Nr. 52, 28. Dezember 1979, 104. Jg.

Lactacidose

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Dtsch. med. Wschr. 104 (1979), 1827-1829 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Nach den exzellenten Leitartikeln und Ubersichtsarbei-

beobachtung ist. Von einer Lactacidose sprechen wir

ten, die in den letzten Jahren vor allem im englisch-

dann, wenn unter Verlauf sbeobachtung feststeht, daß die Lactatkonzentrationen bei metabolischer Acidose unter

sprachigen Schrifttum erschienen sind, hat das Problem der Hyperlactatämie und Lactacidose nicht nur an Bedeutung im Bereich der Inneren Medizin zugenommen, wo eine inadäquate Therapie des Diabetes mellitus zu erheblichen Störungen in der Homöostase des Lactats führte, sondern weiterentwickelte Erkenntnisse biochemischer Zusammenhänge und deren Ubertragung in den Bereich der Akutgefährdung der Vitalfunktionen von Atmung, Kreislauf und Stoffwechsel führten ebenso zu einem erheblichen Stellenwertzuwachs (1, 4, 6, 12, 13, 15).

Die bereits vor mehr als 150 Jahren untersuchte Milchsäure-Problematik betrifft ein physiologisches Stoffwech-

selprodukt, dessen Konzentration unter Homöostasebedingungen, abhängig von den drei Grundfunktionen von Produktion, Verwertung und Verteilungsraum, einen bestimmten Referenzwert einnimmt, der je nach muskulärer Aktivität in relativ breiten Grenzen schwanken kann (2,3,5, 11, 14).

Nomenklatur Zwei Stoffwechselzustände, die einen gänzlich unterschiedlichen Bedeutungsgrad haben, sind bei der Störung der Homöostase des Lactats zu beachten: Die Hyperlactatämie bezeichnet Zustände mit erhöhter Lactatkonzentration im Blut, die jedoch meist èinen Wert von S mmol/l nicht überschreitet. Diese Lactatkonzentrationserhöhung ist meist nicht die Ursache von Veränderungen ith Säuren-Basen-Status. Sie liegt vielmehr im allgemeinen als Stoffwechselreaktion auf eine alkalische Verschiebung des pH-Wertes vor.

Unter Lactacidosen verstehen wir Zustände erhöhter Lactatkonzentrationen im Blut, die mit einem Abfall des pH-Wertes verknüpft sind und bei denen die Lactatkonzentrationsveränderungen erhebliche Ausmaße anneh-

men können. Die Definition der Lactacidose, die eine pathologische Veränderung darstellt, die kausal durch Milchsäure (acidum lactis) bewirkt wird, ist die einer metabolischen Acidose, die in ihrem Entwicklungsmechanismus und ihrem Stellenwert vergleichbar ist der Ketoacidose und der urämischen Acidose. Definitionsversuche zur Lactacidose liegen in zahlrei-

cher Forn) in der Literatur vor (1, 4). Man muß festhalten, daß sich punktuelle Grenzwerte für die Festlegung einer Lactacidose nicht erstellen lassen, da ein wesentliches Kriterium für die Einstufung einer Lactatkonzentrationserhöhung mit acidotischer pH-Wert-Veränderung als pathologische Eigenschaft die Verlaufs0012-0472/79 1228 - 1827

Ruhebedingungen in einer Höhe bleiben, bei der sich formale Abklingzeiten für Lactat von über 60 Minuten ergeben. Man kann davon ausgehen, daß bei Verlaufsbeobachtungen unter muskulären Ruhebedingungen bei Ausschaltung anaerober Muskelaktivität Lactatabklingzeiten im Blut von unter 40 Minuten die Gewähr bieten,

daß eine pathologische Veränderung der Homöostase des Lactats nicht vorliegt.

Biochemische Grundzüge des Lactatstoffwechsels Die Milchsäure als physiologisches Stoffwechselprodukt

unterliegt dem Substratfluß in den energiebildenden Reaktionen. Lactat steht in einem Gleichgewicht mit Pyruvat, welches als zentrale Substanz im zytoplasmatischen Reaktionsfeld davon bestimmt ist, in welcher Weise die Energiebildung abläuft.

Man kann das Gleichgewicht zwischen Pyruvat und Lactat als einen Schutzmechanismus der Zelle ansehen, der dann an Bedeutung zunimmt, wenn die Entfernung des coenzymatisch gebundenen Wasserstoffes aus den Oxidationsreaktionen im Zytoplasma gestört oder insuffizient wird. Man muß als Faktum festhalten, daß bei jeder Wasserstoffübernahme aus einem Substrat auf das Coenzym (meist NAD) mit jeder NADH-Bildung die Bildung eines Protons verknüpft ist. Analytisch gesehen bedeutet das, daß dieser Vorgang der Wasserstoffüber-

nahme einer Säuerung des Reaktionsmilieus gleichkommt. Der physiologische pH-Bereich des Zytoplasmas als Voraussetzung geordneter biochemischer Reaktionen

wird dadurch aufrechterhalten, daß die Oxidation des Wasserstoffes prompt und wirksam in den oxidativen Prozessen der Atmungskette erfolgt. Aus diesem Grundverständnis, welches noch einmal in der Reaktionsgleichung des Pyruvat-Lactat-Gleichgewichts bei enzymatischer Wasserstoffübertragung dargestellt ist, wird klar, daß alle Einflüsse, die zu einer Ineffizienz der Regenera-

tion der reduzierten Coenzyme einerseits oder einem Substratstau vor dem Mitochondrion andererseits führen, eine Störung der Homöostase des Lactats verursachen. Pyruvat + NADH + W

LDH

' Lactat + NAD

K = 2,9 X 1012 mol/i (25 °C)

Die Frage, in welcher Weise die Bildung von Lactat im

Zytoplasma zu einer Lactacidose im extrazellulären

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Lactacidose

Lactacdose

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Laum führen kann, läßt sich an einem Zahienbeispiel rläutern: Nach den in der Hendersson-Hasselbalch-Gleichung eschriebenen Beziehungen liegt bei einem physiologichen pH-Wert von etwa 6 in der Muskeizelle ein Ver.ältnis von Lactat zu freier Milchsäure von 160: 1 vor. ti dem Maße, in dem nun Lactat als Reaktion auf eine

ganz beachtlichen Lactatproduktion, bis zu Konzentrationen im Blut von über 20 mmol/l, kommen. Ob nun diese Lactatkonzentration pathologische Bedeutung besitzt oder nicht, läßt sich nur dadurch entscheiden, ob die Verwertung dieses enormen Lactatanfalles ungestört

Terschiebung des pH-Wertes des Zytoplasmas zunimmt,

tische Ausstattung der Leber so ausgelegt ist, daß sie

immt auch die Menge an undissoziierter freier Milchäure zu. Diese Zunahme erhöht den diffusionsbestimenden Konzentrationsgradienten von Zytoplasma zum xtrazellulären Kompartiment, was zu einer erhöhten

unter normalen Bedingungen Lactat in Glucose umsetzt,

reisetzung von Milchsäure führt. Im extrazellulären Kompartiment liegt im allgemeinen in höherer pH-Wert unter physiologischen Bedingungen

or, was dazu führt, daß außerhalb der Zelle das Verältnis von Lactat zu freier Milchsäure sich auf 4000 : 1 rhöht. Das bedeutet, daß die freigesetzte Milchsäure, eßtechnisch gesehen, quantitativ in Lactat und Protoen dissoziiert. Auf diesem Wege werden erhebliche 4engen an Protonen aus der Zelle in das extrazelluläre :ompartiment freigesetzt. Ob diese Freisetzung neben er Erhöhung der Lactatkonzentration zu einer Acidose [ihrt, hängt dann nur noch von der Pufferkapazität des xtrazellulären Kompartimentes ab, was sich anhand der asenabweichung unter Standardbedingungen abschäten läßt. Aufgrund dieser biochemischen Zusammenhänge wird

lar, daß alle Einteilungsversuche letzten Eñdes künstch und willkürlich sind und auch für die Diagnostik, 'herapie und Prognose des Patienten keine Bedeutung aben. Wie empfindlich die zytoplasmatischen Bedingungen es Reaktionsmilieus biochemische Abläufe bestimmen, sann an vielen In-vitro-Versuchen demonstriert werden, ei denen aufgrund von Substratbelastungsversuchen an

;olierten Organen oder an Gewebeschnitten, zum Beipiel von Leber, Veränderungen meßbar werden, die aufrund der Nichtbeurteilbarkeit intrazellulärer Vorgänge thlinterpretiert werden können. Große Kontroversen rgaben sich hinsichtlich der Auswirkungen von Fructose der Polyolen auf die Lactathomöostase, und es ist eine eute immer wieder aufgestellte Behauptung, daß hohe ructosebelastungen zu Lactacidosen führen müssen, was

ei intakter Leberfunktion und Beachtung von Dosieungsrichtlinien nicht der Fall ist.

Anhand sorgfältiger Untersuchungen am intakten Oranismus, bei dem nicht wie in den Leberperfusionsveruchen oder den Versuchen mit Leberschnitten übergerdnete Regulationsmechanismen (Cori-Zyklus) ausge-

chaltet sind, kann gezeigt werden, daß die Umsatz:apazität der Leber für Lactat außerordentlich hoch ist. Die Tagesproduktion für Lactat beim ruhenden Men-

chen liegt etwa bei 50 Gramm (14). Die Leber selbst, [ie neben der Niere der Hauptort der Verwertung von actat darstellt, hat eine Tages-Umsatz-Kapazität von twa 240 Gramm, wodurch erhebliche Mengen an Lactat ei der intakten ungestörten Leber metabolisiert werden :önnen (S). Bei maximaler Muskelaktivität kann es, abängig vom Trainingszustand der Muskulatur, zu einer

abläuft oder nicht. Man muß von der Tatsache ausgehen, daß die enzyma-

und nicht Lactat als Endstufe der anaeroben Energiegewinnung erzeugt wird. Man kann festhalten, daß unter allen Umständen, bei denen die Leber zum Lactatproduzenten wird, die Leberfunktionen gestört und insuffizient werden, sei es von seiten der Versorgung (Hypoxie) oder sei es von seiten der Zellfunktionen selbst (Hepatitiden, Hepatosen).

Physiologische und pathologische Zustände des Lactatmetabolismus Die häufigste Ursache einer Störung der Lactathomöostase ist zweifelsfrei die Störung der vitalen Funktionen

von Respiration und Zirkulation. Da die Sauerstoffreserven relativ klein sind, kommt es in einem frühen Stadium der Mangelversorgung zu der beschriebenen Kompensationsreaktion zwischen Pyruvat und Lactat mit der Folge einer erhöhten Milchsäurebildung. Man kann etwas überspitzt sagen, daß unter Bedingungen, die klinisch die Diagnose eines Kreislaufschocks anzeigen, so lange eine ungestörte Mikrozirkulation vorliegt, wie die Lactatkonzcntration sieh im physiologischen Erfahrungsbereich zwischen 0,6 und 1,5 mmol/l bewegt. Man kann

daraus die Feststellung ableiten, daß bei einer Lactacidose auch dann eine zelluläre Unterversorgung besteht, wenn klinisch-makroskopische Untersuchungen eine Normalisierung der Kreislaufverhältnisse und der Sauerstoffversorgung ergeben.

Meßtechnische Erfassung Für die meßtechnische Erfassung der Lactatkonzentration in biologischem Material stehen heute zwei Bestimmungsprinzipien zur Verfügung: Die photometrische Bestimmung mit Hilfe der Lactat-

dehydrogenase macht sich die Absorption von NADH bei 340 Nanometer zunutze. Diese Bestimmung ist in letzter Zeit außerordentlich verbessert worden, da sie unter Umgehung schwieriger Enteiweißungsprozeduren und unter Einsatz von glykolysehemmenden Substanzen

(NaF) relativ kurze Zeit benötigt (Monotest Lactat, Boehringer Mannheim). Die Methode hat sich gut bewährt, ist leicht zu handhaben und führt in relativ kurzer Analysenzeit zu einwandfreien Ergebnissen. Die zweite Methode ist eine elektrochemische Bestimmungsmethode mit Hilfe einer enzymbeschichteten Platinelektrode, bei der letztlich die Lactatbestimmung auch

mit Lactatdehydrogenase, aber über eine amperometrische Endpunktanzeige, durchgeführt wird (Lactatanalyzer Roche, Basel).

Für das Analysenergebnis ist von entscheidender Be-

deutung, wie das Probenmaterial gewonnen und vom

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Lactacidose

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analytischen Bestimmung gehandhabt wird.

Für den perioperativen und intensivmedizinischen Be-

reich ist es wünschenswert, die Lactatbestimmung mit der Blutgas- und Säuren-Basen-Analytik zu kombinieren und so Blutproben aus dem arteriellen System für die Lactatbestimmung einzusetzen.

Wieweit die Kontrolle und Verlaufsbeobachtung der Lactatkonzentration im Liquor für die prognostischet Beurteilung und die Beurtéilung der Therapie zerebraler Prozesse an Bedeutung gewinnt, muß Gegenstand weiterer Untersuchungen bleiben, obgleich erste Untersuchungsergebnisse in dieser Richtung Hoffnung erwecken. Literatur

and hyperlactataemia. Lancet 1974/Il,

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Prof. Dr. Dr. A. Grünert Abteilung für Experimentelle Anästhesie der Universität 7900 Ulm, Oberer Eselsberg M 23

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Zeitpunkt der Materialentnahme bis zum Zeitpunkt der

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