Editorial 183
Generelle oder selektive medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe nach Sectio?
Autor
W. Rath
Institut
Gynäkologie und Geburtshilfe, Medizinische Fakultät, Universitätsklinikum, Aachen
Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1390486 Z Geburtsh Neonatol 2014; 218: 183–184 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0948-2393 Korrespondenzadresse Univ.-Prof. Dr. med. Werner Rath Gynäkologie und Geburtshilfe Medizinische Fakultät Universitätsklinikum Wendlingweg 2 52074 Aachen Tel.: 0241/80 80 884 Fax: 0241/80 82 711
[email protected] Vor dem Hintergrund einer Verdopplung venöser Thromboembolien (VTE) in den letzten 20 Jahren, stetig steigender Sectioraten und weltweiter Bemühungen zur Senkung der mütterlichen Mortalität (Millennium-Goal 5 der UN 2009) ist die medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe nach Kaiserschnitt wieder in den Fokus klinischen Interesses gerückt. Thromboembolische Komplikationen gehören in den Industrieländern zu den führenden Ursachen direkter Müttersterbefälle, in den USA sind sie die häufigste Ursache mütterlicher Morbidität. In Deutschland muss jährlich mit 700–1400 Schwangerschafts-assoziierten thromboembolischen Ereignissen und 10 fallbezogenen Sterbefällen gerechnet werden, die vorwiegend Frauen nach Sectio caesarea betreffen. Aktuelle Leitlinien-Empfehlungen zur medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe sind komplex und werden im klinischen Alltag nur unzureichend umgesetzt. So erhalten nach Angaben des International Medical Prevention Registry on Venous Thromboembolism nur 61 % der Pa tientinnen mit Risikofaktoren eine Prophylaxe. Hauptproblem in diesem Zusammenhang ist die fehlende individuelle Risikoerfassung und Nichtbeachtung aktueller Leitlinien-Empfehlungen. Das Risiko für eine VTE liegt nach Sectio caesarea um das 1,2- bis 4-Fache höher als nach einer unkomplizierten vaginalen Geburt, nach elektiver Sectio ist dieses Risiko um das bis zu 2,7-Fache und nach sekundärer Sectio um das bis zu 4-Fache erhöht. Das Basisrisiko für VTE nach Sectio soll 0,5 % betragen, es steigt ab dem 35. Lebensjahr signifikant an, die Mehrzahl tödlicher Lungenembolien treten laut CEMACH-Report 2011 nach einem Kaiserschnitt auf. Überraschend ist, dass trotz breiter Anwendung in der Klinik die bisherige Datenlage zur Effizienz einer medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe nach Kaiserschnitt völlig unzulänglich ist. Insgesamt liegen nur 4 Studien (n = 830) vor, die nach Kaiserschnitt niedermolekulares Hepa-
rin (NMH) mit unfraktioniertem Heparin (UFH) oder Placebo verglichen. Auch eine 2012 publizierte prospektive Pilotstudie zur risikoadaptierten NMH-Prophylaxe nach primärer und sekundärer Sectio (keine Risikofaktoren: keine NMH, Risikofaktoren: Enoxaparin 2 000–4 000 IE/Tag über 7 Tage bis zu 6 Wochen nach der Geburt) brachte infolge inadäquater statistischer Power keine Klärung (Cavazza S et al. Thromb Res 2012; 120: 28–31). Leitlinien-Empfehlungen basieren daher auf Expertenmeinungen mit niedriger Evidenz. Da die sekundäre Sectio ein höheres Thromboembolie-Risiko aufweist als die primäre ist nachvollziehbar, dass in allen Leitlinien eine medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe über 7 Tage nach der Geburt empfohlen wird. Kritisch ist anzumerken, dass dieser Zeitraum nur klinisch- empirisch festgelegt wurde und heute Frauen nach Kaiserschnitt im Allgemeinen deutlich kürzere Zeit im Krankenhaus verbringen. Laut Leitlinien-Empfehlungen wird Schwangeren nach elektiver Sectio eine medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe für 7 Tage nach der Geburt nur dann empfohlen, wenn zusätzliche thrombogene Risikofaktoren vorliegen; d. h. nach elektiver Sectio ohne erkennbare Risikofaktoren ist keine Heparin-Prophylaxe erforderlich. Diese „selektive“ Thromboembolie-Prophylaxe ist allerdings kritisch zu bewerten. Wie eine eigene (nicht repräsentative) Umfrage an verschiedenen geburtshilflichen Kliniken in Deutschland zeigte, wird auch nach elektiver Sectio mehrheitlich eine generelle medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe durchgeführt. Dies ist nach meiner Auffassung aus folgenden Gründen sinnvoll: Es besteht, wie erwähnt, keine ausreichende Evidenz weder für die eine noch für die andere Vorgehensweise aus prospektiven, randomisierten Studien. Für eine generelle Thromboembolie- Prophylaxe spricht, dass der gezielte und sichere Ausschluss von einer medikamentösen Throm-
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General or Selective Medical Thromboembolic Prophylaxis after Caesarean Section
boembolie-Prophylaxe schwieriger und risikoreicher ist als die Durchführung einer generellen Prophylaxe mit NMH nach Sectio (insbesondere in ausbildungsorientierten Kliniken). Eine eigene Auswertung von Patientinnen-Akten ergab, dass mehrheitlich bei der Aufnahme der Patientin in den Kreißsaal (und schon vorher) keine ausreichende und auf das individuelle Thromboembolie-Risiko der Schwangeren ausgerichtete Anamnese durchgeführt wurde; peripartale Risikofaktoren für eine VTE (z. B. erhöhter peripartaler Blutverlust, geburtshilfliche Traumata, Infektionen) bleiben häufig unberücksichtigt. Zudem können thrombogene Risikofaktoren vorliegen, die weder der Schwangeren bekannt, noch vom Geburtshelfer zu erfassen sind (z. B. nicht bekannte Thrombophilien) oder in der akuten Kreißsaal-Situation bei Aufnahme der Schwangeren nicht erfasst werden. Außerdem sind detaillierte Kenntnisse der zahlreichen relevanten Risikofaktoren erforderlich, die einzeln oder in Kombination laut Leitlinien-Empfehlungen eine selektive Thromboembolie-Prophylaxe notwendig machen. Auch die Risiko-Nutzenabwägung spricht für eine generelle Thromboembolie-Prophylaxe. So dürften die NMH-assoziierten Nebenwirkungen (z. B. Wundhämatome bis 2 %, allergische Haut reaktionen 0,6–2 %) für Schwangere weniger belastend sein als eine – wenn auch seltene – thromboembolische Komplikation und deren Folgen für die weitere Gesundheit der Betroffenen. Ein nicht weg zu diskutierendes Problem sind die Mehrkosten für eine generelle Thromboembolie-Prophylaxe mit NMH, wobei Kosteneffektivitätsanalysen zwischen einer generellen und selektiven Thromboembolie-Prophylaxe unter Berücksichtigung möglicher thromboembolischer Komplikationen meines Wissens nicht vorliegen. Nicht zuletzt können thromboembolische Komplikationen (insbesondere bei unzureichender Risikoerfassung), die sich „überraschenderweise“ im Wochenbett manifestieren, den Geburtshelfer im Schadensfall vor Beweisnöte (unterlassene medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe) stellen. So lange keine Evidenz-basierten Daten vorliegen, ist nach meiner Auffassung die generelle medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe auch nach elektiver Sectio einer selektiven vorzuziehen.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, was erwartet Sie noch in dieser Ausgabe? Zurzeit international diskutiert wird die Frage, ob der Geburtshelfer älteren Schwangeren im Hinblick auf das steigende Risiko für Totgeburt bereits vor dem Termin eine Geburtseinleitung empfehlen sollte (Beitrag W. Rath, F. Wolff). Das fast 100 Jahre alte Postulat „Once a caesarean always a caesarean” erfährt angesichts des steigenden Anteils primärer Re-Sectiones an der drastisch gestiegenen Gesamt-Sectiorate eine Renaissance. Zu diesem Thema liegen aktuelle Daten aus der hessischen Perinatalerhebung vor, die die Entwicklung und Veränderungen des Entbindungsmodus nach vorangegangener Sectio zwischen 1990–2012 aufzeigen (Kyvernitakis et al.). Interessant in diesem Zusammenhang ist der Beitrag von Lea Beckmann et al., die aus internationalen Statistiken die mütterlichen und neonatalen Ergebnisse bei vaginaler Geburt nach vorangegangener Sectio im Rahmen der außerklinischen Geburtshilfe herausgearbeitet haben. Traditionell werden in der ZGN die neuen Perzentil-Werte für die Körpermaße von Neu geborenen in Deutschland publiziert, eine unverzichtbare Orientierungshilfe für die klinische Praxis zur somatischen Klassifikation der Neugeborenen. Die prognostische Bedeutung des Dopplerflusses im Ductus venosus ist richtungsweisend für das geburtshilfliche Vorgehen bei schwerer Plazentainsuffizienz. Der Beitrag von I. Frauenschuh et al. beschäftigt sich in 4 interessanten Kasuistiken mit seriellen Dopplerflussmessungen und deren Ergebnissen vor intrauterinem Fruchttod. Kennen Sie schon die „Sumo-Kompression“ zur Behandlung schwerer postpartaler Blutungen? Wenn nicht, sei Ihnen der diesbezügliche Beitrag von L. Spätling und H. Schneider zur Lektüre empfohlen. Viel Freude beim Lesen dieser spannenden Artikel wünscht Ihnen im Namen der Herausgeber
Literatur beim Verfasser
Rath W. Generelle oder selektive medikamentöse … Z Geburtsh Neonatol 2014; 218: 183–184
Werner Rath
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