Leitthema Orthopäde 2014 · 43:425–431 DOI 10.1007/s00132-013-2189-7 Online publiziert: 24. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

P. Lobenhoffer SportsClinic Germany, Hannover

Stellenwert der knienahen Osteotomie bei medialer Gonarthrose Indikation, Technik und Ergebnisse

Osteotomien am Kniegelenk erleben seit einigen Jahren eine zunehmende Renaissance. Durch technische Fortschritte sind Osteotomieverfahren sicher und berechenbar geworden. Nachfolgend werden der anatomische und technische Hintergrund sowie die wichtigsten Indikationen und Kontraindikationen des Verfahrens bei der einseitigen Gonarthrose dargestellt. Anhand aktueller Literaturdaten und einer multizentrischen Untersuchung an 533 Patienten wird der aktuelle Stellenwert der knienahen Osteotomie diskutiert.

Einseitige Gonarthrose In epidemiologischen Untersuchungen ließ sich nachweisen, dass eine Achsenfehlstellung in der Frontalebene die Entstehung einer Arthrose im korrespondierenden Gelenkabschnitt begünstigt. Sofern eine Schädigung eintrat, war die Arthrose um den Faktor 10–40 schneller progredient als im Vergleichskollektiv mit normaler Achsenausrichtung [23, 24]. Sowohl Laborexperimente mit Kniegelenkpräparaten als auch In-vivo-Studien mit instrumentierten Hüftprothesen zeigen, dass der Knorpeldruck im betroffenen Gelenkabschnitt signifikant ansteigt, sobald die mechanische Traglinie aus der Kniemitte nach medial bzw. lateral verschoben wird [2, 13]. Achsenfehler

im Varus- bzw Valgussinn sind daher für die Gelenkmechanik ungünstig und haben Einfluss auf die Arthroseentstehung bzw die -progredienz. Eine Korrektur des Achsenfehlers bewirkt damit eine Knorpelentlastung, das Ausmaß der Achsverschiebung der mechanischen Traglinie korreliert direkt mit einer messbaren Reduktion des Knorpeldrucks [2]. Das Achsenalignement hat direkten Einfluss auf die Progredienz der Gonarthrose. Die Normalisierung der mechanischen Belastungsverhältnisse in der Frontalebene führt zu einem positiven Einfluss auf die Homöostase des Kniegelenks. Klinische Studien haben die positive Entwicklung des Schmerzniveaus und der Belastbarkeit des Kniegelenks bestätigt. Wo ordnet sich die Osteotomie daher in das Behandlungskonzept der einseitigen Gonarthrose ein?

Konstitutionelle Fehlstellung vs. intraartikuläre Defektsituation Die mechanischen Achsen von Femur und Tibia verlaufen bei normalen Verhältnissen kolinear und die mechanische Traglinie kreuzt das Kniegelenk im Bereich der medialen Spina [21] Eine Abweichung im Varus- oder Valgussinn kann durch eine knöcherne Fehlstellung an Femur und/oder Tibia, durch eine Defektbildung im Kniegelenk oder durch eine ligamentäre Instabilität entstehen. Bei pri-

märer Knochendeformität (es handelt es sich meist um eine konstitutionelle Fehlstellung im metaphysären Bereich von Tibia und/oder Femur) bleibt der Gelenkspalt zwischen Femur und Tibia zunächst parallel mit normaler Weite. Bei intraartikulärer Defektbildung dagegen (Menisk­ ektomie, Knorpelabschliff) kollabiert ein Gelenkspalt, während der andere sich weitet. Bei ligamentärer Instabilität öffnet sich ein Gelenkspalt überweit, der andere bleibt normal. Diese Faktoren können kombiniert auftreten und sich insbesondere bei fortgeschrittener Arthrose überlagern. Die Traglinie ist in allen Fällen in den betroffenen Gelenkabschnitt verschoben. Der klinische Aspekt ist ähnlich, obwohl ganz unterschiedliche Ursachen vorliegen. Die Relevanz liegt darin, dass eine Osteotomie v. a. bei der konstitutioneller Fehlstellung (also knöcherner Deformierung, ggf. kombiniert mit einseitiger ligamentärer Instabilität) indiziert ist. Bei korrekter Planung kann sie die knöcherne Anatomie normalisieren und daher physiologische Belastungsverhältnisse des gesamten Beins schaffen. Das Gangbild normalisiert sich und auch die dynamische Lastverteilung wird physiologisch. Das Kniegelenk stellt sich horizontal – parallel zur Bodenebene – ein. Wird eine Osteotomie jedoch bei rein intraartikulärer Defektbildung durchgeführt, kommt es zu einer neuen iatrogenen Deformität mit pathologischer Ausrichtung der KnieDer Orthopäde 5 · 2014 

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Abb. 1 8 Bedeutung der konstitutionellen Deformität bei der Indikationsstellung für eine Osteotomie. a Konstitutioneller Varus: es liegt eine Varusfehlstellung des Beins mit Verschiebung der Traglinie nach medial vor. Ursache ist eine metaphysäre Fehlstellung der Tibia, die Gelenkspalte bleiben zunächst symmetrisch und normal weit. Bei normaler Anatomie der distalen Tibia steht die Sprunggelenkebene schräg im Supinationssinn. b Eine medial öffnende proximale Tibiaosteotomie normalisiert die Anatomie. Die Traglinie verläuft physiologisch, Knie- und Sprunggelenk sind horizontal ausgerichtet. Bei manifester Arthrose kann eine leichte Überkorrektur sinnvoll sein. c Wird in dieser Situation eine mediale Schlittenprothese implantiert, muss diese die Spannungsverhältnisse des Kniegelenks respektieren. Die Weite der Gelenkspalte bleibt daher physiologisch. Die extraartikuläre Deformität kann nicht korrigiert werden. Es verbleibt eine Restdeformität des Beins im Varussinn mit pathologischem Gangbild. d Ein intraartikulärer Defekt (in diesem Fall Meniskusverlust und Abrieb v. a. an der Tibia) hat zu einer Varusdeformität des Beins geführt. Der mediale Gelenkspalt kollabiert, der laterale Gelenkspalt wird überweit. Die Achsenverhältnisse der Tibia und die Ausrichtung der Gelenklinien waren vor Ausbildung der Arthrose aber normal. e Wird in dieser Situation eine öffnende Tibiaosteotomie eingesetzt, um die Achsenfehlstellung zu beseitigen, entsteht eine neue iatrogene Deformität der Tibia. Die Ebenen von Knie und Sprunggelenk sind nicht mehr parallel, die Kniegelenkebene steht schräg. f Wird in dieser Situation der Gelenkdefekt durch eine Schlittenprothese aufgebaut, entstehen normale anatomische Verhältnisse, die mechanische Traglinie verläuft physiologisch bzw. so wie vor Entwicklung der Arthrose

Abb. 2 8 Fallbeispiel 1, L. H., 70 Jahre alt. Vor 12 Jahren valgisierende Tibiakopfosteotomie rechts, seither wöchentlich 3 h Tennis, Trekkingtouren, Mountainbiketouren schmerzfrei. Jetzt mediale Belastungsschmerzen links mit zunehmender Tendenz. a Deutliche Varusgonarthrose. b Die Ganzbeinaufnahme zeigt eine Varusfehlstellung der proximalen Tibia (MPTA 83°). Entscheidung zur Tibiakopfosteotomie. c Postoperative Röntgenkontrolle nach valgisierender Osteotomie in öffnender Technik. d Röntgenkontrolle nach 5 Monaten. Der Patient war zu diesem Zeitpunkt schmerzfrei und konnte wieder 3 h wöchentlich Tennis spielen. MPTA „medial proximal tibial angle“

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Zusammenfassung · Abstract gelenkebene und unphysiologischen Belastungsverhältnissen der angrenzenden Gelenke (. Abb. 1, 2, 3). In Verlaufsstudien wurde nachgewiesen, dass in diesem Fall die Prognose der Osteotomie ungünstig ist [20].

Korrekturort Reihenuntersuchungen belegen, dass in der westlichen gesunden Population der Anteil an konstitutionellen Varusdeformitäten 24% und an Valgusdeformitäten 3% beträgt. In der symptomatischen Arthrosegruppe waren die Achsenfehler verstärkt nachweisbar [4, 29]. Sowohl Femur als auch Tibia waren beteiligt. Korrekturen sollten daher sowohl an Tibia als auch am Femur möglich sein.

Korrekturplanung Zunächst erfolgt eine Deformitätenanalyse von Femur und Tibia. Der Ort der Fehlstellung und das Ausmaß werden bestimmt. Dabei muss auch eine pathologische Gelenköffnung berücksichtigt werden. Die Planung der Korrektur kann mit einem geometrischen Verfahren an der Ganzbeinaufnahme erfolgen, alternativ kann ein computergestütztes Planungsprogramm verwendet werden. D Eine Osteotomie muss an einer

korrekt eingestellten Ganzbein­ aufnahme geplant werden. Die klinischen und biomechanischen Daten sprechen dafür, bei Korrektur einer Varusgonarthrose eine leichte Überkorrektur vorzunehmen (mechanische Traglinie schneidet die Subchondrallinie der Tibia bei 62% des Gesamtdurchmessers [2, 7]). Bei Valguskorrekturen genügt es, die Traglinie auf den physiologischen Schnittpunkt zu bringen (44% des Gesamtdurchmessers der proximalen Tibia auf Höhe der Subchondralplatte [11, 18]).

Technik der knienahen Osteotomie Knienahe Osteotomien werden heute ganz überwiegend auf- oder zuklappend durchgeführt („open wedge“, ­„closed wedge“).

Orthopäde 2014 · 43:425–431  DOI 10.1007/s00132-013-2189-7 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 P. Lobenhoffer

Stellenwert der knienahen Osteotomie bei medialer Gonarthrose. Indikation, Technik und Ergebnisse Zusammenfassung Hintergrund.  Achsenfehlstellungen des Kniegelenks in der Frontalebene erhöhen das Arthroserisiko und bewirken eine rasche Arthroseprogredienz des betroffenen Kompartiments. Bei unilateraler Gonarthrose ist in Abhängigkeit von der metaphysären/kon­ stitionellen Fehlstellung des Kniegelenks die gelenknahe Osteotomie eine Therapiealternative zum Gelenkersatz. Methoden.  Eine exakte Planung anhand einer Ganzbeinaufnahme ist zwingend erforderlich. Die valgisierende Tibiakopfosteotomie kann sicher und atraumatisch als öffnende Osteotomie von medial unter Verwendung eines speziellen Plattenfixateurs durchgeführt werden. Für die distale Femurosteotomie wurde eine neue schließende biplanare Osteotomietechnik unter Verwendung eines anatomisch adaptierten Plattenfixateurs entwickelt. Bewertung.  Eine eigene Nachuntersuchung von 533 Patienten ergab nach 3 bis 5 Jahren

hohe Punktwerte im Oxford-Score bei geringer Komplikationsrate. Die subjektiven Bewertungen lagen dabei höher als bei Vergleichsgruppen mit Schlitten- oder Vollprothesen. Aktuelle Metaanalysen zeigen günstige Langzeitergebnisse der knienahen Osteotomie bei Gonarthrose. Schlussfolgerung.  Bei korrekter Indikationsstellung und Operationstechnik kann mit einer valgisierenden Tibiakopfosteotomie ein mittelfristiges funktionelles Ergebnis erzielt werden, welches mindestens gleichwertig zu dem einer Schlittenprothese und besser als jenes einer Vollprothese ist. Schlüsselwörter Indikationsstellung · Laterale Gonarthrose · Operationstechnik · Varusfehlstellung · Valgusfehlstellung

Importance of osteotomy around to the knee for medial gonarthritis. Indications, technique and results Abstract Background.  Frontal plane deformities result in significant overload of the (ipsilateral) affected compartment of the knee and in rapid progression of osteoarthritis. The indication for osteotomy around the knee is related mainly to the constitutional metaphyseal deformity in the frontal plane. Methods.  Exact analysis and planning based on a long-leg standing radiograph is mandatory. Valgus high tibial osteotomy can be performed safely and atraumatically by biplanar open-wedge osteotomy from medial using a specific plate-fixator. A new technique of closed wedge biplanar distal femur osteotomy with fixation by a new plate fixator is also presented. Results.  Our multicenter follow-up study with 533 patients revealed good function-

Ein wesentlicher Grund für das zunehmende Interesse an Osteotomien ist die verbesserte Technik, welche eine sichere Durchführung des Eingriffs ohne Korrekturverlust ermöglicht. Die Nachbehandlungszeit bis zur Vollbelastung hat sich auf wenige Wochen verkürzt. Diese Fortschritte sind durch die Einführung

al outcome scores with a small complication rate. The subjective ratings were better than in comparable groups with unicondylar knee replacement and with total knee arthroplasty. Metaanalysis from the literature have proven good long-term results of osteotomy around the knee. Conclusion.  Osteotomy around the knee results in good middle-term and long-term results if the indication criteria are respected and a specific surgical technique is used. Keywords Indications · Lateral osteoarthritis · Operation technique · Varus deformity · Valgus deformity

der Plattenfixateure möglich geworden [5, 6, 15, 16, 26], verbunden mit einer verbesserten Osteotomietechnik (biplanare Schnittführung). Interne Fixateure mit winkelstabil verriegelten Schrauben haben sich im Traumabereich bewährt und sind zum Standard geworden. Sie kombinieren die Vorteile einer Schonung von Der Orthopäde 5 · 2014 

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Abb. 3 8 Technik der biplanaren valgisierenden öffnenden Tibiaosteotomie. a Erste Osteotomie parallel zur sagittalen Tibiakippung, b zweite Osteotomie hinter der Tuberositas tibiae, c Öffnung der Osteotomie durch posteromedialen Spreizer und Fixierung durch medialen Plattenfixateur. (Mit freundl. Genehmigung der Fa. Synthes GmbH, Umkirch, Deutschland) Abb. 4 9 Technik der biplanaren schließenden Femurosteotomie. a Keilentnahme aus den posterioren zwei Dritteln des distalen Femurs, b ventraler aufsteigender Schnitt, c Schließen der Osteotomie, Fixation mit speziellem Plattenfixateur. (Mit freundl. Genehmigung der Fa. Synthes GmbH, Umkirch, Deutschland)

Weichteilen/Durchblutung mit einer sicheren elastisch-stabilen Fixation und der Option zur minimal-invasiven Implantationstechnik.

Hohe Tibiakopfosteotomie Die valgisierende hohe Tibiakopfosteotomie wurde früher überwiegend als schließende Osteotomie von lateral durchgeführt, meist mit Fibulaosteotomie. Diese Technik hat ein relativ ungünstiges Risikoprofil. Schädigungen der motorischen Äste für die Extensoren treten in signifikanter Häufigkeit auf, Überkorrekturen und sekundäre Instabilitäten der Osteotomie sind nicht selten und die Deformität nach der Keilentnahme beeinträchtigt den Erfolg einer sekundären Knieprothese. D Die öffnende Osteotomie von

medial in biplanarer Technik ist mittlerweile ein Standardverfahren. Bei Nutzung eines speziellen Plattenfixateurs kann der Osteotomiespalt offen gelassen werden, der Patient kann schmerzadaptiert rasch aufbelasten und Korrek-

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turverluste treten nicht mehr auf [7]. Sowohl in biomechanischen Studien als auch in einer prospektiven klinischen Studie mit Röntgenstereometrieanalyse (RSA) konnte gezeigt werden, dass diese Technik die sofortige Belastung der Extremität ermöglicht und eine systematische Entlastung überhaupt nicht erforderlich ist [19]. Bei korrekter technischer Durchführung kommt es nicht zu einer Erhöhung der Tibiakippung („slope“) durch die öffnende Osteotomie (. Abb. 4). Sollte eine Patella infera vorliegen, kann durch eine spezielle Schnittführung der biplanaren Osteotomie jede Patelladistalisierung vermieden werden [12, 22]. Die mittelfristigen Ergebnisse dieser Technik sind sehr gut [10]. Auch eine Varisierung im Bereich der proximalen Tibia kann von medial in biplanarer schließender Technik schonend durchgeführt werden, wobei auf Grund des initialen Knochenkontakts hier sofortige Belastung erlaubt werden kann.

Distale Femurosteotomie Distale Femurdeformitäten sind bei Valgusfehlstellungen und auch bei schweren Varusdeformitäten zu beobachten. Die Hebelverhältnisse und auch die Durchblutungssituation am distalen Femur unterscheiden sich grundlegend von der proximalen Tibia. Auf Grund unserer biomechanischen Untersuchungen und unserer klinischen Erfahrung setzen wir am distalen Femur daher nur schließende Osteotomien in biplanarer Technik ein. Zur Fixation wurde ein spezieller Plattenfixateur entwickelt. Diese Technik kann sowohl lateral für valgisierende Korrekturen als auch medial für Varisierungen benutzt werden. Vollbelastung kann im Allgemeinen 4 bis 6 Wochen postoperativ gestattet werden [5, 6, 11].

Spezielle Aspekte der Osteotomien am Kniegelenk Bandinstabilitäten Die Kombination einer symptomatischen Varusgonarthrose mit einer signifikanten

Knieinstabilität ist in der jüngeren Fallgruppe recht häufig und kann durch eine Tibiakopfosteotomie sehr gut behandelt werden [1, 17, 18]. Dabei wird die Korrektur in der Frontalebene mit einer Veränderung der Tibiakippung („slope“) kombiniert, sodass sowohl Belastungsschmerzen als auch Instabilitätssymptome adressiert werden. Eine Flexion des Tibia­kopfs (Slopeerhöhung) führt zu einer Reduktion der hinteren Schublade und eine Extension (Slopereduktion) zu einer Verminderung der vorderen Knieinstabilität. Auch eine relative Innenbandlockerung kann bei öffnender Tibiakopfosteotomie unschwer beseitigt werden.

Patellofemorale Arthrose Viele Patienten mit monokompartimentaler Arthrose weisen gleichzeitig degenerative Veränderungen im patellofemoralen Gelenkabschnitt auf. Deren Bewertung stellt immer ein Problem dar. Wichtig sind die Anamnese und die klinische Untersuchung. Steht klinisch der Belastungsschmerz im femorotibialen Gelenkabschnitt im Vordergrund, sollten diese retropatellaren Veränderungen nicht ausschlaggebend für die Therapieentscheidung gegen ein gelenkerhaltendes Verfahren wie die Osteotomie sein. Die Achsenkorrektur normalisiert die Ausrichtung des Streckapparats und bessert daher im Allgemeinen die Belastungsverhältnisse im Patellagleitweg. Ist eine Tibiakopfosteotomie indiziert, kann eine öffnende Osteotomie in biplanarer Technik mit distalem Tuberositasschnitt gewählt werden, um eine Distalisierung der Patella und eine Erhöhung des Patellanpressdrucks zu vermeiden [12]. Sofern der absteigende Teil der Osteotomie mit einer separaten bikortikalen Kleinfragmentzugschraube stabilisiert wird, ist das Risiko des Eingriffs (Pseudarthrose) nicht erhöht [10]. In der Bildgebung nachgewiesene aber klinisch nicht oder wenig symptomatische patellofemorale Degenerationen stellen somit bei monokompartmentaler Arthrose keine Kontraindikation für die gelenknahe Osteotomie dar.

Patellainstabilität Valgusdeformitäten können mit Patellainstabilitäten nach lateral kombiniert auftreten. Diese Problematik kann sehr gut mit einem knöchernen und weichteiligen Kombinationseingriff von medial behandelt werden. Die biplanar varisierende, distale Femurosteotomie erlaubt eine Achs- und ggf. Torsionskorrektur, gleichzeitig kann über denselben Zugang eine Plastik des medialen patellofemoralen Ligaments erfolgen [14].

Arthrosestadium Die achsenkorrigierende Osteotomie bewirkt eine Verschiebung der Hauptbelastungszonen und der Spitzendruckpunkte vom schmerzhaften Gelenkkompartiment auf die noch intakte Gegenseite. Die Resultate sind daher bei moderater Arthroseentwicklung tendenziell günstiger als bei fortgeschrittener monokompartmentaler Arthrose [10]. Der Patient muss bei ausgeprägter Schädigung (insbesondere bei deutlicher Aufklappbarkeit des befallenen Gelenkabschnitts) informiert werden, dass zwar eine Beschwerdebesserung und eine Aktivitätserhöhung, jedoch keine komplette Beschwerdefreiheit zu erwarten sind. Sofern ein erhebliches Streckdefizit (über 10°) besteht, muss überlegt werden, ob eine zusätzliche Entfernung intraartikulärer Osteophyten hilfreich sein könnte. Bis 10° kann erfahrungsgemäß durch eine asymmetrische Aufklappung der Osteotomie die Streckung wiederhergestellt werden (Slopereduktion). Bei einem arthrotisch vorgeschädigtem Kniegelenk führt diese Slopereduktion nach unserer Erfahrung nicht zu Veränderung der Gelenkkinematik oder zu einer Instabilität. Die Tibiaosteotomie ist problematisch bei abfallendem lateralem Tibiaplateau (Pagoda-Typ). Hier ist die Korrektur sehr schwierig einzustellen und es kommt häufig zu einer Überkorrektur. Die Schlittenprothese ist dann die günstigere Option. Die typische valgisierende Tibiakopfosteotomie ist nicht indiziert bei substanziellem Verlust des Außenmeniskus und bei manifester lateraler Arthrose (großflächige drittgradige oder viertgradige Schädigung, Knorpelulzera). Dabei richten wir

uns weniger nach MRT-Aufnahmen oder arthroskopischen Vorbefunden. In Zweifelsfällen sollte eine Stressaufnahme unter Valgusbelastung durchgeführt werden. Kommt es hierbei zu einem Höhenverlust im lateralen Gelenkabschnitt, ist eher eine Totalprothese indiziert.

Übergewicht Hinsichtlich des Body Mass Index (BMI) gibt es keine wissenschaftlich gesicherten Daten, dass die Ergebnisse einer Osteotomie bei Übergewicht schlechter ausfallen. Technisch lässt sich eine Osteotomie (zumindest unter Verwendung eines hochstabilen Plattenfixateurs) auch bei einem BMI über 30 gut realisieren und die Komplikationsrate ist nicht höher als im Gesamtkollektiv [9]. Wir haben bei adipösen Patienten keine Anpassung der Nachbehandlung vornehmen müssen.

Alter Die Indikation für eine kniegelenknahe Osteotomie wird in Mitteleuropa eher bei jüngeren Patienten gestellt. Eindeutige wissenschaftliche Belege für Altersgrenzen für diesen Eingriff gibt es jedoch nicht. In Asien werden seit vielen Jahren Osteotomien auch bei Patienten über 70 Jahren mit großem Erfolg durchgeführt [27, 28]. Eine multizentrische Nachuntersuchung von Tibiakopfosteotomien mit dem winkelstabilen Tomofix-System (533 Patienten, 3 bis 5 Jahre Nachuntersuchungszeit) ergab auch bei Patienten über 60 Jahren sehr gute Ergebnisse und keine Differenzen zu jüngeren Altersgruppen [10].

Bewegungsumfang Das funktionelle Ergebnis einer kniegelenknahen Osteotomie ist deutlich besser, wenn es gelingt, eine präoperative Streckhemmung zu beseitigen. Aus der Erfahrung des Autors mit über 2000 kniegelenknahen Osteotomien lässt sich dabei ein Streckdefizit bis maximal 10° operativ ausgleichen, wobei diese Extensionshemmung jedoch bei der Operation adressiert werden muss. Neben der Valgisierung muss auch eine Reduktion des tibialen „slope“ erfolgen. Hierzu muss die lateDer Orthopäde 5 · 2014 

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Leitthema rale Knochenbrücke durchtrennt werden, sodass eine dreidimensionale Korrektur im Osteotomiespalt erfolgen kann. Unter Verwendung eines Plattenfixateurs und intraoperativer Kompression der Knochenbrücke kann dies ohne Kompromisse für die Stabilität der Osteotomie durchgeführt werden [18, 26].

Orientierung der Kniegelenkebene, Doppelosteotomien Ein wesentlicher aber wenig beachteter Parameter bei Gonarthrose stellt die Orien­tierung der Kniegelenkebene dar. Bei der häufigen konstitutionellen Varusgonarthrose steht die Gelenkebene trotz der Deformität horizontal. Die Korrektur der metaphysären Fehlstellung durch öffnende Tibiaosteotomie normalisiert das Gangbild und erhält diese horizontale Gelenkausrichtung. Liegt jedoch zusätzlich eine konstitutionelle oder erworbene Varusfehlstellung des distalen Femurs vor, würde eine Überkorrektur an der Tibia eine pathologische nach lateral abfallende Gelenklinie erzeugen [3]. Die entstehenden Scherkräfte sind für den Knorpel sehr ungünstig. Hier sollte die Korrektur durch Doppelosteotomie (valgisierende schließende Femurosteotomie, valgisierende öffnende Tibiaosteotomie) erfolgen. Auch ausgeprägte Valgusfehlstellungen erfordern oft eine Korrektur auf 2 Ebenen (schließende varisierende distale Femurosteotomie, schließende varisierende proximale Tibiaosteotomie). Die Ausrichtung der Kniegelenkebene muss daher in die Planung einer Osteotomie einbezogen werden [18].

Osteotomieergebnisse Ein Cochrane-Review relativ alter Studien zur knienahen Osteotomie berichtet für rund 70% der Patienten über zufriedenstellende Ergebnisse nach 10 Jahren [8]. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass 9 bis 12 Jahre nach Osteotomie noch 84% der Patienten ohne neuerliche Operation blieben [25]. In diesen Metaanalysen waren weder das Korrekturziel noch die Technik einheitlich. In einer eigenen multizentrischen Untersuchung wurden 533 Patienten mit einer biplanaren öffnenden Tibiaosteotomie unter Stabilisierung

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mit einem Plattenfixateur behandelt. Korrekturziel war die Verschiebung der mechanischen Traglinie des Beins auf den 62%-Punkt des Gesamtquerschnitts der proximalen Tibia. Das subjektive Ergebnis („subjective functional outcome“) wurde von den Patienten mit dem Oxford-­Score bewertet. Er bewertet Alltagsaktivitäten aus der Sicht des Patienten auf einer Skala von 0 (schlechtestes Ergebnis) bis 48 (bestes Ergebnis). Der mittlere Oxford-Score betrug nach im Mittel 3,6 Jahren (Nachuntersuchungszeitraum 3 bis 5 Jahre) 43 (8–48) Punkte. Damit lag der subjektive Scorewert über den aus der Literatur bekannten Vergleichswerten für uni- und bikondyläre Knieendoprothesen (36 bis 41). Die Pseudarthrosenrate betrug 1,5%, die Gesamtkomplikationsrate 6%, wobei dies v. a. der zwischenzeitlichen Verwendung allogener Interponate im Osteotomiespalt geschuldet war. Neun Patienten erhielten im Untersuchungszeitraum von 5 Jahren eine Knieprothese (1,7%), wobei hauptsächlich Indikationsfehler die Ursache für die Konversion waren.

Fazit für die Praxis Der ideale Patient für eine knienahe ­Osteotomie F hat eine knöcherne Deformität der proximalen Tibia bzw. des distalen ­Femurs, F ist in einem aktiven Stadium seines Lebens, wobei hier wesentliche kultu­ relle Besonderheiten berücksichtigt werden müssen (Asien), F hat ein intaktes gegenseitiges Kom­ partment, F hat einen annähernd normalen Bewe­ gungsumfang (10° Streckdefizit kön­ nen korrigiert werden), F betreibt keinen extremen Nikotinab­ usus (kann Heilungsstörungen bewir­ ken), F hat eine gewisse Schmerztoleranz, F kann eine vordere oder hintere Knie­ instabilität aufweisen (kann durch die Osteotomie adressiert werden). Kontraindikationen für eine knienahe Osteotomie sind: F wesentliche Schädigungen des nach der Osteotomie mehr belasteten Ge­

lenkabschnitts (Meniskusverlust, großflächige drittgradige oder viert­ gradige Knorpelschäden), F erhebliche Kollateralbandinsuffizienz auf der zu entlastenden Seite des Kniegelenks (Verschiebung der Trag­ linie würde zu einer Aufklappung des Gelenkspalts und zu einer Instabilität führen), F ungeeignete knöcherne Ausgangs­ situation: keine konstitutionelle Fehl­ stellung, mechanische Traglinie nicht in den symptomatischen Gelenkab­ schnitt verlagert, Osteotomie würde neue und ungünstige Deformität er­ zeugen, F lokale oder systemische Infektionen.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. P. Lobenhoffer SportsClinic Germany Uhlemeyerstr. 16, 30175 Hannover [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  P. Lobenhoffer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Soweit der Beitrag personenbezogene Daten enthält, wurde von den Patienten eine zusätzliche Einwilligung nach erfolgter Aufklärung eingeholt.     Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Der Orthopäde 5 · 2014 

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