Arzneimitteltherapie Internist 2015 DOI 10.1007/s00108-015-3668-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

J. Havla · T. Kümpfel · R. Hohlfeld Institut für Klinische Neuroimmunologie, Klinikum der Universität München, München

Immuntherapie der multiplen Sklerose Überblick und Update

Die multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensytems (ZNS), bei der neben einer genetischen Prädisposition auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen [27], Charakteristika der MS sind entzündliche Veränderungen des ZNS, die mit einer Demyelinisierung und dem Untergang von Axonen einhergehen. Vor allem in späteren Krankheitsstadien steht jedoch eine chronische Neurodegeneration im Vordergrund. Wichtig für die Behandlung der MS ist einerseits die Einordnung des Erkrankungsverlaufs als schubförmig remittierende (RRMS), sekundär progrediente (SPMS) oder primär progrediente MS (PPMS) und andererseits die Einteilung in aktive und nichtaktive Stadien [24]. Ein aktives Stadium liegt im Falle eines Schubs bzw. einer Progression oder bei magnetresonanztomographisch (MRT) nachgewiesener Krankheitsaktivität vor. Seitdem 1993 das erste Interferon(IFN)-Präparat zugelassen wurde, ist die Zahl der für die RRMS verfügbaren Substanzen auf 11 angewachsen. Für die SPMS stehen allerdings weiterhin nur wenige Therapieoptionen zur Verfügung und für die PPMS gibt es bislang keinerlei zugelassene Medikamente. Bei der RRMS wird mit der Behandlung eine Abnahme der Schubrate, Verlangsamung der Behinderungsprogression sowie Reduktion der paraklinischen Krankheitsaktivität angestrebt. Letzterer Punkt bezieht sich u. a. auf das Auftreten neuer, kontrastmittelanreichernder Läsionen in der MRT. Mit der Verfügbarkeit neuer Therapien sind auch die Herausforderungen gewachsen: Auf der einen Seite erweitern sich die Mög-

lichkeiten der individuellen Behandlung, auf der anderen Seite fehlen Vergleichsdaten (Head-to-head-Studien) und Biomarker. Potenzielle schwere Nebenwirkungen, sogar mit fatalem Ausgang, können den therapeutischen Erfolg zu Nichte machen, sodass insbesondere das Management von Nebenwirkungen und die Überwachung der MS-Therapien große Bedeutung erlangt haben. Bei einem Therapiewechsel müssen darüber hinaus Umstellungsintervalle berücksichtigt werden.

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Die Überwachung der MS-Therapien hat an Bedeutung gewonnen Die zunehmende Kenntnis pathogenetischer Faktoren verbessert die Möglichkeiten einer gezielten Therapieentwicklung. Bei den neuen immuntherapeutischen Ansätzen kann man unterscheiden zwischen B-Zell-orientierten Immuntherapien, zytokinbasierten Immuntherapien sowie Therapien, welche die Adhäsion, Chemotaxis, Migration und/oder Aktivierung und Proliferation von Immunzellen beeinflussen. Weitere therapeutische Ansatzpunkte sind die Protektion und Regeneration von Nervenzellen, z. B. durch gezielte Beeinflussung von Ionenkanälen [38]. Bei der Therapieentwicklung zeigt sich allerdings immer wieder, dass Ergebnisse aus Tiermodellen oder frühen klinischen Studien in die Irre führen können und dass letztlich nur eine kleine Minderheit anfangs viel versprechender Substanzen die Zulassung erreicht.

In der vorliegenden Übersichtsarbeit sollen drei Medikamente vorgestellt werden, die in den Jahren 2013 und 2014 zur Behandlung der MS zugelassen wurden. Bei allen drei Substanzen handelt es sich um Weiterentwicklungen von Medikamenten, die auf anderen Indikationsgebieten bereits Verwendung finden. Eine übersichtliche Einordnung der neuen Therapieoptionen bieten die aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN; http://www.dgn. org/leitlinien-online-2012/inhalte-nachkapitel/2333-ll-31-2012-diagnose-undtherapie-dermultiplen-sklerose.html; . Abb. 1, [13]).

Neue orale Immuntherapien Dimethylfumarat Wichtige Eckdaten zu Dimethylfumarat (DMF) sind in . Tab. 1 aufgeführt.

Wirkmechanismus

DMF (Handelsname Tecfidera®, Biogen Idec) wurde von der Europäischen Arzneimittelkommission (EMA) im Januar 2014 als Basis- bzw. First-line-Therapeutikum für die RRMS zugelassen [11]. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung des in der Psoriasistherapie etablierten Fumarsäuregemischs Fumaderm®. DMF hat möglicherweise sowohl antiinflammatorische als auch neuroprotektive Wirkungen. Diese werden jeweils durch die Aktivierung des „nuclear factor E2-related factor“ (Nrf2) vermittelt. Nrf2 könnte durch eine Reduktion proinflammatorischer Zytokine und durch Induktion Der Internist 2015 

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Arzneimitteltherapie

Schubtherapie

CISa

SPMSa

RRMSa 1. Wahl

(Hoch-)aktive Verlaufsform Milde/moderate Verlaufsform

Verlaufsmodifizierende Therapie

Indikation

- Alemtuzumab - Fingolimod - Natalizumab

- Glatirameracetat - Interferon-β 1a i.m. - Interferon-β 1a s.c. - Interferon-β 1b s.c.

2. Wahl

3. Wahl

- Mitoxantron (- Cyclophosphamid)d

mit aufgesetzten Schüben

ohne aufgesetzte Schübe

- Interferon-β 1a s.c. - Interferon-β 1b s.c. - Mitoxantron (- Cyclophosphamid)d

- Mitoxantron (- Cyclophosphamid)d

Experimentelle Verfahren

- Dimethylfumarat - Glatirameracetat - Interferon-β 1a i.m. - Interferon-β 1a s.c. - Interferon-β 1b s.c. - PEG-IFN-β 1a s.c. - Teriflunomid (- Azathioprin)b (- IVIg)c

2. Wahl

Plasmaseparation

1. Wahl

Methylprednisolonpuls

Bei Versagen einer verlaufsmodifizierenden Therapie und milder/moderater Verlaufsform einer MS werden diese Patienten bei einer aktiven MS behandelt.

Abb. 1 8 Stufentherapie der multiplen Sklerose. a Substanzen in alphabetischer Reihenfolge; die hier gewählte Darstellung impliziert keine Überlegenheit einer Substanz gegenüber einer anderen innerhalb einer Indikationsgruppe (dargestellt innerhalb eines Kastens). b Zugelassen, wenn die Gabe von Interferon-β nicht möglich oder unter Azathioprin-Therapie ein stabiler Verlauf erreicht ist. c Einsatz nur postpartal im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Behandlungsalternativen. d Zugelassen für bedrohlich verlaufende Autoimmunkrankheiten, somit lediglich für fulminante Fälle als Ausweichtherapie vorzusehen, idealerweise nur an ausgewiesenen MS-Zentren. CIS Klinisch isoliertes Syndrom; IVIg intravenöse Immunglobuline; MS multiple Sklerose; RRMS schubförmig remittierende MS; SPMS sekundär progrediente MS. (Nach [13])

antioxidativer Enzyme zur Verbesserung der Mitochondrienfunktion führen [23, 31]. Weitere Effekte werden vermutlich über den Hydroxycarbonsäurerezeptor 2 (HCA2) vermittelt [2].

Wirksamkeit

Für die Zulassung bei RRMS relevant waren die randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Studien DEFINE und CONFIRM [9, 12]. Zusammenfassend zeigte sich bei 2700 eingeschlossenen Patienten eine jährliche Schubratenreduktion um etwa 50%. In der DEFINE-Studie wurde DMF in zwei Dosierungen mit Placebo verglichen, in der CONFIRM-Studie ebenfalls in zwei Dosierungen mit Placebo und dem aktiven Komparator Glatirameracetat (Copaxone®). In beiden Studien war der primäre Endpunkt die Anzahl der Patienten, die nach 2 Jahren mindestens einen Schub erlitten hatten. In der DEFINE-Studie zeigte sich eine signifikante Verlangsamung der Behinderungsprogression um etwa 35%. Diese wurde mit der gebräuchlichen Expanded Disability Status Scale (EDSS) gemessen. In der

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CONFIRM-Studie war der Effekt auf die Behinderungsprogression nicht statistisch signifikant. Die Wirksamkeit von DMF auf die paraklinische Aktivität konnte klar gezeigt werden. Im Vergleich zu Placebo waren Gadolinium-anreichernde und T2Läsionen um mindestens 70% reduziert, T1-Läsionen um etwa 60% [18].

Sicherheitsprofil

In den Zulassungsstudien wurden ähnliche Nebenwirkungen beobachtet wie zuvor schon bei Fumaderm® [11]. Häufige Nebenwirkungen sind insbesondere zu Beginn gastrointestinale Beschwerden (Magenbeschwerden, Diarrhö und Übelkeit), die meist nach 4–6 Wochen Eingewöhnungszeit abklingen. Zur Prävention ist eine Einnahme des Präparats zu Mahlzeiten und ggf. zusammen mit Milchprodukten angeraten. Vorsicht ist bei schweren vorbestehenden gastrointestinalen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa geboten, die eine relative Kontraindikation für die Gabe von DMF darstellen.

Eine weitere Nebenwirkung zu Beginn der Therapie ist das „flushing“, ein plötzliches Erröten des Gesichts, Halses oder der Brust. Dieser unerwünschte Effekt ist wahrscheinlich auf eine Prostaglandinfreisetzung zurückzuführen. Diese kann durch die begleitende Einnahme von Acetylsalicylsäure in einer Dosierung von 200–300 mg abgemildert werden. In klinischen Studien wurden bei Patienten unter DMF-Therapie Veränderungen der Nieren- und Leberwerte beobachtet. Deswegen ist eine Kontrolle der Nierenfunktion und der Leberfunktion vor Behandlungsbeginn, nach einer Behandlungsdauer von 1, 3 und 6 Monaten sowie danach alle 6–12 Monate zu empfehlen. Diese Empfehlungen zum Therapiemonitoring orientieren sich mit geringen Abweichungen an den Empfehlungen des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS). Die Kontrolle der Nierenfunktion beinhaltet eine Urinanalyse und die Bestimmung von Kreatinin, der glomerulären Filtrationsrate sowie ggf. von Cystatin C.

Zusammenfassung · Abstract

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Unter DMF sollte im ersten Jahr alle 6–8 Wochen das Differenzialblutbild kontrolliert werden

Internist 2015 · [jvn]:[afp]–[alp]  DOI 10.1007/s00108-015-3668-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

Im Rahmen der Therapie kommt es zu einer erwünschten Lymph- und Leukopenie um etwa 15–30%, die sich meist nach ungefähr 24–36 Wochen ohne weiteren Abfall stabilisiert. Bei anhaltender Leukopenie muss DMF ggf. abgesetzt werden (s. unten). Kürzlich wurde der erste Fall einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) unter Therapie mit Tecfidera® bei einer Patientin mit RRMS bekannt (Rote-Hand-Brief Tecfidera®, 12/2014). Darüber hinaus sind 4 PML-Fälle unter Behandlung mit Fumaderm® publiziert [7, 34]. Insbesondere eine ausgeprägte Lymphopenie mit Werten

[Immunotherapies for multiple sclerosis : review and update].

Multiple sclerosis (MS) is an inflammatory, presumably autoimmune disease affecting the central nervous system. Early stages of the disease are charac...
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