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Institut für Medizinische Genetik, Universität Zürich, Schlieren Christine Otte, Anita Rauch

Mentale Retardierung - eine häufige Frage Stellung in der medizinischen Genetik Intellectual Disability-A Frequent Reason for Referral to Medical Genetics

Zusammenfassung Mentale Retardierung betrifft ca. 2-3% der Bevölkerung und ist häufig mit Komorbiditäten assoziiert. Bislang sind mehr als 450 verschiedene Krankheitsbilder bekannt, die mit mentaler Retardierung einhergehen können und es werden noch viele weitere, noch unbekannte Entitäten vermutet. Die Diagnosestellung der zugrundeliegenden Entität ermöglicht derzeit noch für wenige eine gezielte Optimierung der kognitiven Funktion, verbessert jedoch in der Regel die Behandlung der Komorbiditäten. Ferner erlaubt der Nachweis des zugrundeliegenden genetischen Defektes die Präzisierung des Wiederholungsrisikos und ermöglicht eine vorgeburtliche Diagnostik für künftige Schwangerschaften von Risikopersonen in der Familie. Erkenntnisse der jüngsten Zeit deuten darauf hin, dass insbesondere bei den Erkrankungen, die mit einer fehlerhaften synaptischen Signalübertragung einhergehen, in naher Zukunft Medikamente zur gezielten Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen werden. Schlüsselwörter: mentale Retardierung - Entwicklungsverzögerung Komorbidität - Gendefekte - Chromosomendefekte Unter einer mentalen Retardierung oder geistigen Behinderung versteht man einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fä© 2013 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

higkeiten eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen des affektiven Verhaltens. Für lange Zeit wurde die geistige Behinderung hauptsächlich als soziales oder pädagogisches Thema und weniger als medizinisches Problem wahrgenommen [7,9]. In den letzten Jahrzehnten wurde aber deutlich, dass die Ursachen der geistigen Behinderung überwiegend genetischer Natur sind und dabei hunderte verschiedene Entitäten zugrundeliegen können [10]. Es zeigte sich auch, dass die geistige Behinderung meist nicht ein isoliertes Symptom darstellt, sondern häufig je nach ätiologischer Diagnose mit verschiedensten Komorbiditäten und einem unterschiedlichen Komplikationsspektrum einhergeht. Aufgrund der grossen Heterogenität der zugrundeliegenden Krankheiten und der oft im Kindesalter initial unspezifischen Präsentation als Entwicklungsverzögerung, ist die möglichst ftühzeitige genaue Diagnosefindung die Basis für eine optimierte medizinische Betreuung. So kann bei einem Teil der Diagnosen durch ein Eingreifen in den gestörten Stoffwechsel oder durch die Kenntnis des zu erwartenden Komplikationsspektrums der Krankheitsverlauf signifikant verbessert werden. Die genaue Kenntnis der zugrundeliegenden Pathomechanismen erlaubt aber auch zunehmend die Entwicklung gezielter medikamentöser Therapien zur Verbesserung der kognitiven Situation bei nicht-metabolischen Erkrankungen. Diesbezüglich sind die Fortschritte beim schon 1991 ursächlich aufgeklärten Fragilen X-Syndrom am weitesten. In verschiedenen internatio-

nalen Multizenter-Studien werden hierfür gerade Medikamente erprobt, die direkt in die defekte synaptische Signalübertragung eingreifen. Zudem ist die Nachweisbarkeit eines kausalen genetischen Defektes beim betroffenen Patienten auch Voraussetzung für eine genaue Bestimmung des Wiederholungsrisikos und eine vorgeburtliche Diagnostik in weiteren Schwangerschaften betroftener Familien.

Häufigkeit und Klassifizierung der Intelligenzminderung Als Massstab für die kognitiven Fähigkeiten wird in der Medizin der mittels standardisierter Tests erhobene Intelligenzquotient (IQ) verwendet und ein IQ unterhalb von 69-75 zeigt eine geistige Behinderung an [9]. Gemäss dieser Definition, beträgt die Prävalenz der geistigen Behinderung in westlichen Ländern ca. 2% und 0,3-0,5% gelten als schwer retardiert mit einem IQ unter 50 [4]. Neben dieser häufig verwendeten, einfachen Klassifikation in leichte und schwere mentale Retardierung verwendet der IGD-10 eine differenziertere Einteilung (Tab. 1). Da mentale Erkrankungen für eine soziale Stigmatisierung anfällig sind, unterliegen sie einer periodischen Namensänderung [9]. Während «mentale Retardierung» in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts Begriffe wie «Idiotie» oder «Imbezilität» ablöste, wurde jüngst in den USA der Gebrauch des Begriffs «mental reDOI 10.1024/1661-8157/a001488

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Tab. 1: Klassifikation der Intelligenzminderung nach ICD-10 (Internal Classification of Diseases) Klassifizierung

IQ

Lernbehinderung

70-8S

Mentale Retardierung • leicht

50-69

• massig

35-49

• schwer

20-34

• schwerst

45O bekannte Gene)

Unbekannt

Abb. 1: Schematischer Überblick über die ungefähre Häufigkeit verschiedener Ursachen mentaler Retardierung.

aufsteigenden Lidachsen und kleinem Mund zusammen mit einer Vierfingerfurche, kurzen, etwas plumpen Fingern und Sandalenlücke auf ein Down-Syndrom hin, während ebenfalls aufsteigende Lidachsen und kleiner Mund, aber mit hohem, breiten Nasenrücken und eher langen, schlanken Fingern an ein DiGeorge-Syndrom denken lassen. Die Interpretation von morphologischen Merkmalen erfordert dabei eine gewisse Ablauf der Abklärung einer EntErfahrung und psychologisches Einfühwicklungsverzögerung oder offenlungsvermögen, da der familiäre Hintersichtlichen geistigen Behinderung grund zu berücksichtigen ist, ohne dabei Bei konkreten Hinweisen auf eine Stoff- dem häufigen Bedürfiiis der Eltern, jede wechselerkrankung wie z.B. komatöse Anomalie als harmlose familiäre VarianZustände, eine Hepatosplenomegalie te abzutun, zu leichtfertig nachzugeben. oder ein progressiver Verlauf sollte zur Ergibt sich aus der Gesamtsymptomatik, ätiologischen Abklärung primär eine dem Krankheitsverlauf, aUfälliger DysZuweisung in eine metabolische Spezial- morphien und der Familienanamnese abteilung erfolgen. Ansonsten empfiehlt der konkrete Verdacht auf eine bestimmsich eine primär genetische Abklärung. te genetisch-bedingte Erkrankung, so In der genetischen Sprechstunde werden kann die Verdachtsdiagnose durch einen nach ausführlicher Familienanamnese gezielten genetischen Test abgeklärt werdie Patientenanamnese und die Vorbe- den. Dies setzt allerdings die Fachkenntfunde erfragt. Danach erfolgt eine kör- nis darüber voraus, welche Art von geperliche Untersuchung unter besonderer netischem Defekt zu erwarten ist, damit Berücksichtigung von kleinen morpho- die entsprechende Analyse veranlasst logischen Anomalien (Dysmorphien). werden kann. Je nachdem auf welcher Letztere beeinträchtigen nicht die Funk- Ebene vom Chromosom bis hin zur Eintion eines Körperteils, können aber zelbase oder epigenetischen Mustern der wichtige Hinweise auf die Differenzial- Defekt nämlich vermutet wird, muss das diagnose geben, da viele Erkrankungen entsprechend geeignete Analyseverfahmit geistiger Behinderung mit einem ren angefordert werden. Ergibt sich der mehr oder weniger spezifischen Muster Verdacht auf eine genetische Störung, an Dysmorphien einhergehen. So deu- ohne dass ein bestimmtes Krankheitstet z.B. ein flaches Gesichtsprofil mit bild spezifiziert werden kann, empfiehlt

sich internationalen Empfehlungen folgend eine hochauflösende chromosomale Mikroarray-Analyse (Reihenhybridisierung), da damit unter Verzicht auf eine vorgängige mikroskopische Chromosomenanalyse bei durchschnittlich 18% der klinisch unklaren Patienten eine Diagnose gestellt werden kann [3]. Bleibt die zugrundeliegende Diagnose weiterhin unklar, wäre als nächster Schritt eine massiv-parallele Sequenzierung aller infrage kommenden, mehr als 450 Gene sinnvoll. Der Einsatz dieser Technik ist derzeit zwar noch nicht in der Analysenliste abgebildet, dies ist aber für die nahe Zukunft zu hoffen. Ausgangsmaterial für die genetische Testung ist in der Regel eine Blutprobe des Patienten, wobei in Einzelfällen eine kleine Hautbiopsie notwendig sein kann. Für manche Befunde ist ein Vergleich mit den Blutproben der Eltern oder weiterer Familienangehöriger für die korrekte Interpretation notwendig. Die erhobenen Befunde werden den Eltern in der Regel in einer erneuten Konsultation ausführlich erläutert. Dies einerseits hinsichtlich des zu erwartenden Krankheitsverlaufs und allfälliger therapeutischer Möglichkeiten bzw. empfohlenen Managementrichtlinien, sovñe andererseits bezüglich des Wiederholungsrisikos und allfälliger diagnostischer Möglichkeiten im Rahmen einer künftigen Schwangerschaft. Diese Informationen werden für den zuweisenden Arzt mit Kopie an die Eltern bzw.

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Sorgeberechtigten anschliessend schriftlich zusammengefasst. Von der Ätiologie unabhängig ist bei Entwicklungsverzögerung eine entwicklungspädiatrische Standortbestimmung über das genaue Ausmass der kognitiven Einschränkung und Einleitung entsprechender Fördermassnahmen sinnvoll. Medizinische Konsequenzen der ätiologischen Diagnosestellung Die Identifizierung der einer Entwicklungsverzögerung zugrundeliegenden ätiologischen Diagnose ist in mehrfacher Hinsicht für den Betroffenen selbst sowie für die gesunden Familienmitglieder von Bedeutung. Die im Folgenden kurz zusammengefassten medizinischen und familiären Konsequenzen werden im Anschluss durch drei Fallbeispiele näher erläutert. • Prognose: Die Kenntnis der zugrundeliegenden Diagnose ermöglicht die Präzisierung der Prognose für das betroffene BCind, was für die Zukunftsplanung hilfreich ist. • Spezifische Therapie: Nur in Kenntnis der zugrundeliegenden Diagnose herrscht Klarheit darüber, ob es spezifische therapeutische Optionen für die Entwicklungsstörung und Komorbiditäten z. B. durch gezieltes Eingreifen in den Stoffwechsel oder durch die Verwendung oder Vermeidung bestimmter Medikamente gibt. • Komorbidität: " Cerade bei Patienten mit Entwicklungsstörungen und damit meist einhergehender verminderter Kommunikationsmöglichkeiten werden Komorbiditäten oft nicht oder erst sehr spät erkannt. So können z.B. eine Reihe von für mental gesunde Kinder einfache diagnostische Untersuchungen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen aufgrund ihrer mangelnden Kooperation oft nur in Narkose oder durch Anwendung von aufwendigen Spezialverfahren durchgeführt werden. Eine nicht erkannte Seh- oder Hörstörung kann

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dabei z. B. die veranlagungsbedingte Entwicklungsstörung unnötigerweise noch weiter verstärken. Ferner geht eine nicht geringe Zahl von Erkrankungen mit Entwicklungsstörungen mit infolge Unkenntnis der Diagnose nicht erwarteten Organkomplikationen wie z.B. schleichend beginnenden Organfunktionsstörungen oder frühzeitigen Krebserkrankungen einher. Teilweise bestehen auch für bestimmte Komorbiditäten diagnosespezifische Therapieempfehlungen. ° Die Kenntnis des zu erwartenden Komorbiditätsspektrums erlaubt daher durch gezielte Organüberwachung und allenfalls spezifische Medikation eine Verbesserung des Krankheitsmanagement. ° Umgekehrt kann bei bekannter ätiologischer Diagnose aufgrund der Kenntnis der typischen Symptomatik auf manche unnötige diagnostische Verfahren verzichtet werden. • Wiederholungsrisiko: ° Bei ätiologisch ungeklärter Entwicklungsstörung besteht empirisch ein Wiederholungsrisiko von 8,4%, ohne dass eine vorgeburtliche Diagnostik möglich wäre. ° Die Aufklärung der zugrundeliegenden ätiologischen Diagnose erlaubt eine Präzisierung des Wiederholungsrisikos, das im Einzelfall zwischen weniger als 1% und 100% liegen kann. ° Die Identifizierung des zugrundeliegenden genetischen Defektes stellt die Voraussetzung für eine gezielte und sichere pränatale Diagnostik in Risikoschwangerschaften dar.

Fallbeispiel i Bei einem fünfjährigen Mädchen liegt eine primäre Entwicklungsverzögerung insbesondere im sprachlichen Bereich vor. Zusätzlich wird eine Makrozephalie, d.h. ein Kopfumfang oberhalb der 97. Perzentile der Norm festgestellt. Bei der Vorstellung in der genetischen

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Sprechstunde kann keine spezifische Verdachtsdiagnose auf eine bekannte monogene Erkrankung formuliert werden, weshalb im Einvernehmen mit den Eltern eine chromosomale MikroarrayTestung an einer Blutprobe des Mädchens durchgeführt wird. Diese zeigt eine Mikrodeletion innerhalb der chromosomalen Bande 19p 13.3, die unter anderem das STKll-Cen umfasst. Die Dosisreduktion verschiedener, für die Hirnentwicklung- und -funktion wichtiger Erbanlagen in dieser Region erklärt die Entwicklungsverzögerung und die Makrozephalie, sodass keine weitere Suche nach der Ursache z. B. durch eine erweiterte Stoffwechseldiagnostik oder bildgebende Verfahren mehr notwendig sind. Da durch eine gezielte genetische Analyse der Eltern gezeigt werden konnte, dass diese weder die Mikrodeletion selbst noch einen dazu prädisponierenden chromosomalen Umbau aufweisen, kann den Eltern bezüglich eines weiteren Kinderwunsches weitgehend Entwarnung gegeben werden. Das Wiederholungsrisiko liegt in dieser Situation nur bei ca. 1% und dieses Restrisiko kann im Rahmen einer künftigen Schwangerschaft durch eine entsprechende vorgeburtliche genetische Analyse aus einer Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasserprobe direkt und sicher abgeklärt werden. Durch die Beteiligung des STKll-Cens ergeben sich für das Mädchen aber auch ganz unmittelbare therapeutische Implikationen. Das Fehlen einer STKl 1-Cenkopie ist nämlich für das Peutz-Jeghers-Tumorprädispositionssyndrom verantwortlich. Die für Letzteres typische mukokutane Pigmentstörung tritt allerdings erst im Laufe der Zeit auf und ist bei dem Mädchen noch nicht erkennbar. Aufgrund des mit dem Peutz-Jeghers-Syndrom verbundenen deutlich erhöhten Risikos für verschiedene Tumore wird das Mädchen ab dem jungen Erwachsenenalter von einem entsprechend individuell angepassten Vorsorgeprogramm profitieren können. Daneben besteht beim Peutz-JeghersSyndrom jedoch schon im frühen Kin-

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desalter eine Polyposis insbesondere des Dünndarms. Diese sind zwar meist gutartig, führen aber häufig zu akuten Darmverschlüssen oder zu gastrointestinalen Blutungen mit der Folge einer sekundären Anämie. Schon 30% der Patienten mit Peutz-Jeghers-Syndrom müssen sich bis zum Alter von zehn Jahren und ca. 70% bis zum Alter von 18 Jahren einer Laparotomie unterziehen, wobei 70% einen Notfalleingriff benötigen [2]. Auf gezielte Nachfrage berichtete die Mutter des Mädchens, dass dieses tatsächlich häufiger unter Verstopfung leidet und es wurde eine sofortige endoskopische Abklärung des Dünndarms durchgeführt, was eine elektive Behandlung ermöglicht und eine Notfall-Operation zu vermeiden hüft.

Fallbeispiel 2 Ein 15-jähriger Knabe zeigt bei weitgehend altersgerechter motorischer Entwicklung mit feinmotorischem Ungeschick einen deutlichen kognitiven Entwicklungsrückstand und ein hyperaktives Verhalten mit verminderter Aufmerksamkeitsspanne. Die Untersuchung in der genetischen Sprechstunde zeigt keine spezifischen Dysmorphien, jedoch imponieren die Periorbitalregion etwas voll und die Ohren und das Hodenvolumen relativ gross. In der Familienanamnese fällt auf, dass beim Vater der Mutter des Jungen seit dem Alter von ca. 55 Jahren ein Intentionstremor und in jüngster Zeit auch eine leichte Ataxie vorliegen. Aufgrund der Gesamtkonstellation wird ein Fragiles X-Syndrom in Erwägung gezogen und die entsprechende gezielte Testung der dafür verantwortlichen CGG-Wiederholungen (Repeats) am FMRl-Genlocus aus einer Blutprobe des Jungen bestätigt die Verdachtsdiagnose durch den Nachweis einer sogenannten Vollmutation mit ca. 500 Repeats. Somit ist die Ursache des Entwicklungsrückstandes geklärt und weitere diagnostische Massnahmen können vermieden werden. Nach Rückmeldung der Diagnose an die behandelnden Kinderärzte

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wird eine medikamentöse Therapie der Hyperaktivität initiiert. Ferner kann dem Jungen bei Erfüllung der jeweiligen Einschlusskritierien die Teilnahme an einer der gezielten Therapiestudien für das Fragile-X-Syndrom angeboten werden. Da eine FMRl-Vollmutation immer auf dem Boden einer sogenannten Prä- oder Vollmutation bei der Mutter entsteht, ergibt sich, dass die 18-jährige gesunde Schwester des Knaben mit 50%iger Wahrscheinlichkeit von ihrer Mutter die Prä- oder Vollmutation auf dem X-Chromosom geerbt hat und gegebenenfalls u. a. ein 50%iges Risiko für ein Fragiles-X-Syndrom bei den Söhnen aufweist. Ferner können weitere Verwandte der Mutter die Prä- oder Vollmutation in sich tragen mit entsprechenden Folgen für die Nachkommen. Daneben haben Träger einer FMRl-Prämutation (d.h. ca. 55-200 Repeats) ein erhöhtes Risiko für eine vorzeitige Ovarialinsuffizienz oder ein Ataxie-Tremor-Syndrom im späteren Erwachsenenalter. Somit konnte durch die Diagnosestellung eines Fragilen-X-Syndroms bei dem Knaben auch die Ursache der neurologischen Symptomatik des Grossvaters geklärt werden, bei dem sich daraufhin eine FMRl-Prämutation nachweisen liess, die im Gegensatz zur Vollmutation nicht mit einer primären Intelligenzminderung einhergeht. Alle Familienmitglieder, die dies wünschen, können sich zudem auf Anlageträgerschaft testen lassen und allenfalls entsprechende Konsequenzen für den eigenen Kinderwunsch treffen. Diese können z.B. sein auf eigene Kinder zu verzichten oder im Fall einer Schwangerschaft in der ca. zwölften Schwangerschaftswoche mittels Chorionzottenbiopsie und Spezialuntersuchung des FMRl-Repeats eine sichere vorgeburtliche Diagnostik durchführen zu lassen.

Fallbeispiel 3 Bei einem vierjährigen Mädchen mit globaler Entwicklungsverzögerung (noch unsicheres Laufen, Sprache beschränkt

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auf wenige einzelne Worte) und sekundärer Mikrozephalie treten zunehmend teils langwierige Infekte der Luftwege auf. Aufgrund dieser Konstellation zusammen mit den hierfür typischen Gesichtszügen und kleiner morphologischer Besonderheiten ergibt sich der Verdacht auf ein Cohen-Syndrom. Die entsprechende gezielte Mutationsanalyse des dafür verantwortlichen VPS13B-Gens aus einer Blutprobe des Mädchens bestätigt die Verdachtsdiagnose durch den Nachweis zweier pathologischer Mutationen, von denen jeweils eine von der Mutter und eine vom Vater an das Mädchen vererbt wurde. Da die Eltern jeweils nur eine Mutation aufweisen, sind sie gesunde Überträger dieser autosomal-rezessiven Erkrankung und haben mit jeder Schwangerschaft ein 25%iges Risiko für das erneute Zusammentreffen der beiden Mutationen und damit ein CohenSyndrom beim Kind unabhängig vom Geschlecht. Die Kenntnis über die familiären Mutationen ermöglicht es nun aber bei Wunsch im Falle einer weiteren Schwangerschaft eine gezielte und sichere vorgeburdiche Diagnostik bezüglich der familiären VPS13B-Mutationen an einer Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasserprobe durchzuführen. Ferner können weitere Familienangehörige bei Wunsch auf Anlageträgerschaft für die in der Familie bekannten Mutationen untersucht und somit das Risiko für ein Cohen-Syndrom bei den Nachkommen präzisiert werden. Aber auch die Diagnostik und Therapie des betroffenen Mädchens ändern sich richtungsweisend durch die Diagnose eines CohenSyndroms. Da hierbei verschiedene, erst im Lauf der Zeit manifeste und teils progrediente Augenerkrankungen typisch sind, erfolgte aufgrund der Diagnose eine genauere ophthalmologische Abklärung, die eine höhergradige Myopie ergab. Diese führte nach entsprechender Brillenversorgung zu einer verbesserten Wahrnehmung und einem kleinen Entwicklungsschub des Kindes. Ferner wurde die Infektanfälligkeit wie bei anderen Patienten mit Cohen-Syndrom erfolg-

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reich durch die Behandlung mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor GGSF gelindert, dies obwohl die Konstellation der immunologischen Parameter alleine eine GCSF-Behandlung nicht nahegelegt hätten.

Abstract Mental retardation affects about 2-3% of the population and is often associated with comorbidities. So far, more than 450 different medical conditions are known with mental retardation as a sign and it is assumed that there are many more yet to be defined. The diagnosis ofthe underlying entity allows for a few specific optimization of cognitive function, but usually improves the treatment of comorbidities. Furthermore, the detection of the underlying genetic defect allows the specification of the risk of recurrence and enables prenatal diagnosis for future pregnancies of persons at risk in the family. Recent findings suggest that especially in diseases that are associated with defective synaptic signal transduction may be targeted by specific drugs for improvement of cognitive performance in the near future. Keywords: mental retardation - developmental delay - comorbidity - genetic defects - chromosomal defects

Résumé La déficience intellectuelle touche environ 2-3% de la population et est souvent associée à des comorbidités. Jusqu'à présent, plus de 450 maladies sont connues pour être associées à un retard mental et on suspecte encore de nombreuses autres entités jusqu'alors inconnues. Le diagnostic de l'entité sous-jacente permet rarement aujourd'hui d'optimiser spécifiquement les fonctions cognitives, mais permet d'améliorer le traitement des comorbidités. En outre, la détection de l'ano-

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Key messages • Mentale Retardierung betrifft ca. 2-3% der Bevölkerung und ist häufig mit Komorbiditäten assoziiert. • Bislang sind mehr als 450 definierte genetische Krankheitsbilder bekannt, die mit mentaler Retardierung einhergehen und viele weitere werden noch vermutet. • Die Diagnosestellung der zugrundeliegenden Entität ist wichtig für die Optimierung der Therapie und ermöglicht eine vorgeburtliche Diagnostik bei Verwandten mit entsprechendem Risiko.

Lernfragen 1. Welche Aussage(n) zur Ursache der geistigen Behinderung ist/sind richtig? (Einfachauswahl, 1 richtige Antwort) a) Die Mehrzahl der Fälle wird durch Geburtskomplikationen oder frühkindliche Infekte verursacht. b) Die Mehrzahl der Fälle wird durch genetische Defekte verursacht. c) Derzeit kennt man mehr als 450 Krankheitsbilder, die mit mentaler Retardierung einhergehen. d) a und c sind richtig. e) b und c sind richtig. 2. Welche Aussage(n) zur Therapie der geistigen Behinderung ist/sind richtig? (Einfachauswahl, 1 richtige Antwort) a) Die Behandlung der häufig mit mentaler Retardierung einhergehenden Komorbidiät kann durch die Kenntnis der zugrundeliegenden ätiologischen Diagnose verbessert werden. b) Bei Ghromosomenstörungen ist heutzutage aufgrund der Kenntnis der jeweüs betroffenen Gene häufig eine gute Vorhersage des Entwicklungs- und Komorbiditätsspektrums möglich. c) Die kognitive Leistungsfähigkeit kann bei genetisch bedingten Erkrankungen prinzipiell medikamentös nicht verbessert werden. d) a und b sind richtig. e) a und c sind richtig. malie génétique sous-jacente permet de connaitre le risque de récidive et de réaliser un diagnostic prénatal pour les futures grossesses des personnes à risque dans la famille. Des résultats récents suggèrent que dans un futur proche des thérapies ciblées permettront d'améliorer les performances cognitives chez les patients dont la maladie est associée à un défaut de transmission synaptique. Mots-clés: déficience intellectuelle anomalie de développement - comorbidités - maladies génétiques - malformations chromosomiques

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Anita Rauch Institut für Medizinische Genetik Universität Zürich Wagistrasse 12 8952 Schlieren anita. rauch@medgen. uzh. ch

Interessenskonflikt: Die Autoren sind Prüfärzte in einer von Novartis finanzierten multizentrischen Studie zur medikamentösen Therapie des Fragilen-XSyndroms. Manuskript angenommen; 19.8.2013.

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[Intellectual disability - a frequent reason for referral to medical genetics].

La déficience intellectuelle touche environ 2–3% de la population et est souvent associée à des comorbidités. Jusqu'à présent, plus de 450 maladies so...
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