosomal-dominant vererbte Op­ tikusatrophie manifestierte.

Die Familie V., von der wir retrospektiv 6 Generationen überblicken konnten (Abb. 1), stammt aus dem Grenzgebiet zwischen dem Kanton Bern und dem Kanton Freiburg. Sie ist heute jedoch über die ganze Schweiz und im Ausland verteilt, wes­ halb ein Teil der Information nur auf schriftlicher Befragung beruht. Von 25 er­ krankten Individuen wurden 11 von uns untersucht, 3 weitere wurden von aus­ wärtigen Augenärzten gesehen und über 11 weitere erhielten wir von diesen selbst oder von den Angehörigen mehr oder weniger verbindliche Angaben. Es fand sich keine Konsanguinität. Ausser einer mittleren Myopie waren keine Erbleiden der Augen oder des Nervensystems vorhanden. Die 11 von uns untersuchten Patienten standen im Alter zwischen 11 und 68 Jahren. Die meist seitengleichen Sehschärfenwerte für die Ferne lagen zwischen 0,3 und 1,25. Nur in 1 Falle betrug die Sehschärfe 0,1. Alle Patienten gaben an, nie wesentlich besser gesehen zu haben und nie eine eindeutige Visusabnahme über Jahre bemerkt zu haben. Die Gesichtsfelduntersuchung am Goldmann-Perimeter ergab eine normale Ausdehnung der äusseren Isopteren mit den üblichen weissen Testmarken. Die innersten Isopteren waren je nach Schwere der Krankheit kon-

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Kasuistik

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Abb. /. Stammbaum der Familie V.

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M ä n n lic h

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W il d b e r g e r

zentrisch eingeschränkt, in ausgeprägten Fällen war der blinde Fleck makulawärts vergrössert. Bei beinahe allen Patienten wurde eine charakteristische Abblassung der temporalen Papillenhälfte in verschiedenem Ausmass gefunden. Der Farbensinn wurde mit den pseudoisochromatischen Tafeln von Ishihara, mit dem Farnsworth Panel D-15- und mit dem Farnsworth-Munsell-100-Hue-Test geprüft. 9 Patienten wurden zusätzlich am Anomaloskop nach Nagel untersucht. 2 Individuen gaben keine Sehbeschwerden an, und die Diagnose konnte nur aufgrund einer leichten Dyschromatopsie im Bereiche der Tritanachse am Farnsworth-100Hue-Test gestellt werden. Ein weiterer Patient bemerkte lediglich leichte Schwierig­ keiten mit blaugrünen Farbtönen. Die weiteren 8 Patienten klagten über eine Far­ bensinnstörung, welche je nach Schwere der Krankheit nicht nur die blauen Farb­ töne, sondern alle Farben miteinbezog. Aufgrund der Farnsworth-Teste konnte bei allen Patienten eine Störung im Bereiche der Tritanachse festgestellt werden. In leichten Fällen erlaubte der viel empfindlichere Farnsworth-Munsell-100-Hue-Test eine gute Darstellung der Farbensinnstörung, weil die Fehler auf die Tritanachse beschränkt blieben. Schwerere Fälle zeigten im 100-Hue-Fehlerdiagramm eine all­ gemeine Dyschromatopsie, der einfachere D-15-Test erlaubte jedoch eindeutig das Ablesen der Blausinnstörung. Am Anomaloskop wurde regelmässig eine Verschie­ bung der Rayleigh-Gleichung in den Protanbereich angegeben, und die IshiharaTafeln bestätigten die begleitende Rot-Grün-Störung. Bei 7 Patienten wurde ein Elektroretinogramm nach der von Berson et al. [1968] und G ouras [1970] angegebenen Methode durchgeführt, welche erlaubt, die globalen Antworten des Zapfen- und Stäbchensystems getrennt darzustellen. Bei allen Patienten waren die Elektroretinogramme beider Systeme von normalen Amplituden und normalem zeitlichem Ablauf.

Diskussion

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Der aufgeführte Stammbaum lässt das Vorliegen eines autosomal­ dominanten Erbganges annehmen. Die Übertragung der Krankheit vom Vater auf den Sohn wird mehrmals beobachtet. Jede Generation zeigt befallene Mitglieder. Es wäre zu erwarten, dass IV/19 und IV/27 befal­ len wären; die meisten Kleinkinder der V. und VI. Generation wurden nicht untersucht; deren Eltern haben bisher keine Sehstörungen beob­ achtet. Vermutlich ist die Expressivität des Leidens in einzelnen Fällen so schwach, dass die Betroffenen diskrete Symptome nicht einmal bemer­ ken. In der Literatur [z. B. K rill et al., 1971] wurden Individuen be­ schrieben, welche bei völliger subjektiver Beschwerdefreiheit einen Tritandefekt aufwiesen. Die klinischen Befunde sprechen ebenfalls für eine juvenile, autoso­ mal-dominant vererbte Optikusatrophie. Die Krankheit beginnt in früher Jugend, der Verlauf ist stationär und damit relativ gutartig im Vergleich

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zu rezessiven Formen oder zur Leberschen Optikusatrophie, die eher unter dem Bilde einer jugendlichen Retrobulbärneuritis verläuft. Die erworbene Blausinnstörung wird in schweren Fällen von einer allgemeinen Dyschromatopsie maskiert. Daher ist der einfachere PanelD-15-Test häufig dem empfindlichen Famsworth-Munsell-lOO-Hue-Test überlegen [L inksz , 1973], J aeger [1954] vermutete, dass der degene­ rative Prozess nicht primär im Sehnerv, sondern im Bereiche der perimakulären Netzhaut beginnt, da die erworbene Blausinnstörung üblicher­ weise nur bei zentralen Netzhauterkrankungen auftritt. G rützner [1962] fand bei der vorliegenden Optikuserkrankung ähnliche Unterschiedsemp­ findlichkeiten für Wellenlängen (/(//.-Kurven) wie bei zentralen Netz­ hautdegenerationen. Bei J aegers Hypothese wäre eine primäre Degene­ ration von Bipolaren für eine transneurale, aufsteigende Degeneration verantwortlich [J aeger , 1966]. Entsprechende Berichte über elektroretinographische Untersuchungen sind indessen widersprüchlich. H ell ner und H aase [1967] beschrieben Störungen der Zapfen-, weniger der Stäbchenantworten. J aeger [1966] und K rill et al. [1971] fanden nor­ male retinale Antworten. Ebenso ergaben die von uns vorgenommenen elektroretinographischen Untersuchungen keine Hinweise für eine Stö­ rung in den äusseren und mittleren Netzhautschichten.

Dank Herrn Dr. G. N iemeyer sei für seine Ratschläge, Schwester L illy B ernet für die technische Assistenz und Herrn B. S chotel , Universitätsaugenklinik Rotter­ dam, für die Zeichnung des Stammbaumes gedankt. Ferner danke ich Herrn Dr. M. G ruber, Zürich, Herrn Prof. D. K lein , Institut universitaire de génétique médicale in Genf, und Herrn Dr. H. G assmann, Bern, welche uns auf weitere Fami­ lienmitglieder aufmerksam machten. Diese Arbeit entstand mit teilweiser Unter­ stützung des Schweizerischen Nationalfonds.

Literatur

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F rançois, J. et Verriest, G. : Les dyschromatopsies acquises. Annls Oculist. 190: 713-746,

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H. W ildberger, Universitätsaugenklinik, Kantonsspital, Rämistrasse 100, CH-8006 Ziirich (Schweiz)

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[Familial optic atrophy].

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