© Klaus Rüschhoff, Springer Medizin

HNO 2014 · 62:759–770 DOI 10.1007/s00106-014-2901-x Online publiziert: 29. August 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014  Redaktion

A. Neumann, Neuss

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Zertifizierung

CME  Zertifizierte Fortbildung W.F. Burke1 · T. Lenarz1, 2 · H. Maier1, 2 1 Klinik für Otorhinolaryngologie, Medizinische Hochschule Hannover 2 Cluster of Excellence Hearing4all, Hannover

Diese Fortbildungseinheit ist mit 3 CMEPunkten zertifiziert von der Landesärztekammer Hessen und der Nord rheinischen  Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung und damit auch für  andere Ärztekammern anerkennungsfähig.  

Hereditäre Schwerhörigkeit

Hinweis für Leser aus Österreich

Teil 2: Syndromale Formen der Schwerhörigkeit

Gemäß dem Diplom-Fortbildungs-Programm (DFP) der Österreichischen Ärztekammer werden die in der e.Akademie erworbenen CME-Punkte hierfür 1:1 als fachspezifische Fortbildung anerkannt.

Kontakt und weitere Informationen Springer­Verlag GmbH Springer Medizin Kundenservice Tel. 0800 77 80 777 E-Mail: [email protected]

Zusammenfassung

Die syndromalen Schwerhörigkeiten machen etwa 30% der vererbbaren Schwerhörigkeiten aus. Sie sind klinisch durch die Beteiligung weiterer Organsysteme charakterisiert. Während bei einigen Formen Mutationen bestimmter Gene ursächlich sind, liegen bei anderen Formen z. T. assoziierte Symptome ohne einheitliche genetische Grundlage vor. Aufgabe des HNO-Arztes ist es, die klinische und genetische Diagnostik bei entsprechendem klinischem Verdacht zu veranlassen und die erforderliche Therapie der Schwerhörigkeit einzuleiten und durchzuführen.

Schlüsselwörter

Bilaterale Schwerhörigkeit · Schwannom · Genetische Schwerhörigkeit · Usher-Syndrom · Neurofibromatose 2

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CME Hinweis Den Beitrag „Hereditäre Schwer­ hörigkeit. Teil 1: Überblick und praktische Hinweise zur Diagnostik“ finden Sie in der Ausgabe 4/2013 der HNO.

Lernziele Nach Lektüre dieses Beitrags... F haben Sie einen Überblick über die häufigsten Formen der syndromalen ­Schwerhörigkeit gewonnen, F können Sie die typischen Merkmale dieser Krankheitsbilder erkennen, F kennen Sie die HNO-Diagnostik, die für die Charakterisierung solcher Erkrankungen ­erforderlich ist.

Epidemiologie

In 30% der Fälle genetischer Schwerhörigkeit bestehen syndro­ mal vererbte Schwerhörigkeiten

Im 1. Teil dieses zweiteiligen Artikels wurde eine allgemeine Übersicht zum Verständnis der genetischen Grundlagen des Hörverlusts gegeben [1]. In diesem Teil sind die erblichen nichtsyndromalen Hörverluste (NSHHL, „non-syndromic hereditary hearing loss“) beschrieben mit Darstellung verschiedener hierfür verantwortlicher Mutationen. Grundsätzlich kann ein erblicher Hörverlust in syndromaler und nichtsyndromaler Form auftreten. Neben der nichtsyndromalen Vererbung, die für etwa 70% der Fälle von genetisch bedingter Schwerhörigkeit verantwortlich ist [2], verteilen sich die übrigen 30% auf syndromal vererbte Schwerhörigkeiten. Bis heute sind über 400 Syndrome, die mit Schwerhörigkeit assoziiert sind, beschriebenen worden [3]. Deren vollständige Darstellung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ziel der hier vorliegenden Arbeit ist es, die aus Sicht der Autoren in der klinischen Praxis wichtigsten Syndrome vorzustellen und auf die Syndrome einzugehen, die eine  Gefährdung für den Patienten bedeuten, wenn sie unentdeckt bleiben. Aufgrund des großen Spektrums an Krankheiten ist eine Systematisierung schwierig. Manche Autoren klassifizieren anhand der Vererbung, andere anhand der mitbetroffenen Organe. Der vorliegende Artikel versucht einen Mittelweg.

Definitionen

Beim nichtsyndromalen Hörverlust ist der Hörverlust das alleinige Symptom

Ein Syndrom ist als eine Konstellation von Anzeichen und Symptomen definiert, die zusammen auftreten, eine gemeinsame Ursache haben oder deren Ursachen voneinander abhängen. Im Gegensatz dazu ist beim nichtsyndromalen Hörverlust dieser das alleinige Symptom. Die Möglichkeiten von Kombinationen betroffener Organe im Spektrum der Syndrome sind nahezu unbeschränkt, was die Diagnose zusätzlich erschwert. Eine Kombination von Symptomen kann gemeinsame, aber auch unterschiedliche Ursachen haben. Das erschwert die Entscheidung, ob es sich um ein Syndrom oder um ein gemeinsames Auftreten unabhängiger klinischer Phänomene handelt. Wie bereits im 1. Teil beschrieben, können nichtsyndromale und syndromale Hörverluste verschiedenen Vererbungsmustern folgen: autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, X-chromosomal („X-linked“) oder mitochondrial. Ebenso können Mutationen auch spontan auftreten, ohne dass diese in der Familie vorher vorgekommen sind.

Hereditary hearing loss · Part 2: Syndromic forms of hearing loss Abstract

Syndromic hearing loss is responsible for approximately 30 % of cases of inherited hearing loss. The syndromic form can be differentiated from nonsyndromic hearing loss by the presence of associated symptoms in other organ systems. While for many forms of syndromic hearing loss the individual genes responsible have been identified, the etiology of other associated symptoms remains unclear. The role of the ENT physician is to select appropriate clinical and genetic diagnostic tools based on the presentation of the patient and to subsequently initiate and perform the required hearing loss therapy.

Keywords

Bilateral hearing loss · Schwannoma · Genetic hearing loss · Usher syndrome · Neurofibromatosis 2

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CME

Abb. 1 8 Hauptorgansysteme, die von mit Hörverlust einhergehenden Syndromen betroffen sein können

Diagnostik bei Hörgeschädigten Die Diagnostik der Schwerhörigkeit beginnt mit der Anamnese. Ziel ist es festzustellen, ob eine genetische Ursache vorliegen kann. Dies beginnt mit dem systematischen Ausschluss bekannter Ursachen der Symptome. Hier muss nach Infektionen durch  TORCH-Organismen (Toxoplasmose, Rubella, Zytomegalievirus und Herpes), Ereignissen in der Schwangerschaft, Hypoxie vor oder während der Geburt und einer Frühgeburt gefragt werden. Auch sollten Risikofaktoren wie der Aufenthalt auf einer Intensivstation oder die Gabe  ototoxischer Medikamente erfragt werden. Bei nicht angeborenen Schwerhörigkeiten sollten Traumata und andere Infektionen wie Meningitis ausgeschlossen werden. Weitere Fragen, z. B. nach Nachtblindheit, Tunnelblick, Hämaturie, verzögerter motorischer Entwicklung und synkopalen Episoden, sollten nicht vergessen werden. Anschließend sollte eine sorgfältige  Familienanamnese erhoben werden. Im Fall einer unauffälligen Familiengeschichte kann eine autosomal-rezessive Form oder – seltener – eine De-novo-Mutation in autosomal-dominanter Form vermutet werden. Sollten alle Generationen beider Geschlechter zu etwa 50% betroffen sein, liegt der Verdacht auf eine autosomal-dominante Form nahe. Besonders unter Hörgeschädigten kann aus Kommunikationsgründen eine  assortative Paarung bei autosomal-rezessiver Vererbung diese als autosomal-dominant erscheinen lassen. Sind jedoch nur männliche Kinder betroffen, kommt eine X-chromosomale Vererbung infrage. Wenn die Übertragung jeweils nur von der Mutter auf alle Kinder beiderlei Geschlechts stattgefunden hat, muss eine  mitochondriale Übertragung in Erwägung gezogen werden. Eine ausführlichere Zusammenfassung der Übertragungen findet sich im 1. Teil dieses CME-Artikels [1]. Die Bestimmung des Übertragungs- oder Vererbungsmodus kann immer zur Eingrenzung der infrage kommenden Gene und zur Reduzierung der Kosten für die genetische Diagnostik beitragen. Der nächste Schritt besteht in der  audiologischen Untersuchung der hörgeschädigten Patienten. Unsere audiologischen Untersuchungsmöglichkeiten umfassen neben der Reintonaudiometrie sowie dem Sprachverstehen in Ruhe und im Störgeräusch [Freiburger Einsilbertest bzw. Hochmair-SchulzMoser(HSM)-Satztest] transitorisch evozierte otoakustische Emissionen (TEOAE), auditorisch evozierte Hirnstammpotenziale (ABR), die Elektrocochleographie (EcochG) inklusive Compound-Action-Potenziale (CAP) und Cochlear Microphonics (CM) sowie einen Promontorialtest. Die Audiometrie kann Hinweise auf die zu testende Mutation geben. So deuten vorhandene otoakustische

Bei nicht angeborenen Schwer­ hörigkeiten sollten Traumata und ­Infektionen ausgeschlossen werden

Die Audiometrie kann Hinweise auf die zu testende Mutation geben HNO 10 · 2014 

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CME Tab. 1  Durch Bildgebung erkennbare morphologische Befunde, die mit einer syndromalen Schwerhörig-

keit einhergehen können Bildgebungsverfahren CT oder DVT des Felsenbeins MRT des Felsenbeins MRT der Neuroachse MRT der Orbita

Veränderung EVA „Incomplete partitioning“, Typ 2 Bilaterale AN Multiple Raumforderungen des ZNS oder der Spinalnerven Raumforderungen im Bereich des N. opticus

Assoziiertes Syndrom Pendred-Syndrom Pendred-Syndrom NF2 NF2 NF2

AN Akustikusneurinome, EVA erweiterter Aquaeductus vestibuli, NF2 Neurofibromatose 2.

Tab. 2  Usher-Gene. (Nach Friedman et al. [7])   Usher, Typ 1

Usher, Typ 2

Usher, Typ 3

Eine vestibuläre Dysfunktion kann auf ein Usher-Syndrom hindeuten

Ein vergrößerter ventrikulärer Aquädukt kann Hinweis auf ein Pendred-Syndrom sein

Eine Hämaturie ist ein starker ­Hinweis auf ein Alport-Syndrom

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Genlocus USH1B USH1C USH1D USH1F USH1G USH2A USH2C USH2D USH3A

Gen MYO7A USH1C CDH23 PCDH15 USH1G USH2A GPR98 WHRN CLRN1

Protein Myosin VIIA Harmonin b Cadherin-23 Procadherin-15 SANS Usherin „Very large G protein-coupled receptor 98“ Whirlin Clarin-1

Emissionen (OAE) in Kombination mit veränderten ABR auf einer perisynaptische Audiopathie oder einen retrocochleären Schaden hin, und es muss u. a. das Otoferlin-Gen (OTOF; [4]) in Betracht gezogen werden. Eine vestibuläre Dysfunktion kann auf ein Usher-Syndrom hindeuten. Der nächste Schritt ist die klinische Untersuchung. Ziel ist es festzustellen, ob der Hörverlust isoliert vorkommt oder ein Hinweis auf eine syndromale Form vorliegt. Hierzu sollen möglicherweise betroffene Organe systematisch untersucht werden. So können syndromale Formen anhand der betroffenen Organe systematisiert werden. Die . Abb. 1 gibt einen Überblick über die mit syndromalem Hörverlust einhergehenden Symptome und Anzeichen. Die Bildgebung mittels hochauflösender Darstellung des Felsenbeins kann weitere Hinweise liefern und Vestibularisschwannome sowie Meningeome ausschließen. Bei der Magnetresonanztomographie (MRT) kommt z. B. die Schädeldarstellung mit einer Flair-Sequenz und Gadolinium als Kontrastmittel, bei der hochauflösenden Computertomographie (CT) beispielsweise die Form der digitalen Volumentomographie (DVT) infrage. Eine in der MRT darstellbare Hypoplasie des VIII. Hirnnervs kann mit einem  CHARGE-Syndrom („coloboma, heart defect, choanal atresia, retarded growth, genital hypoplasia, ear anomalies“; Kolobom, Herzdefekt, Choanalatresie, Wachstumsverzögerung, Genitalhypoplasie, Ohranomalien) assoziiert sein. Obliterationen der Cochlea und des Vestibularorgans können auf eine ausgeheilte Meningitis hindeuten. Das Vorhandenseins eines vergrößerten ventrikulären Aquädukts (EVA) kann der Hinweis auf einen SLC26A4-Genotyp (Pendred-Syndrom) sein [5] oder als Folge einer postinflammatorischen Veränderung nach einer intrauterinen Infektion beobachtet werden. Die CT ergänzt die MRT durch die Darstellung der knöchernen Felsenbeinmorphologie, insbesondere der cochleären Anatomie, der Bogengänge und der vestibulären Aquädukte, sie kann Hinweise bezüglich traumatischer Veränderungen geben. In . Tab. 1 sind die durch die Bildgebung erkennbaren morphologischen Veränderungen, die mit den hier beschriebenen syndromalen Schwerhörigkeitsformen einhergehen können, zusammengefasst. In unserer Klinik umfassen die präoperativen Laboruntersuchungen von Kindern vor einer Cochleaimplantation ein großes Blutbild, Elektrolyte, INR und pTT, Kreatinin, TSH und ggf. T3 und T4. Zusätzlich wird eine Urinuntersuchung durchgeführt, da eine Hämaturie ein starker Hinweis auf ein Alport-Syndrom [6] ist. Das EKG kann ein verlängertes QT-Intervall aufdecken als Hinweis auf ein Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom mit dem Risiko des  plötzlichen Herztods.

CME

Abb. 2 9 Retinitis pigmentosa

Ausgewählte wichtige Syndrome Im Folgenden sind die häufigsten und wichtigsten Syndrome, die mit Schwerhörigkeit assoziiert sein können, nach den führenden klinischen Befunden zusammengestellt.

Syndrome mit Sehstörungen Usher-Syndrom

Das Usher-Syndrom (USH) ist durch einen sensorineuralen Hörverlust mit zunehmender Blindheit durch eine  Retinitis pigmentosa (RP) charakterisiert. Nicht selten ist es mit vestibulärer Dysfunktion kombiniert. Die Erkrankung ist sowohl im Hinblick auf das klinische Bild als auch bezüglich der zugrunde liegenden Genetik ausgesprochen heterogen [7]. Über 12 Loci bzw. 9 Gene wurde bereits im Zusammenhang mit dem Usher-Syndrom berichtet [8]. Diese sind in . Tab. 2 zusammengefasst. Es ist die häufigste Form des autosomal-rezessiven syndromalen Hörverlusts (ARSHL) mit einer Prävalenz von 1:20.000 Geburten [7], während das Vorkommen der RP (. Abb. 2) bei tauben Kindern bei etwa 3–6% liegt [3]. Daher gilt nicht der Umkehrschluss, dass jedes Kind mit einer RP an einem Usher-Syndrom leidet. Die Sehstörung beginnt üblicherweise mit Nachtblindheit und einer zunehmenden Einschränkung des peripheren Gesichtsfelds mit Tunnelblick, die schließlich in eine vollständige Blindheit übergeht. Die Sehprobleme können für den Patienten zunächst unbemerkt bleiben, daher sollte explizit danach gefragt werden. Klinisch lässt sich das Usher-Syndrom in 3 unterschiedliche Typen einteilen [7]: USH1-Patienten weisen den klinisch schwersten Verlauf auf. Hierzu gehören eine angeborene hochgradige Schwerhörigkeit oder  Taubheit, RP und ein vollständiger Verlust der vestibulären Funktion. Der Hörverlust ist bei USH1 üblicherweise bereits bei Geburt vorhanden, nicht progredient und weist nur ein Resthörvermögen in den tiefen Frequenzen auf („Corner-Audiogramm“; [3]). Der Sehverlust andererseits ist progredient, beginnt mit Nachtblindheit im 1. oder 2. Lebensjahrzehnt und entwickelt sich zu einem zunehmenden Tunnelblick, welcher in vollständiger Blindheit endet [7].   Bei USH2 besteht ein stabiler, mittel- bis hochgradiger sensorineuraler Hörverlust („sensorineural hearing loss“, SNHL) bei normaler vestibulärer Funktion. Das Audiogramm zeigt typischerweise eine  Hochtonschwerhörigkeit [7]; der Sehverlust beginnt meist in der Adoleszenz.   USH3 ist eine seltene Form, die meist bei Patienten finnischer Herkunft gefunden wird. Dort macht sie etwa 40% aller USH-Erkrankungen aus. Der Hörverlust bei dieser Form kann sehr heterogen sein und ist üblicherweise progredient mit postlingualem Beginn, wobei der Zeitpunkt der Diagnose zwischen der frühen Kindheit bis >35 Jahre beschrieben wird [7]. Eine Progredienz des Hörverlusts ist typischerweise zwischen der 1. und 2. sowie dann wieder zwischen der 4. und 5. Lebensdekade zu sehen. Gleichgewichtsfunktionsstörungen sind bei dieser Form variabel und betreffen nur etwa 45% der Patienten, ebenso weisen auch die Sehstörungen bei USH3 ein hohes Maß an Variabilität auf [7].

Bei tauben Kindern kommt eine RP in etwa 3–6% der Fälle vor Die RP beginnt mit Nachtblindheit und geht über in Tunnelblick und vollständige Blindheit USH1-Patienten weisen den klinisch schwersten Verlauf auf

Bei USH2 besteht ein stabiler ­sensorineuraler Hörverlust bei ­normaler vestibulärer Funktion USH3 ist eine seltene Form

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CME Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei hörgestörten Kindern, die zusätzlich eine  verzögerte motorische Entwicklung (Sitzen und Laufen) aufweisen, der Verdacht auf ein Usher-Syndrom besteht, weil bei diesem das vestibuläre System mitbetroffen ist. Die RP muss bei Kindern in der Untersuchung des Augenhintergrundes noch nicht sichtbar sein, sodass ein  Gentest sinnvoll ist.

Alström-Syndrom Das Alström-Syndrom umfasst u. a. sensorineuralen Hörverlust, ­Sehbehinderung und Diabetes ­mellitus Typ 2

Das Alström-Syndrom wurde zuerst 1959 als seltene Erkrankung beschrieben, die neben einem sensorineuralen Hörverlust auch eine Sehbehinderung, Diabetes melli- Abb. 3 8 Gesichtsmerkmale eines typischen Waardenburg-Patienten: weiße Stirnlocke, helltus Typ 2, kindliche Adipositas, Kardiomyopathie sowie blaue Irides und verbreiterte Distanz zwischen eine chronische Nephropathie umfasst [3, 9]. Die Präva- den medialen Augenwinkeln. Die Sprachprozeslenz wird zwischen 1:500.000 und 1:1.000.000 geschätzt soren für die Cochleaimplantate sind zu sehen. [10]. Die Ursache ist eine Mutation des ALMS1-Gens, (Mit freundlicher Genehmigung) dessen Funktion bis dato unbekannt ist [9]. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt. Der sensorineurale Hörverlust tritt im Alter von 5–10 Jahren auf, verläuft progredient und nimmt bis zur 2.–3. Lebensdekade einen schwerwiegenden Verlauf. Die Sehstörungen umfassen oft schon in der frühen Kindheit eine  starke Lichtempfindlichkeit und Nystagmen [3], nachlassende Sehschärfe, gefolgt von einem Verlust des peripheren Gesichtsfelds, der vor Beginn der Adoleszenz in einen vollständigen Verlust von Lichtwahrnehmung übergeht [9]. Die Eltern der betroffenen Kinder sind phänotypisch unauffällig. Berichte über Kinder Betroffener gibt es nicht, sodass unklar ist, ob die Betroffenen selber fertil sind [3].

Syndrome mit Haut- und Knochenveränderungen Waardenburg-Syndrom

Das Waardenburg-Syndrom stellt eine Sammlung assoziierter, aber genetisch heterogener Störungen dar

Pigmentstörungen der Augen sind häufig

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Der niederländische Augenarzt Waardenburg hat dieses Syndrom, dessen Vorkommen auf 1:42.000 geschätzt wird, erstmals 1951 beschrieben. Diese Erkrankung ist durch einen sensorineuralen Hörverlust charakterisiert, in 60–90% der Fälle durch Pigmentanomalien der Haut und der Haare sowie in manchen Formen durch eine  Dystopia canthorum und Verbreitung des Nasenrückens [11]. Bei der Dystopia canthorum handelt es sich um die Lateralisierung der medialen Augenwinkel, zusammen mit den Tränenpünktchen. Der normale Abstand der medialen Augenwinkel ist dann vergrößert [12], wobei 34 mm bei Kindern bis 16 Jahre, 37 mm bei erwachsenen Frauen und 39 mm bei erwachsenen Männern normal ist [3]. Das Waardenburg-Syndrom (WS) stellt eine Sammlung assoziierter, aber genetisch heterogener Störungen dar. Die Verbindung von Hör- und Pigmentstörungen beim WS geht zurück auf Veränderungen der Melanozyten, die von der Neuralleiste abstammen. Die typischen Gesichtsmerkmale sind in . Abb. 3 zu sehen. Die Erkrankung kann – den Begleitsymptomen entsprechend – in 4 Unterkategorien eingeteilt werden. Typ 1 (WS1) zeichnet sich durch eine Dystopia canthorum aus, die den Eindruck eines verbreiterten Nasenrückens hervorruft. Während bei Typ 2 (WS2) keine seitliche Verschiebung der inneren Augenwinkel vorhanden ist, finden sich bei Typ 3 (WS3) neben der Dystopia canthorum Veränderungen des Bewegungsapparats der oberen Extremitäten in Form von hypoplastischen Armen und einer reduzierten Muskelmasse [3]. Der Typ 3 wird auch als  Klein-Waardenburg-Syndrom bezeichnet. Der Typ 4 (WS4) tritt zusammen mit der Hirschsprung-Krankheit auf und wird auch als  Waardenburg-Shah-Syndrom bezeichnet. Neben den aufgeführten Symptomen weisen etwa 1/3 der durch WS1 und WS2 Betroffenen eine weiße Stirnlocke auf. Darüber hinaus werden bei 15–20% der Patienten Hautpigmentstörungen, wie z. B. Vitiligo, beobachtet. Pigmentstörungen der Augen sind häufig, wie z. B. zweifarbige oder unterschiedlich gefärbte Iriden (Heterochromia iridis), aber auch hypoplastische (hellblaue) Iriden. Bei WS1 treten in weniger als 20% Veränderungen der Iriden auf, während dies in über 40% der WS2Patienten der Fall ist. Die verantwortlichen Gene und Vererbungsformen sind in . Tab. 3 zusammengefasst.

CME Stickler-Syndrom

Das Stickler-Syndrom gehört zur Gruppe der kollagenassoziierten Störungen und ist mit 1:4500 bei Neugeborenen die zweithäufigste Form des autosomal-dominanten syndromalen Hörverlusts (ADSHL). Die Patienten zeigen  kraniofaziale Veränderungen, die mit typischer Abflachung des Mittelgesichts durch einen verkürzten Oberkiefer, flachem Nasenrücken, kleinem Kinn, Uvula bifida und vorstehenden Augen einhergehen. In nur etwa 15–25% ist das Erscheinungsbild des Gesichts unauffällig [3]. Etwa 30% der Patienten mit einer Pierre-Robin-Sequenz (. Abb. 4) haben das Stickler-Syndrom, wobei nur 25% der Stickler-Patienten die Pierre-RobinSequenz aufweisen. Bei der Pierre-Robin-Sequenz handelt es sich um eine Kombination aus Retrognathie, Mikrognathie, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und Retroglossoptose. Des Weiteren sind die Augen betroffen, anhand deAbb. 4 8 Pierre-Robin-Sequenz. ren Symptome auch 3 Typen des Syndroms unterschieMit freundlicher Genehmigung) den werden. Diese Patienten haben ein extrem hohes Risiko einer  Netzhautablösung, welche bei 70% der Betroffenen vor dem 20. Lebensjahr auftritt und unbehandelt zu einer Blindheit führt. Häufig sind die Betroffenen schon in der 1. Lebensdekade bis 18 dpt kurzsichtig [3]. Das Stickler-Syndrom vom Typ 1, auch  membranöser Glaskörper-Typ genannt, entsteht durch eine Mutation des COL2A1-Gens und weist ein persistierendes retrolentales Vestigium mit einer plissierten Membran auf. Das etwas seltenere Stickler-Syndrom vom Typ 2, auch  Kügelchen-Glaskörper-Typ genannt, entsteht durch Mutationen des COL11A1-Gens und wird durch Fasern unterschiedlicher Dicke im Glaskörper gekennzeichnet. Der Typ 3 ist auf eine Mutation des COL11A2-Gens zurückzuführen. Da die α2-Kette des Typ-XI-Kollagens im Glaskörper nicht vorkommt, weisen Typ-3-Patienten keine Glaskörperanomalien auf [13]. Das 3. mitbetroffene System ist der  Bewegungsapparat. Die Patienten können eine frühe Osteoarthritis, Gelenküberbeweglichkeit, Hüftgelenkschmerzen sowie Wirbelsäulenanomalien aufweisen. Weiterhin haben die Patienten oft eine verminderte Knochendichte und weisen eine erhöhte Knochenbrüchigkeit auf [13]. Für den Hals-, Nasen- und Ohrenarzt werden meist die audiologischen Veränderungen der Grund für den Erstkontakt sein. Die verschiedenen Formen des Stickler-Syndroms unterscheiden sich im Grad der Hörstörungen. Beim Typ 1 tritt bei etwa 60% der Patienten ein leicht- bis mittelgradiger sensorineuraler Hörverlust in den hohen Frequenzen auf. Beim Stickler-Syndrom Typ 2 ist der SNHL bei 90% der Betroffenen progredient, beim Typ 3 dagegen zeigen 100% einen stabilen, gering bis mittelgradigen Hörverlust [3].

Das Stickler-Syndrom gehört zur Gruppe der kollagenassoziierten Störungen

Bei der Pierre-Robin-Sequenz ­treten Retro- und Mikrognathie, ­Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und ­Retroglossoptose auf

Typ-3-Patienten weisen keine ­Glaskörperanomalien auf

Beim Stickler-Syndrom Typ 2 ist der SNHL bei 90% der Betroffenen ­progredient

Syndrome mit Nierenfunktionsstörungen Alport-Syndrom

Das Alport-Syndrom ist eine relativ häufige Form der erblichen Schwerhörigkeit mit einer Häufigkeit von 1:5000 bis 1:10.000 und für etwa 1% aller angeborenen Hörverluste verantwortlich. Es wird vermutet, dass schätzungsweise 5% aller Patienten mit Nierenversagen ein Alport-Syndrom haben [6]. Das 1927 beschriebene klassische Alport-Syndrom besteht aus einer Reihe zusammenhängender Störungen und wird durch Mutationen in einem von 3 Genen hervorgerufen, die für KollagenIV-Ketten kodieren. Ungefähr 85% werden  X-chromosomal durch Mutationen des Gens COL4A5 auf dem X-Chromosom übertragen, von denen 15% autosomal-rezessiv und der Rest autosomal-dominant vererbt werden [3]. Das Hauptcharakteristikum ist neben dem sensorineuralen Hörverlust eine progrediente  Glomerulonephritis mit Hämaturie. Drei der folgenden Kriterien sind für die Diagnose erforderlich: Hämaturie, der elektronenmikroskopische Nachweis in der Nierenbiopsie, ein anteriorer Lenticonus, also die Protrusion der Linse durch ihre Kapsel, spezifische Nierenveränderungen und hochfrequenter Hörverlust, der typischerweise progredient ab der Kindheit verläuft [3].

Etwa 5% aller Patienten mit ­Nierenversagen haben ein AlportSyndrom

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Die Schwere der Symptome ist ­tendenziell bei Frauen weniger ­ausgeprägt als bei Männern

Die autosomal-rezessive Form zeigt meist einen schwereren Verlauf

Das früheste Symptom ist eine Hämaturie, die oft Tab. 3  Waardenburg-Gene schon durch Rotverfärbung der Windeln entdeckt wird. Typ des Waarden­ Genlocus Gen Die Nierensymptome schreiten bis zu einer akuten Nie- burg-Syndroms 2q35 PAX3 reninsuffizienz fort, wobei die Zeitspanne von der indi- WS1 viduellen Mutation abhängt. Die Schwere der Sympto- WS2A 3q14.1-p12.3 MITF me ist tendenziell bei Frauen weniger ausgeprägt als bei WS2B 1p21-p13.3 WS2B Männern, die wegen dieser Form der Vererbung auch WS2C 8p23 WS2C häufiger betroffen sind. Etwa die Hälfte der männlichen WS2D 8q11 SNAI2 Betroffenen hat einen Lenticonus anterior, der meist als WS3 2q34 PAX3 zunehmende Schwierigkeit zu fokussieren beschrieben WS4A 13q22 EDNRB wird. Der progrediente Hörverlust der X-chromosoma- WS4B 20q13 EDN3 len Form betrifft auch hier Männer (70–90%) häufiger WS4C 22q13 SOX10 als Frauen (30%) und beginnt in der 2. Lebensdekade vorwiegend im Hochtonbereich [3, 6]. Die autosomalrezessive Form zeigt meist einen schwereren Verlauf, bei der typischerweise die akute Niereninsuffizienz schon in der Jugend manifest wird. Die Augensymptome und Hörstörungen sind mit denen der X-chromosomalen Form vergleichbar. Insgesamt ist die autosomal-dominante Form im Vergleich zur rezessiven Form weniger schwerwiegend. Weniger als 20% der dominant vererbten Fälle erleiden ein Nierenversagen.

Syndrome mit neurologischen Symptomen Neurofibromatose Typ 2 (NF2)

NF2 ist eine autosomal-dominante Erkrankung mit Entwicklung bilate­ raler vestibulärer Schwannome

Bis zu 80% der NF2-Patienten ­weisen spinale Tumoren auf Eine Diskrepanz zwischen ­schlechtem Sprachverstehen bei noch relativ guter Reintonhör­ schwelle ist häufig

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NF2 ist eine autosomal-dominante Erkrankung, die durch die Entwicklung bilateraler vestibulärer Schwannome (VS) charakterisiert ist (. Abb. 5). Daneben kommen Schwannome der spinalen und peripheren Nerven, Meningeome und andere ZNS-Tumoren vor. Bilaterale VS treten bei über 95% der betroffenen Patienten im mittleren Alter von 15–30 Jahren auf [3]. Die Anzeichen und Symptome dieser Erkrankung hängen stark von der Tumorlokalisation ab, wobei der aggressivere  Wishart-Typ mit einem frühen Beginn (meistens am Ende der 2. oder am Anfang der 3. Lebensdekade) von dem weniger aggressiveren  Gardener-Typ mit einem späteren Beginn unterschieden wird, wobei sich Symptome bei fast allen Patienten mit einer entsprechenden Mutation bis zum 60. Lebensjahr manifestieren. Die Mehrheit der Patienten (70%) zeigt auch Manifestationen der Haut, jedoch weniger ausgeprägt als bei NF1. Die Patienten haben meist weniger als 10  Hauttumoren, die sich oft als plaqueartige, intrakutane, erhabene hyperpigmentierte Läsionen darstellen und vermehrten Haarbewuchs aufweisen [14]. Manifestationen an den Augen sind in über 50% zu beobachten. Subkapsuläre Katarakte entwickeln sich in den Jugendjahren bei etwa 50% der Patienten und treten insgesamt bei etwa 80% der Patienten auf [3]. Bis zu 80% der NF2-Patienten weisen spinale Tumoren auf. In 20–30% der Fälle entwickeln sich [14] neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Schmerzkrämpfe, Muskelschwäche, Parästhesien und eine Querschnittsymptomatik. Audiologisch findet sich bei 50% der Patienten initial ein einseitiger Hörverlust. Eine Diskrepanz zwischen schlechtem Sprachverstehen bei noch relativ guter Reintonhörschwelle wird oft beobachtet. Neurale Schwerhörigkeit wird meist in der 2. oder 3. Lebensdekade bemerkt und verläuft progredient oder akut, häufig mit Ertaubung innerhalb einer Dekade [3, 14]. Die Erkrankung entsteht durch Mutationen im Tumorsuppressorgen Merlin. Obwohl sie autosomal-dominant vererbt wird, treten bei etwa 50–60% der Patienten keine Fälle in der Familienanam­ nese auf, sodass hier von einer De-novo-Mutation ausgegangen werden muss. Die Prävalenz wird mit 1:60.000 angenommen [3, 14]. Die Diagnose wird anhand der Manchester-Kriterien (erweiterte NIH Kriterien) gestellt [14], wobei eine der folgenden Konstellationen für die Diagnose ausreicht: F bilaterale vestibuläre Schwannome, F Verwandtschaft 1. Grades mit einem NF2-Betroffenen und 2 der folgenden Diagnosen: 1  Meningeom, Gliom, Neurofibrom, Schwannom, posteriore subkapsuläre Linsentrübung,

CME

Abb. 5 8 Bilaterale vestibuläre Schwannome

Abb. 6 8 Präaurikuläre Grübchen

F unilaterale vestibuläre Schwannome und 2 der folgenden Diagnosen: 1  Meningeom, Schwannom, Gliom, Neurofibrom, posteriore subkapsuläre Linsentrübung, F mehrere Meningome (≥2) und unilaterale vestibuläre Schwannome oder 2 der folgenden Diagnosen: 1  Gliome, Neurofibrome, Schwannome, Katarakt.

Syndrome mit Anomalien des äußeren Ohrs Branchiootorenales Syndrom

Mit einem Vorkommen von 1:40.000 ist das branchiootorenale (BOR-)Syndrom die dritthäufigste Form autosomal-dominanter Schwerhörigkeiten [15]. Die Patienten können nahezu jede Art von Schwerhörigkeit, von rein sensorineuralen bis zu kombinierten Formen, aufweisen. Zu der Schwerhörigkeit, die in 98% der Fälle vorhanden ist, kommen präaurikuläre Grübchen (. Abb. 6) oder Erhebungen (83%),  Halsfisteln (68%), Nierenanomalien (39%) sowie Missbildungen des äußeren Ohrs und des Gehörgangs (31%) als Hauptanomalien. Dazu kommt eine erhebliche Bandbreite von anderen Befunden mit geringerer Häufigkeit [15]. Die Gesichtskonturen sind oft schmal mit einem ausgeprägten Überbiss. Dieses Syndrom ist genetisch sehr heterogen mit mehreren beschrieben Loci.

Das branchiootorenale (BOR-)Syn­ drom ist die dritthäufigste Form ­autosomal-dominanter Schwer­ hörigkeiten Schwerhörigkeit ist beim BOR in 98% der Fälle vorhanden

Syndrome mit endokrinen Anomalien Pendred-Syndrom

Das Pendred-Syndrom ist die zweithäufigste Ursache für einen ARSHL [16]. Es entsteht durch Mutationen des SLC26A4-Gens, das bei dem DFNB4-Locus auf Chromosom 7 lokalisiert wurde [17]. SLC26A4 kodiert für einen SLC-Transporter der Familie 26, der den Transmembrantransporter  Pendrin kodiert, der in der Schilddrüse, der Niere und dem Innenohr exprimiert wird [5]. Die Anionen, die durch Pendrin ausgetauscht werden, sind je nach Gewebeart verschieden. Für das Innenohr wird vermutet, dass Pendrin einen Austausch von Chlorid und Bikarbonat ermöglicht. Es wurde in den Regionen nachgewiesen, die an der Wiederaufnahme von Endolymphe beteiligt sind, was eine Störung der Homöostase der Endolymphe als Folge haben könnte. Basierend auf einem Mausmodell postulierten Ito et al. [5], dass der Verlust der SLC26A4-Genfunktion zu einer Ansäuerung der Endolymphe führt. Das Hören führt zu einem Zyklus von oxidativem Stress mit Verlust der Funktion des KCNJ10, was zu einem Verlust des endocochleären Potenzials und somit des Gehörs führt [18]. Das Pendred-Syndrom ist typischerweise durch eine hochgradige, prälinguale sensorische Schwerhörigkeit und eine Jodverwertungsstörung mit Hypothyreose gekennzeichnet. Alle Patienten mit einer biallelischen Mutation des SLC26A4-Gens – mit oder ohne Struma – zeigen eine gestörte Jodmetabolisierung im Perchlorat-Discharge-Test [19]. Eine CT des Felsenbeins kann charakteristische Missbildungen, wie einen erweiterten Ductus endolymphaticus („enlarged“ bzw. „large ventricular aqueduct“, EVA bzw. LVA) zeigen (. Abb. 7) sowie ein er-

Das Pendred-Syndrom geht mit hochgradiger, prälingualer sen­ sorischer Schwerhörigkeit und ­Hypothyreose einher

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Abb. 7 9 Erweiterter ­ventrikulärer Aquädukt („enlarged ventricular aqueduct“, EVA)

weitertes Vestibulum und eine verkürzte Cochlea („incomplete partition“, Typ 2), die jedoch nicht spezifisch für das Pendred-Syndrom ist [19]. Eine  Struma sowie eine Hypothyreose wird in etwa 80% der Patienten beobachtet, die sehr variabel zwischen der Kindheit und dem Beginn der 3. Lebensdekade aufritt. Häufig kommt es zu schubweisen Verschlechterungen des Hörvermögens im Zusammenhang mit Kopftraumen oder erhöhtem intrakraniellem Druck [20, 21].

Syndrome mit kardialen Anomalien Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom Das Jervell-und-Lange-Nielsen-­ Syndrom ist sehr selten und das Nichterkennen deletär

Anfälle zeigen sich als Schwindel, Bewusstlosigkeit oder plötzlicher Tod Bei Kindern mit angeborener Taubheit und Synkopen ist an ein ­Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom zu denken

Diese autosomal-rezessive Erkrankung ist sehr selten und das Nichterkennen deletär [22]. Das Vorkommen variiert geographisch (häufig in Skandinavien und in Gesellschaften mit kulturell akzeptierter Konsanguinität; [23]). Ältere britische Studien beschreiben eine Prävalenz von 1,6–6:1 Mio., neuere Studien aus Schweden von 1:200.000 [23, 24, 25]. Da viele Patienten vor der Diagnosestellung sterben, sind diese Schätzungen wahrscheinlich eher konservativ. Ursächlich ist eine Mutation des KCNQ1- und/oder KCNE1-Gens, die Untereinheiten eines „Voltage-gated-Kaliumkanals“ kodieren [23]. Die Patienten weisen einen kongenitalen hochgradigen, bilateralen Hörverlust sowie ein  verlängertes QT-Intervall (QTc), meistens >500 ms, auf [24]. Der Hörverlust betrifft üblicherweise die hohen Frequenzen und ist oft von einem vestibulären Ausfall begleitet. Häufig haben diese Kinder eine verzögerte motorische Entwicklung [25]. Das verlängerte QTc-Intervall führt zu Tachyarrhythmien wie ventrikulären Tachykardien und Kammerflimmern [24]. Die Anfälle zeigen sich als Schwindel, Bewusstlosigkeit oder plötzlicher Tod und werden oft durch körperliche Belastung, starke Emotionen oder auch auditorische Stimuli wie Telefonklingeln ausgelöst [25]. Kinder mit angeborener Taubheit und Synkopenepisoden sollten unbedingt an ein Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom denken lassen. Die Erkrankung ist behandelbar, verläuft jedoch fatal, wenn sie nicht erkannt wird.

Fazit für die Praxis F Die syndromale Schwerhörigkeit macht einen nicht unerheblichen Anteil der genetischen Schwerhörigkeit (und entsprechend der angeborenen Schwerhörigkeit) aus. F Einige der Syndrome sind beispielsweise anhand offensichtlicher körperlicher Merkmale leicht zu erkennen, während sich andere Syndrome erst später als Syndrom erkennen lassen. F Das Früherkennen von assoziierten Symptomen kann lebensrettend sein.

Korrespondenzadresse W.F. Burke Klinik für Otorhinolaryngologie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover [email protected] Danksagung.  Die Autoren möchten sich bei Fr. Daniela Beyer für ihre Unterstützung mit der Erstellung der Grafiken, bei Dr. Waldemar Würfel für das Review des Manuskripts und bei Prof. Dr. C. Framme für die Fundoskopiebildgebung bedanken.

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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  W.F. Burke, T. Lenarz und H. Maier geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren. Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Falle von nicht mündigen Patienten liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.

Literatur   1. Burke WF, Lenarz T, Maier H (2013) Hereditary hearing loss: part 1: diagnostic overview and practical advice. HNO 61:353–363   2. Matsunaga T (2009) Value of genetic testing in the otological approach for sensorineural hearing loss. Keio J Med 58:216–222   3. Toriello HV, Smith SD (2013) Hereditary hearing loss and its syndromes, 3. Aufl. Oxford University Press, New York   4. Rodriguez-Ballesteros M, Castillo FJ del, Martin Y et al (2003) Auditory neuropathy in patients carrying mutations in the otoferlin gene (OTOF). Hum Mutat 22:451–456   5. Ito T, Choi BY, King KA et al (2011) SLC26A4 genotypes and phenotypes associated with enlargement of the vestibular aqueduct. Cell Physiol Biochem 28:545–552   6. Hanson H, Storey H, Pagan J et al (2011) The value of clinical criteria in identifying patients with X-linked alport syndrome. Clin J Am Soc Nephrol 6:198–203   7. Friedman TB, Schultz JM, Ahmed ZM et al (2011) Usher syndrome: hearing loss with vision loss. Adv Otorhinolaryngol 70:56–65   8. Bonnet C, El-Amraoui A (2012) Usher syndrome (sensorineural deafness and retinitis pigmentosa): pathogenesis, molecular diagnosis and therapeutic approaches. Curr Opin Neurol 25:42–49   9. Welsh LW (2007) Alstrom syndrome: progressive deafness and blindness. Ann Otol Rhinol Laryngol 116:281– 285

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springermedizin.de/eAkademie

CME-Fragebogen Bitte beachten Sie: •  Teilnahme nur online unter: springermedizin.de/eAkademie •  Die Frage-Antwort-Kombinationen werden online individuell zusammengestellt. •  Es ist immer nur eine Antwort möglich.

??Welches der folgenden Syndrome

geht typischerweise nicht mit okulären ­Symptomen einher? Usher-Syndrom Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom Neurofibromatose Typ 2 Branchiootorenales Syndrom (BOR) Alström-Syndrom



??Taube Kinder, die eine verzögerte



??Wie wird das Usher-Syndrom vererbt?



 utosomal-dominant A Autosomal-rezessiv X-linked-rezessiv Y-linked-dominant X-linked-fakultativ

??Welches der folgenden Syndrome geht

häufig mit einem plötzlichen Tod einher?  sher-Syndrom U Stickler-Syndrom Nichtsyndromale hereditäre Schwerhörigkeit Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom Pendred-Syndrom

??Welches der folgenden Syndrome geht

mit multiplen Neoplasien im Bereich des zentralen Nervensystems einher? Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom Neurofibromatose Typ 2 Usher-Syndrom Alström-Syndrom Stickler-Syndrom

??Welche der folgenden Aussagen über das Alport-Syndrom trifft nicht zu?  ie Erkrankung wird überwiegend D ­X-linked vererbt. Das erste klinische Zeichen sind oft „rote Windeln“ aufgrund einer Makrohämaturie. Okulare und renale Erscheinungen sind häufig zu sehen.

E s geht immer mit Fistelbildung einher. Eine autosomal-rezessiv vererbte Form ist auch bekannt.



moto­rische Entwicklung aufweisen (spät ­sitzen und laufen) sollen welche ­Verdachtsdiagnose erwecken? Stickler-Syndrom Jervell-und-Lange-Nielsen-Syndrom Usher-Syndrom Pendred-Syndrom Alport-Syndrom

??Welches der folgenden Zeichen und

Symptome gehört nicht zum typischen Bild des Waardenburg-Syndroms? Dystopia canthorum Heterochromia iridis Weiße Stirnlocke Megakolon Pierre-Robin-Sequenz

??Welches der folgenden Symptome

kommt typischerweise bei dem Pen­ dred-Syndrom vor? Vergrößerter Aquaeductus vestibuli (EVA) Polydaktylie Ausgeprägte geistige Behinderung Gehörgangsatresie Blindheit

??Welche Aussagen über das Stickler-­





Syndrom treffen zu? E s gehört zu der Gruppe der Kollagenosen. Es weist fast immer eine X-linked-Ver­ erbung auf. Okulare Veränderungen sind eher selten. Mutationen des MDS3-Gens sind verantwortlich. Verursacht wird es durch das gleiche Gen wie bei dem Waardenburg-Syndrom.

Für Zeitschriftenabonnenten ist die Teilnahme am e.CME kostenfrei D 770 | 

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??Welche Aussagen über das BOR-­



Syndrom treffen nicht zu? E s ist die dritthäufigste Form der auto­ somal-dominant vererbten Schwerhörigkeit. Es ist genetisch heterogen (multiple Gene können verantwortlich sein). Es geht mit Fistelbildungen am Hals oder präaurikulär einher. Es geht nur mit sensorineuraler Schwer­ hörigkeit einher. Nierenmanifestationen sind häufig.

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[Hereditary hearing loss: Part 2: Syndromic forms of hearing loss].

Syndromic hearing loss is responsible for approximately 30% of cases of inherited hearing loss. The syndromic form can be differentiated from nonsyndr...
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