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Die lebensrettende Blickdiagnose bei der Multiplen Endokrinen Neoplasie Typ IIb*

Zusammenfassung Das seltene Krankheitsbild der Multiplen Endokrinen Neoplasie Typ JIb (MEN lIb) besteht aus dem obligaten Auftreten von C-Zell-Karzinomen der Schilddruse und dem fakultativen und zeitlich meist späteren Auftreten von Phaochromocytomen. Typisch ist bei der Form JIb der marfanoide Habitus und die an den Schleiinhäuten des Mundes, der Lippen und der Augenlider auftretenden Neurinome. Diese sichtbaren Befunde ermoglichen eine Blickdiagnose. 1st die Diagnose eindeutig, muB die totale Thyreoidektomie durchgeführt werden, noch bevor sich das C-Zell-Karzinom manifestiert hat. Die Bestimmung des Calcitoninspiegels im Blut nach Stimulation mit Pentagastrin steilt eine zuverlhssige Methode der Verlaufskontrolle dar. Aufgrund der lebensrettenden Bedeutung der Blickdiagnose muB bcim Auftreten von Neurinomen v. a. der Zunge an die Multiple Endokrine Neoplasie Typ lIb gedacht werden.

Life-Saving At-A-Glance Diagnosis in Multiple Endocrine Neoplasia Type lib Medullary carcinoma of the thyroid gland is a feature of multiple endocrine neoplasia, type lIb (MEN lIb).

The cancer frequently gives rise to metastases in early life. Marfanoid habitus and virtually pathognomonic mucosal ganglioneuromas, often situated on the tongue, enable early diagnosis. These stigmata should alert the clinician to the possibility of MEN JIb before medullary carcinoma is clinically manifest. We now believe that it is reasonable to perform

a total thyroidectomy in children with the typical physical appearance of this syndrome regardless of age since medullary

carcinoma of the thyroid gland appears in almost every case.

Calcitonin, a hormone secreted by the C-cells, serves as a plasma tumor marker. Intravenously administered, pentagastrin is a potent secretagogue which is very useful in the early diagnosis of either primary or recurrent medullary carcinoma. With this pentagastrin test, a laboratory screening program is

possible allowing the clinician, specialist, to recognize the syndrom.

Einleitung Aufgrund ihres seltenen Auftretens ist die Mu/lip/c Endokrine Neoplasie auf HNO-ärztlichem Fachgebiet

weitgehend unbekannt. Das Krankheitsbild gehort zu einer Gruppe von genetisch determinierten Hyperplasien und malignen Neubildungen endokriner Organe. Je nach Kranklieitskomplex werden drei Typen

klassifiziert: bei der multiplen endokrinen Neoplasie Typ I (MEN 1) findet man bei den betroffenen Patienten NcbenschilddrUsentumore, In sel zel 1 tumore des Pankreas und Hypophysenadenome.

Die multiple endokrine Neoplasie Typ ha und lib (MEN ha, MEN JIb) ist charakterisiert durch das Auftreten von C-Zell-Karzinomen der Schilddrüse und bilateralen Phäochromocytomen.

Laryngo-Rhino-Otol. 71(1992) 50—52 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York

Das Krankheitsbild der multiplen endokrinen Neoplasie Typ JIb (MEN lIb) ist äuBerlich erkennbar durch multiple Schleimhautneurinome insbesondere an der Zunge, den Lippen und an den Augenlidern sowie dem marfanoiden Habitus. Daher ist die Erkrankung für die Hals-Nasen-Ohrenärzte von besonderer Bedeutung. Von schicksaishafter Bedeutung ist das obligate Auftreten eines medullaren (C-Zell-) Karzinoms der SchilddrOse bereits im Kindesalter, das wegen seiner frUhen Metastasierung zum Tod in jungen Jahren führt (4).

Wird anhand der sichtbaren Verbnderungen fruhzeitig die Diagnose gestelit, ist die totale Thyreoidektomie lebensrettend. Eine konservative Behandlungsmoghichkeit besteht nicht.

Gerade die Schleimhautveranderungen an der Zunge fUhren die Patienten auch zum HNO-Arzt, der die Be-

Herrn Prof. Dr. med. Dr. med. h. c. D. Plester zum 70. Gebuftstag gewidmet.

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E. Biesiner1, F Booiz2, B. Weber3 'Dr. E. Biesinger, Arzt fur HNO-Krankheiten, Traunstein 2Dr. F. Bootz, Universitats-HNO-Klinik Tubingen (Direktor: Prof. Dr. H. P. Zenner) Dr. B. Weber, Universitäts-HNO-Klinik Tubingen (Direktor: Prof Dr. H. P. Zenner)

Die lebensreuende Blickdiagnose bei der multiplen endokrinen Neoplasie

Am Rtickgang dieser Werte nach chirurgischern Vorgehen kann direkt die Effizienz der Operation abgelesen werden. Wird das Krankheitsbild erst nach dem Auftreten des Schilddrüsenkarzinoms erkannt, ist der weitere Verlauf in den rneisten Fallen durch das verzweifelte Bemühen gekennzeichnel, immer wieder auftretende Metastasen oder Rezidive operativ beseitigen zu mtissen.

Fallbeispiel Nachdern den Eltern der Patientin E. Z., geboren am 1.8.1974, schon seit der fruhen Kindheit ihrer Tochter die in Abb. 1 dokumentierten Schleimhautveranderungen aufgefallen waren, wurde 1 982 aus einer dieser Veranderungen eine Gewebsprobe entnommen und histologisch untersucht. Es handelte sich urn em gutartiges Neurofibrom, dec Zusammenhang zur Grunderkrankung wurde nicht erkannt.

Zur Beseitigung moglichst allen Schilddriisengewebes wurden dann im September 1989 in der Universitats-HNO-Klinik Tiibingen die totale Thyreoidektornie, die funktionelle Neck Dissektion links und die Haisrevision rechts durchgefuhrt.

Der Verlauf des Tumorjejdens konnte mit Hilfe der

Calcitoninwerte nach Pentagastrinstimulation kontrolliert werden (Abb. 2). Wlihrend nach der Aufnahme der Patientin extrern hohe Calcitoninwerte festgestellt werden konnten, waren diese nach erfolgter Operation im September89 stark abgesunken. Die noch geringe Stimulation des Calcitonins war jedoch untrtigliches Indiz dafur, daB noch Tumorzellen vorhanden scm mullen.

4000

3000 E C) = C =

2000

0 C.)

C

C-)

1000

0

0

8/89

9/89

2/90

3/90

Abb. 2 Verlauf der mit Pentagastrin stimuherten Caicitoninwerte im Serum der Patientin E. Z.

Es kam zu keiner Anderung dec Tumormarker nach Durchftlhrung einer Immuntherapie mit monoklonalen Antikorpem gegen GD3-Gangliosid und Interleukin II (Universitäts-Kinderklinik Tübingen). In dec Folge kam es zum erneuten Anstieg der Calciloninwerte, wobei mittels selektiver Halskathetermessung (Abt. Innere Medizin, Endokrinologie, Universitat Heidelberg) em Maximalwert von Proben aus der V. jugularis interna links gemessen werden konnte.

Dies deutete aufein Rezidiv des Tumors links cervical hin. Am 16.2.1990 erfolgte eineHalsrevision links, die Sternotomie mit Mediastinalausraumung (Chirurgische Klinik der Universität HeiAbb. 1 Die abgebildeten Schleimhautveranderungen (histologisch Neurofibrome) sind das Leitsymptom bei der muitiplen endokrinen Neoplasie Typ Jib. Sie ermoglichen die Blickdiagnose.

delberg), wobei eine Metastase im Bereich der A. brachiocephalica links gefunden wurde. Postoperativ traten zunachst erhebliche cardiopulmonale Probleme auf, die eine Reintubation und Reanimation notwendig machten. Der weitere Verlauf war unkompliziert, so daB das Madchen am 14.3.1990 aus der Klinik entlassen werden konnte.

Tm Juli 1989 trat bei der Patientin em Knoten an der rechten Halsseite auf, der im August 1989 exstirpiert wurde. Die histologische Befundung ergab em medulläres Schilddrdsenkarzinom.

Ohne dati auchjetzt die Grundkrankheit erkannt wurde, erfolgte aiischlietiend die subtotale Thyreoidektomie und die radikale Neck Dissektion rechts. Es resultierte nach diesem Eingriff eine Recurrensparese rechts.

Zu einer geplanten Nachbestrahlung wurde die Patientin dann in die Universitats-Kinderklinik TUbingen eingewiesen, wo die Diagnose der Multiplen Endokrinen Neoplasie Typ JIb diagnostiziert wurde. Das Vorliegen eines Phaochromocytoms konnte zum damaligen Zeitpunkt ausgeschlossen werden.

Postoperativ war em Absinken der Calcitoninwerte feststelibar, die jedoch immer noch erhdht blieben, was für das Vorhandensein eines Resttumors sprach. Tm Juni 1990 erfolgte eine erneute selektive Calcitoninbestimmung, wobei sich erhohte Werte im AbfluBgebiet der V. brachiocephalica links und somit der Verdacht auf em locoregionares Rezidiv ergaben. Eine erneute operative Revision wurde wegen der schlechten Wundverhaltnisse verschoben. Tm Juni 1991 waren peripher erhohte und angestiegene Calcitoninwerte (nicht stimuliert) als Ausdruck der Progression des Tumorleidens feststellbar. Das Staging ergab den dringenden Verdacht auf das Vorliegen von Metastasen im Bereich des Truncus Ihyreocervicalis, sowie in Höhe des Zungenbeines beidseits. Es wurde für den I. Juli 1991 eine erneute stationäre Aufnahme zur operativen Revision geplant. Die Prognose mull als infaust angesehen werden.

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deutung des Befundes erkennen mul3, urn zu der lebensrettenden Frtihdiagnose beizutragen. Für die Sicherung der Diagnose und die Verlaufskontrolle hat beim C-Zell-Karzinom die Bestimmung des Calcitonins nach Stimulation durch den Pentagastrintest eine besondere Bedeutung erlangt (2, 5, 7). Die dabei gefundenen, basal oder nach Stimulation erhohten Calcitoninwerte korrelieren streng mit dem Auftreten und der Ausdehnung des Tumors und seiner Metastasierung.

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Das Krankheitsbild der Multiplen Endokrinen Neoplasie ist selten. 1961 wurde von Sipple (9) eine Zusam-

menstellung aus der Weitliteratur veröffentlicht, das dem

Die Behandlung des Krankheitsbildes erfolgt prinzipiell interdisziplinar. Anhand der typischen sichtbaren Symptome ist hinsichtlich der Blickdiagnose jede Fachrichtung angesprochen. Leider fuhrte auch die histologische Diagnose der Schieimhautneurinome in dem beschriebenen Fall nicht

Krankheitsbild auch den Namen ,,Sipple-Syndrom" gab. Der Erkrankung liegt em autosomal dominanter Erbgang, vermutlich mit einem Defekt am Chromosom 10 (8) zugrunde, sic tritt aber auch, wie im vorliegenden Fall, sporadisch auf.

zum Erkennen der Grunderkrankung und konnte somit den weiteren schicksaihaften Verlauf nicht verhindem.

Besondere Aufmerksamkeit wurde dem hier beschriebenen Falibeispiel des Typs MEN JIb gewidmet, da anhand einer Blickdiagnose friihzeitig, d. h. vor dem Auftreten eines C-Zell-Karzinoms, die lebensrettende totale Thyreoidektomie durchgefUhrt werden kann (1, 3, 6). Oft treten die Karzinome bereits im Kleinkindesalter auf, z. T. bereits vor dem 3.

Herrn Priv. Doz. Dr. med. F Raue, Abteilung Innere Medizin I, Universität Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. R. Ziegler) danken wir fur die Uberlassung der Krankenunterlagen.

Danksagung

Literatur 1

Lebensjahr (3).

Das mit dem Krankheitsbild verbundene, beidseitig auftretende Phaochromocytom hat eine Inzidenz von bis

2

zu 75% beim Typ MEN ha und wird beim Typ JIb seltener gefunden. Es manifestiert sich bei der MEN JIb meist später als das SchilddrUsenkarzinom. Die damit verbundene Hypertonic

bestimmt die Langzeitprognose, kann jedoch durch entsprechende konservative und operative Therapie (Adrenalektomie)

Norton, J. A., L C. Froome, R. E. Fare/I, S. A. Wells: Multiple

beherrscht werden.

Wie der dargesteilte Fallbericht zeigt, steht das medulläre Schilddrlisenkarzinom im Mittelpunkt von Diagnose,

Therapie und Prognose. Die verspätete Diagnosestellung hat fatale Folgen für den Patienten. Aufgrund der obligaten und in der SchilddrUse multilokuibren Manifestation des Karzinoms besteht die einzige mogliche Therapie in der totalen Thyreoidektomie, jeder verbliebene Rest von Schilddrusengewebe bedeutet die Gefahr der malignen Entartung. Eine Strahientherapie hat keinen EinfluIl auf das Tumorwachstum. Em wirksames Chemotherapieschema ist bislang nicht bekannt.

Mit dem von den C-Zellen produzierten Calcitonin steht für die Diagnostik und Therapie em zuverlässiger Tumormarker zur Verfugung (1, 2, 5, 7). Der einzige sichere biochemische Befund als Hinweis auf diesen Tumor ist eine Serumcalcitoninerhohung> 0,5 ng/ml.

Die Calcitoninbestimmung kann auch zur Lokalisation von Tumorgewebe mit Hilfe der selektiven Venenkatheterisierung eingesetzt werden (5). Als besonders sensibel hat sich der Stimulationstest mit Pentagastrin herausgestelit. Selbst bei normalen Calcitoninwerten im Serum kommt es bei Patienten mit C-ZeIl-Karzinom durch die Stimulation mit Pentagastnfl zu einem 3 his I 0-fachen Anstieg des Calcitoninwertes im Serum.

Da die Menge des zu messenden Calcitonins streng mit der vorhandenen Tumormasse korreliert, steht mit diesem Tumormarker em sehr empfindliches Instrument zur Beurteilung des Behandlungsergebnisses und der Prognose zur Verfügung.

Wie im Fallbericht geschildert, besteht auch nach vielen aufwendigen und für die junge Patientin belastenden operativen Therapien eine Situation, die in Anbetracht noch erhöhter Calcitoninwerte und der vermuteten Metastasen als infaust beurteilt werden mull.

Frank K., F Raue, J. Gottswinter U. Heinrich, H. Meybier R. Ziegler: Importance of early diagnosis and follow-up in multiple endocrine neoplasia (MEN JIb). Eur. J. Pediatr. 143 (1984) 112. Hennessy, J. F, S. A. Wells, D. A. Ontjes et al.: A comparison of pentagastrin injection and calcium infusion as provocative agents for the detection of medullary carcinoma of the thyroid. J. Clin. Endocrinol. Metab. 39 (1974) 487. Jones, B. A., J. C. Sisson: Early diagnosis and thyroidectomy in multiple endocrine neoplasia, type Jib. J. Pediatrics (St. Louis) 102 (1983) 219.

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endocrine neoplasia type JIb, the most aggressive form of medullary thyroid carcinoma. Surg. Clin. North Amer. 59 (1979) 109. Raue, F: Diagnostik des medullären Schilddrusenkarzinoms. Dtsch. med. Wschr. 110 (1985) 1334. Raue, F, G. Kompsch, R. Ziegler: Schleimhautneurinome an Lippen und Zunge. Leitsymptome bei der multiplen endokrinen Neoplasie Typ JIb. Dtsch. Zahnärztl. Z. 41(1986)1000.

Rude, R. K., F R. Singer: Comparison of serum calcitonin levels after a one-minute calcium injection and after pentagastrin injection 8

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néoplasie endocrine multiple (NEM JIb) interht du depistage du cancer médullaire de Ia thyroide. J. Génét. Hum. 37 (1987) 207. Sipple, J. H.: The association of pheochromocytoma with carcinoma of the thyroid gland. Amer. J. Med. 31(1961)163.

Dr med. E. Biesinger Hals-, Nasen-, Ohrenarzt Maxplatz 5 D-8220 Traunstein

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Diskussion

E. Biesingeic E Bootz, B. Weber

[Life saving glance diagnosis in type IIb multiple endocrine neoplasia].

Medullary carcinoma of the thyroid gland is a feature of multiple endocrine neoplasia, type IIb (MEN IIb). The cancer frequently gives rise to metasta...
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