Sozial- und Pr~iventivmedizin

M6decine sociale et pr6ventive 24, 397-398 (1979)

Schulische Integration Behinderter in Bologna J. R o t e n ~

In Bologna und einigen anderen St~idten Norditaliens sind seit 1968 Bestrebungen im Gange, alle Behinderten (seien es nun k6rperlich, geistig, psychisch oder sozial Behinderte) im normalen Alltagsleben zu integrieren. Die Bemiihungen beginnen mit einem breitangelegten Programm der Friiheffassung bereits in der Familienplanung und -beratung, dann vor allem dureh medizinisehe und therapeutische Arbeit im Kleinkindes-, Kindergarten- und Schulalter. Um eine intensive Arbeit auf Quartierebene zu erm6glichen, sind in jedem Quartier Polyambulatorien erriehtet worden, welche die soziale, ~irztliche und therapeutische Versorgung der Bev61kerung gew~ihrleisten sollen. Neben einem differenzierten Angebot von Spezialisten (Arzt, Psychiater, Psychologe, Physiotherapeut, Logopfide, Sozialarbeiter, Pgdagoge, Gemeinwesenarbeiter, Soziologe u.a.m, sind in einigen Polyambulatorien auch Angebote und R~iumliehkeiten fiir Freizeitaktivit/iten, Versammlungen, Filmvofftihrungen, Theater usw. und eine Bibliothek untergebracht. Voraussetzungen fiir die Integration Seit 1968 ist die Integration behinderter Kinder stufenweise realisiert worden. Heute gibt es in Bologna nur noch ganz wenige Spezialstrukturen und private Heime, wo ganz schwer Behinderte (casi gravi) untergebracht sin& Abet auch diese Strukturen sind in der N~ihe eines Schulhanses. Es werden soweit m6glich gemeinsame Aktivit~iten durchgefiihrt, und die Kinder werden am Abend von den Eltern abgeholt oder mit einem Schulbus nach Hause gebracht. Nach einem grunds~itzlichen politischen Entscheid und einer entsprechenden Gesetzesiinderung sind die Lehrer aller Stufen verpflichtet, behinderte Kinder in ihrer Klasse aufzunehmen. Vom Sozialdienst werden die fiir die Integration n6tigen Spezialisten angeboten. Je nach Schwerpunkt der Stfrung ist an der Zusammenarbeit mit dem Lehrer vorwiegend einer dieser Spezialisten (operatori) beteiligt, der dann seinerseits auftauchende Schwierigkeiten und Problemstellungen, die in den Arbeitsbereich eines anderen Operatore fallen, im Team besprechen kann. Die Teamsitzungen finden einmal w6chentlich im Polyambulatorium statt. Daneben sollten die fiir ein Schulhaus zustiindigen Operatori auch an den w6chentlichen Sitzungen des Lehrerkollegiums teilnehmen. Im Idealfall sollte pro Schulhaus eine Kleinequipe, bestehend aus Psychologe, Logop~de, Physiotherapeut und Sozialarbeiter zur Verfiigung stehen. Da die personellen und finanziellen Verhiiltnisse dies oft nicht erlauben und die Schulen yon sehr unterschiedlicher Gr6sse sind, wurde ein 1 Sozialpiidagoge, Nordstrasse 230, CH-8037 Ziirich

Ira" Gegensatz zu der grossen Bedeutung, die in der Schweiz der auf die besonderen Voraussetzungen und Bediirfnisse der behinderten Kinder ausgerichteten Sonderschulung zugemessen wird, bemiiht man sich in zwei yon der politischen Struktur,. den sozialen Verhiiltnissen und der Mentalitiit her so verschiedenen Liindern wie Italien und Schweden darum, die behinderten Kinder in die normale Schule zu integrieren.

Zonenplan erstellt. Die Zonen sind nach Hiiufigkeit der Sozialfiille mehr oder weniger gross. Neben dem Schularzt ist jetzt fiir jede Zone eine Kleinequipe zust~indig. Da die rein medizinischen Probleme in den letzten Jahren dank der Priivention stark zuriickgegangen sind, sich anderseits die Sozialfiille und Kinder mit psyehologischen Problemen stark bemerkbar machen, ist diese Neueinteilung eine schulpolitische Notwendigkeit geworden. Hilfslehrer Neben den vom Quartierdienst angebotenen Hilfen, stellt die Gemeinde pro schwerbehindertes Kind einen Hilfslehrer an, der fiir die Integration des Behinderten zustiindig ist. Bei weniger schwer Behinderten entf~illt auf zwei bis drei Kinder ein Hilfslehrer. Im allgemeihen trifft es pro Schulhaus zirka zwei zusiitzliche Lehrkr~ifte. Der Hilfslehrer (maestro della classa aperta) arbeitet nicht nut mit dem Behinderten in Einzelarbeit, sondern wenn irgendm6glich mit einer kleinen Gruppe gesunder Kinder und einem oder zwei Behinderten oder direkt in der Klasse. Der Hilfslehrer hat im allgemeinen eine Sonderklassenlehrerausbildung oder zusiitzlich zur Lehrerausbildung einen Kurs zur Integration Behinderter besucht. Die Zielsetzung des Einsatzes der Operatori und der Hilfslehrer ist eine zweifache: optimale F6rderung des Behinderten in individuellen Lembereichen, in Einzelarbeit sowie in Kleingruppen u n d soziale Integration in die Klasse und Gruppe durch gemeinsame Aktivitfiten und Lemeinheiten, die dem Lernniveau des Behinderten entsprechen. Tagesschule Eine der grundlegenden Voraussetzungen fiir das Gelingen sozialer Integration war der seit Ende der sechziger Jahre begonnene Ausbau der Staatsschule (deren Unterricht in Italien von 8 bis 13 Uhr dauert und von einem staatlichen Lehrer betreut wird) zuerst zu einer Schule mit Doposcuola (Aufgabenhilfe und Freizeitbeschiiftigung durch einen Gemeindelehrer) und bald

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darauf in eine Ganztagesschule, in der eine Klasse von 14 bis 25 Schfilern von zwei Lehrem zwischen 8 und 17 Uhr betreut wird. Die Lehrer haben eine fiberschneiden.de Mittagszeit, in der sie gemeinsam mit den Schillem essen und Zeit haben, die t~iglichen Informationen fiber Kinder und den Ablauf des Stoffprogramms auszutauschen. Einmal wiSchentlich halten die Lehrer gemeinsame Sitzungen ab, um das Wochenprogramm zu erarbeiten, Informationen auszutauschen, fiber einzelne Kinder zu sprechen. Bei diesen Besprechungen ist nach M6glichkeit auch das andere an der Schule t~itige Personal anwesend (Putzpersonal, Hilfslehrer, Operatori). Die Elternarbeit ist an diesen Schulen ein integrierter Bestandteil.

Schulalltag In etlichen Klassen sitzen also jetzt neben den ,~normalem~ Kindem in den Schulen Bolognas Mongoloide, Spastiker, Geistigbehinderte, Verhaltensgest6rte u.a.m. Sie rufen durch ihre Andersartigkeit und ihr Verhalten zur Auseinandersetzung mit einem sozialen Problem, das bei uns meistens in Heime und Spezialinstitutionen abgeschoben wird. Der Lehrer, die Schiller, die Eltem und die Operatori vom Sozialdienst sowie auch das Putzpersonal und der Besucher werden in einen therapeutischen Prozess einbezogen, der zum Schulalltag wird. Die Kinder gew6hnen sich offensichtlich rasch an die neue Situation; je frilher mit der Integration begonnen wird, desto besser ist es ffir die Behinderten und auch filr die anderen Beteiligten, Kinder und Erwachsene lernen so den Umgang mit der ~Andersartigkeib~, der bier nicht mehr ein Akt der Barmherzigkeit ist oder in Form eines Einzahlungsscheines geleistet wird, sondern eine tats~chliche Auseinandersetzung mit einem realen menschlichen Schicksal bedeutet. Gemeinsames Spiel, gemeinsames Lernen, gemeinsames Essen und Erledigen der Alltagspflichten heisst integrieren.

Bedingungen der Integration Wo die Offentlichkeitsarbeit und Aufkl[imng der Eltern genfigend weit fortgeschritten ist, wo die Angst der Eltem vor Exponierung des behinderten Kindes und ihrer Familie und die Befiirchtung der Eltern gesunder Kinder vor Nichterfiillen des Leistungszieles abgebaut ist, wo der Lehrer seine eigenen )kngste und

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seine Abneigung einer Behindenmg gegeniiber iiberwunden und eine sinnvolle Zusammenarbeit mit den anderen Lehrem und dem So2ialdienst gefunden hat, wo nicht zuletzt die behinderten Kinder sich trotz Andersartigkeit akzeptieren gelernt haben, die 'gesunden' Kinder miterziehen helfen und dem Behinderten eine echte Beziehung anbieten, dort ist die Integration auch gelungen und ffir den Behinderten wie auch die anderen ein Schritt in ihrer Pers6nlichkeitsentwicklung und eine unersetzliche Lemerfahrung realisiert. Der Wechsel und die Vielfalt sozialer Anregungen aus dem natiirlichen Lebensbereich der Kinder, die nicht in einem Ghetto aufwachsen, ist wohl die wirkungsvoUste Schulung des Behinderten. Das behinderte Kind hat Gelegenheit, auf dem Schulweg, in der Schule, beim Essen, in der Freizeit und im Eltemhaus ~hnliche Erfahrungen zu machen wie das normale Kind. Dadurch wird hier der Behinderte mit vielen Konfliktsituationen konfrontiert, mit denen er sich nach seinen individuellen M6glichkeiten auseinandersetzen muss und so auch fiir sp~iter lemt, mit seiner Umwelt ein Verh~iltnis zu finden. PS: Es ist m6glich, beim Verfasser einen dreiviertelstiindigen Videofilm mit drei Integrationsbeispielen aus Bologna anzufordem. Zusammeniassung In Bologna und anderen St~idten Norditaliens bemiiht man sich darum, alle behinderten Kinder in den normalen Klassen der 6ffentlichen Schule zu integrieren. Die Voraussetzungen fiir eine erfolgreiche Integration werden beschrieben. R~sum~

Integration des enlants handicap~s dam les ~coles normales de Boiogne, Italic A Bologne et dans d'autre villes du nord de l'Italie on essaie d'int~grer tousles enfants handicap6s darts les classes normates de l'6cole publique. Les arrangements n6cessaires pour une telle int6gration totale sont d6crits.

Summary Integration of Handicapped Children in the Normal Schools of Bologna, Italy In Bologna and other cities of Northern Italy efforts are made to integrate all handicapped children in the normal classes of the public school. The arrangements necessary for a successful integration are described.

[Integration of handicapped children in normal schools in Bologna, Italy].

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