Leitthema Radiologe 2014 DOI 10.1007/s00117-013-2626-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Seckinger · D. Hose Medizinische Klinik V, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg

Interaktion zwischen Myelomzellen und Knochengewebe Das multiple Myelom ist die maligne Erkrankung, die am häufigsten zu Knochensubstanzdefekten führt [13]. Bei ca. 80% der Patienten treten im Verlauf Osteolysen, generalisierte osteoporotische Veränderungen oder Frakturen auf [13]. Pathologische Frakturen erleiden 43% der Patienten, am häufigsten der Wirbelkörper, gefolgt von Frakturen der langen Röhrenknochen [14, 22]. Knochensubstanzdefekte stellen auf 3-fache Weise ein therapeutisches Problem dar: I) per se durch die assoziierte Morbidität und Mortalität und die damit einhergehende Einschränkung der Lebensqualität [22], II) als Überlebensraum für Myelomzellen nach primär erfolgreicher Therapie und konsekutiv notwendiger erneuter chemotherapeutischer Behandlung, III) ist in analoger Weise bei Patienten mit asymptomatischem Myelom das Auftreten einer osteolytischen Läsion der häufigste Grund für eine Therapieeinleitung zur Vermeidung myelombedingter Frakturen [20].

mulation, einer fokalen Läsion [7, 8]. Das Auftreten einiger dieser Muster, wie z. B. fokaler Läsionen, ist mit einer ungünstigen Prognose assoziiert [7, 8]. Gleiches gilt, wenn fokale Läsionen nach initial erfolgreicher Therapie persistieren. Über die Ursachen unterschiedlicher Muster von Knochensubstanzdefekten beim multiplen Myelom (MM) ist gegenwärtig nichts bekannt, ebenso darüber, warum fokale Läsionen bevorzugt in bestimmten Arealen auftreten und warum diese bei einigen Patienten auftreten, bei anderen jedoch nicht. Ferner ist es gegenwärtig noch unerforscht, inwieweit sich die Befallsmuster auf unterschiedliche genetische Aberrationen zurückführen lassen. Die Heilung von Knochensubstanzdefekten ist, wenn es überhaupt dazu kommt, auch bei Patienten in kompletter Remission um Größenordnungen langsamer als die Heilung einer Fraktur beim Knochengesunden [5]; die Ursache hierfür ist ungeklärt. Denkbar sind die Anwesenheit residueller Myelomzellen im Defekt, die fortgesetzt eine Stimulation des

Knochenabbaus gegenüber dem Aufbau aufrechterhalten oder ein Verlust des Stimulus für Reparaturvorgänge, einerseits durch die Zerstörung der „bone remodeling compartments“ (BRC, . Abb. 1 [3]), andererseits durch pathologisches Remodelling hinterlassene „verbrannte Erde“ im Bereich des Defekts. Gleichzeitig könnte die Knochenmarkmikroumgebung die Anwesenheit von Myelomzellen über Jahre „erinnern“.

Pathogenese von Knochensubstanzdefekten beim multiplen Myelom Chromosomale Aberrationen und Veränderungen der Genexpression.  Maligne Plasmazellen weisen eine Vielzahl chromosomaler Aberrationen und Veränderungen ihres Genexpressionsprofils auf, die mit der Fähigkeit zur aberranten Produktion von Überlebens-, Proliferations-, proangiogenen und den Knochenstoffwechsel beeinflussenden Faktoren einhergehen bzw. die Produktion die-

Räumliches Wachstumsmuster von Myelomzellen im Knochenmark und Muster von Knochensubstanzdefekten Die Myelomzellinfiltration im Knochenmark kann unterschiedliche Muster zeigen, insbesondere eine diffuse Verteilung von Myelomzellen über das Knochenmark vs. einer sphärischen dichten Akku-

Abb. 1 8 Myelombedingte Knochensubstanzdefekte. a Physiologische Situation: Osteoblastäre Knochenbildung (OB, blau) und osteoklastäre Knochenresorption (OC, rot) sind gekoppelt. b Initial findet sich beim multiplen Myelom eine erhöhte Knochenresorption, die Knochenneubildung hält Schritt (intakte BRCs, MM-I). c Werden BRCs durch Interaktion mit Myelomzellen (MMC, violett) disruptiert, kommt es zu verstärktem Knochenabbau bei fast völlig sistierender Knochenneubildung (MM-D). BRC „bone remodeling compartments“ [3], MM multiples Myelom. (Aus [40]) Der Radiologe 2014 

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Abb. 2 8 Interaktion zwischen Myelomzellen und Knochen bzw. Zellen des Knochenmarks. Myelom- wie auch normale Knochenmarkplasmazellen stehen in enger bidirektionaler Interaktion mit anderen Zellpopulationen der Knochenmarkmikroumgebung sowie der extrazellulären Matrix. Ex vivo überleben die Zellen nach Aufreinigung der Plasmazellen aus dem Knochenmarkaspirat (sog. CD138-Sortierung) nur wenige Tage in Kultur. Nur unter Zugabe von Zytokinen bzw. einer Kokultur ist es möglich, aus ca. 1% der angesetzten Proben eine Myelomzelllinie zu generieren

ser Faktoren in der Mikroumgebung induzieren [9, 10, 11, 12, 17, 20, 23, 24, 25, 27]. Veränderung der Knochenmarkmikroumgebung.  Begleitend zur Myelomzellakkumulation im Knochenmark kommt es zu einer Transformation der Mikroumgebung durch Faktoren, die [9, 17, 24, 25, 32, 38]: F aberrant von Myelomzellen produziert werden (z. B. Dickkopf-1 [DKK1]), F bereits von normalen Plasmazellen exprimiert werden und durch eine Akkumulation der Zellen in höherer Konzentration vorliegen (z. B. „vascular endothelial growth factor“ [VEGF], Annexin A2 [ANXA2], „bone morphogenic protein 6“ [BMP-6]) oder F solchen, die von Zellen der (sich ändernden) Mikroumgebung produziert werden. Kennzeichen dieses Transformationsprozesses sind u. a. die Entstehung von Knochensubstanzdefekten oder eine verstärkte Angiogenese [12]. Bidirektionale Interaktion von Myelomzellen mit Zellen ihrer Mikroumgebung und der extrazellulären Matrix.  Myelom- und auch normale Plasmazellen ste-

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hen in enger bidirektionaler Interaktion mit anderen Zellpopulationen der Knochenmarkmikroumgebung und sind zum Überleben auf die Interaktion insbesondere mit Stroma-, Endothelzellen und Osteoklasten sowie der extrazellulären Matrix angewiesen (. Abb. 2). Einerseits beeinflusst die Knochenmarkmikroumgebung Plasma- und Myelomzellen und ist für deren Überleben entscheidend: Wachstums- und Überlebensfaktoren wie „a proliferation inducing ligand“ (APRIL) oder „insulin-like growth factor 1“ (IGF-1) werden von Osteoklasten produziert, oder, wie IGF-1, bei Degradation der Knochenmatrix freigesetzt [12, 18, 27]. Zusätzlich besteht z. B. eine direkte integrinvermittelte Interaktion mit Fibronektin der ossären Matrix [30]. Osteoklasten stimulieren auch durch direkten Kontakt mit Myelomzellen deren Proliferation und Überleben, u. a. via α4β1-Integrin [2]. Andererseits beeinflussen Myelomzellen die Knochenmarkmikroumgebung durch Faktoren, die zum einen die Anzahl und Aktivität von Osteoklasten erhöhen, zum anderen die Anzahl und Aktivität von Osteoblasten reduzieren und die dreidimensionale Struktur des BRC zerstören (. Abb. 1).

Erhöhung der Anzahl und Aktivität von Osteoklasten Plasma- wie auch Myelomzellen produzieren osteoklastenaktivierende bzw. -generierende Mediatoren wie VEGF-A oder ANXA2 [9, 24]. Eine gleichzeitige Inhibition von VEGF und Osteopontin hemmt in einer Kokultur von Osteoklasten und Myelomzellen fast vollständig die Angiogenese sowie Knochenresorption [31]. In vitro kann VEGF den stimulierenden Effekt von „macrophage-colony stimulating factor“ (M-CSF) auf die Differenzierung von Osteoklasten substituieren [21]. ANXA2 stimuliert die Proliferation und Differenzierung osteoklastärer Progenitoren; eine hohe Expression in Myelomzellen sowie im Knochenmark von Patienten mit multiplem Myelom ist mit schlechterem Überleben assoziiert [15, 24]. Weitere Faktoren sind „macrophage inflammatory protein“(MIP)-1α und 1β, die direkt die Bildungsrate und Resorptionsaktivität von Osteoklasten durch Binden an die Rezeptoren CCR1 und CCR5 erhöhen. Gleichzeitig führen sie zu einer erhöhten Receptor-activator-nuclear-factor-kappa-B-ligand(RANKL)- und Interleukin(IL)-6-Expression durch Knochenmarkstromazellen und damit indirekt zu einer Stimulation von Osteoklasten und Myelomzellen [1, 12]. Activin-A ist ein

Zusammenfassung · Abstract weiterer Osteoklastenagonist, der über eine Stimulation der RANKL-Expression an der Generierung und Differenzierung von Osteoklasten beteiligt ist [29, 32]. Bei Patienten mit multiplem Myelom sind im Serum sowie im Knochenmarkplasma erhöhte Activin-A-Spiegel nachweisbar; diese korrelierten mit einer fortgeschrittenen Knochenbeteiligung und einem schlechteren Überleben [35, 39].

Reduzierung der Osteoblastenanzahl Die aberrante Expression von Inhibitoren des Wnt-Signaltransduktionswegs wie DKK-1 oder Sclerostin durch Myelomzellen führt zu einer Verschiebung des Osteoprotegerin(OPG):RANKL-Quotienten und blockiert die osteoblastäre Differenzierung aus mesenchymalen Progenitoren sowie die Osteoblastenaktivität [34, 38]. DKK-1 wird physiologischerweise von mesenchymalen Stromazellen (MSC) und Osteoblasten, aberrant von Myelomzellen exprimiert [23]. DKK1 inhibiert die Wnt3A-Signaltransduktion mit einer konsekutiven Verschiebung des OPG:RANKL-Verhältnisses zugunsten von RANKL, was in einer verminderten osteoblastären Aktivität resultiert. Myelompatienten zeigen erhöhte Serum-DKK-1 Spiegel, was mit der DKK-1 Expression in Myelomzellen und dem Vorhandensein fokaler Läsion korreliert [38]. Das ebenfalls von Osteoblasten und Stromazellen gebildete Osteoprotegerin (OPG) ist als löslicher inaktivierender Decoy-Rezeptor für RANKL dessen physiologischer Gegenspieler [26]. Myelompatienten weisen im Vergleich zu Gesunden erhöhte RANKL- und erniedrigte OPG-Serumspiegel auf [6]. Eine Zunahme des Serum-RANKL:OPG-Quotienten korreliert mit Krankheitsausbreitung und Überleben [37]. Sclerostin inhibiert die osteoblastäre Knochenbildung und induziert Apoptose in reifen Osteoblasten [16]. Erhöhte Sclerostin-Spiegel bei Patienten mit symptomatischem Myelom korrelieren mit einer fortgeschrittenen Krankheitsaktivität und einem pathologischen Knochenstoffwechsel [34]. Daneben exprimieren Myelomzellen funktionelle Inhibitoren der Differenzierung von MSC in Osteoblasten wie „he-

Radiologe 2014 · [jvn]:[afp]–[alp]  DOI 10.1007/s00117-013-2626-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 A. Seckinger · D. Hose

Interaktion zwischen Myelomzellen und Knochengewebe Zusammenfassung Hintergrund.  Das multiple Myelom ist diejenige maligne Erkrankung, die am häufigsten zu Knochensubstanzdefekten führt. Bei ca. 80% der Patienten treten im Verlauf Osteolysen, generalisierte osteoporotische Veränderungen oder Frakturen auf. Pathologische Frakturen erleiden 43% der Patienten, am häufigsten der Wirbelkörper, gefolgt von Frakturen der langen Röhrenknochen. Material und Methoden.  Die in den beschriebenen Arbeiten eingesetzten Methoden umfassen u. a. Genexpressionsanalysen, „enzyme-linked immunosorbent assays“ und radiologische Verfahren. Ergebnisse und Diskussion.  Knochensubstanzdefekte stellen auf dreifache Weise ein therapeutisches Problem dar: 1) per se durch die assoziierte Morbidität und Mortalität und die einhergehende Einschränkung der Lebensqualität, 2) als Überlebensraum für Myelomzellen nach primär erfolgreicher Therapie und konsekutiv notwendiger erneuter chemotherapeutischer Behandlung; 3) ist in analoger Weise bei Patienten mit asymptomati-

schem Myelom das Auftreten einer osteolytischen Läsion der häufigste Grund für eine Therapieeinleitung -zur Vermeidung einer myelombedingten Fraktur. Maligne Plasmazellen weisen dabei eine Vielzahl chromosomaler Aberrationen und Veränderungen ihres Genexpressionsprofils auf, die mit der Fähigkeit zur aberranten Produktion von Überlebens-, Proliferations-, proangiogenen und knochenstoffwechselbeeinflussenden Faktoren einhergehen bzw. deren Produktion in der Mikroumgebung induzieren. Dies führt zu einer Entkopplung des Knochenstoffwechsels im Sinne einer vermehrten Anzahl und Aktivität von Osteoklasten, der Knochenaufbau durch Osteoblasten sistiert fast vollständig. Therapeutische Ansätze, systemisch wie lokal, zielen dementsprechend auf eine Stimulierung der osteoblastären und Inhibition der osteoklastären Funktion. Schlüsselwörter Multiples Myelom · Knochensubstanzdefekt · Osteoblast · Osteoklast · Lokale Therapie

Interaction between myeloma cells and bone tissue Abstract Background.  Multiple myeloma is the malignant disease which most frequently leads to bone lesions. Approximately 80% of myeloma patients develop osteoporosis, lytic bone lesions (osteolysis) or fractures during the course of the disease. Of these patients 43% suffer pathological fractures most often of the vertebrae followed by fractures of the long bones. Material and methods.  The methods used in the described articles include, e.g. gene expression profiling, enzyme-linked immunosorbent assays and radiological techniques. Results and discussion.  Myeloma bone disease represents a threefold therapeutic problem: (i) per se because of the associated morbidity, mortality and the accompanying decrease of quality of life, (ii) as survival space for (residual) myeloma cells after primarily successful chemotherapy and subsequently necessary chemotherapeutic treatment, and (iii) the occurrence of bone lesions in asymp-

tomatic patients is the most common cause for the initiation of treatment to avoid myeloma-induced fractures. Myeloma cells harbor a high median number of chromosomal aberrations and multiple changes in gene expression compared to normal bone marrow plasma cells leading to the aberrant production of survival, proliferation, pro-angiogenic and bone turnover influencing factors or the induction of those factors in the bone marrow microenvironment. This causes an imbalanced bone turnover in the sense of an increased number and activity of osteoclasts while bone formation by osteoblasts is almost completely suspended. Therapeutic approaches, systemically and locally therefore aim at stimulation of osteoblasts and inhibition of bone resorption. Keywords Multiple myeloma · Bone lesions · Osteoblast · Osteoclast · Local treatment

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Leitthema patocyte growth factor“ (HGF). HGF wird von Myelomzellen von etwa 60% der Patienten aberrant exprimiert [7]. Hohe Serum-HGF-Spiegel korrelieren negativ mit dem Serumspiegel der knochenspezifischen alkalischen Phosphatase als Marker für die osteoblastäre Aktivität [28]. In vitro hemmt HGF die BMP-induzierte Osteoblastogenese aus MSC, indem es den BMP-induzierten Proliferationsarrest der MSC aufhebt, der zu deren Differenzierung notwendig ist [28]. Eine direkte Zell-Zell-Interaktion zwischen Myelomzellen und Knochenmarkstromazellen resultiert zudem in einer erhöhten IL6- und RANKL-Produktion bei verminderter OPG-Bildung, was wiederum die Osteoklastogenese begünstigt [6, 26]. Interessanterweise konnten wir in eigenen Untersuchungen nachweisen, dass Myelomzellen im Gegensatz dazu auch knochenanabole Faktoren wie BMP-6 produzieren (s. u.; [25]).

(Selbst)limitierung der Interaktion Eigene Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht nur Myelomzellen sondern bereits normale Plasmazellen Faktoren produzieren, die den Knochenstoffwechsel beeinflussen. BMP-6 stimuliert die ostoblastäre Funktion, bewirkt Apoptose-Induktion in Myelomzellen und inhibiert Angiogenese [25]. ANXA2 stimuliert dagegen Proliferation und Differenzierung osteoklastärer Progenitoren [15]; eine hohe Expression in Myelomzellen sowie im Knochenmark ist mit einem schlechteren Überleben assoziiert [24]. Gegebenenfalls findet hierdurch eine Selbstlimitierung der Knochenstoffwechsel-Beeinflussung durch Plasma- bzw. Myelomzellen statt, in Analogie zu Osteoblasten, die sowohl OPG als auch RANKL produzieren.

Bedeutung der Knochenmikroanatomie bzw. intakter „bone remodeling compartments“ (BRC) Hierzu s. . Abb. 1. Histomorphometrische Untersuchungen zeigen bei Myelompatienten sowohl eine erhöhte Zahl als auch Aktivität von Osteoklasten [4, 12]. Die Anzahl der Osteoblasten ist in frühen Stadien der Erkrankung erhöht, nimmt jedoch im Verlauf bei Patienten mit Kno-

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chenläsionen ebenso wie die Osteoblastenaktivität stark ab [4, 12]. Teilt man Myelompatienten in solche mit >75% der Erosionsoberfläche im Knochen in intakten BRC (MM-I) vs.

[Interaction between myeloma cells and bone tissue].

Multiple myeloma is the malignant disease which most frequently leads to bone lesions. Approximately 80% of myeloma patients develop osteoporosis, lyt...
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