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Multiple Sklerose und Retroviren * R. V o l t z u n d R. Hohlfeld

Die Pathogenese der multiplen Sklerose ist noch unbekannt. In den letzten Monaten ist eine Kontroverse wieder aufgelebt, welche die Rolle von Retroviren bei der multiplen Sklerose betrifft. Anlaß dazu sind zwei vor kurzem in »Science« und in den »Proceedings of the National Academy of ScienCes« veröffentlichte Studien (4, 12), in denen über die Isolierung von DNS-Sequenzen des Retrovirus HTLV-I (humanes T-Zell-lymphotropes Virus I) aus peripheren Blutzellen von Patienten mit multipler Sklerose berichtet wurde. Retroviren sind RNSViren, deren Genom durch eine reverse Transkriptase in DNS umgewandelt und in das normale menschliche Genom als Provirus integriert wird. Seit 1946 sind mehr als 20 verschiedene Viren mit der multiplen Sklerose in Zusammenhang gebracht worden, aber keines dieser Viren konnte als Ursache der multiplen Sklerose gesichert werden (7). Somit ist auch jetzt Skepsis angebracht. Andererseits mehren sich in letzter Zeit die Hinweise darauf, daß Retroviren neurologische Erkrankungen auslösen können.

Bedeutung von Retroviren bei Erkrankungen des Zentralnervensystems Beispiele für gesicherte retrovirale Erkrankungen des Zentralnervensystems sind die AIDS-Demenz (11)und die HTLV-I-assoziierte Myelopathie, die auch als tropische spastische Paraparese bezeichnet wird. Die HTLV-I-assoziierte Myelopathie kann einer multiplen Sklerose klinisch sehr ähnlich sein. Für die Differentialdiagnose zur multiplen Sklerose ist wesentlich, daß die HTLV-I-assoziierte Myelopathie vor allem in Indien, Afrika, Mittelund Südamerika und im Süden Japans vorkommt. Außerdem findet sich im Gegensatz zur multiplen Sklerose bei fast jedem zweiten Patienten mit HTLV-I-asssoziierter Myelopathie eine leichte axonale Polyneuropathie (2). Der Beweis, daß HTLV-I a n

Dtsch. med. Wschr. 115 (1990).432-434 O Georg Thieme Verlag Stuttgart . New York

der Pathogenese dieser Myelopathie beteiligt ist, ergibt sich aus der Summe folgender Indizien: Erstens konnte bei Patienten mit HTLV-I-assoziierter Myelopathie eine intrathekale Produktion von HTLV-I-spezifischen Antikörpern nachgewiesen werden (5). Zweitens wurde das HTLV-I-Virus direkt aus Blut- und Liquorzellen isoliert (6). Schließlich war in 100% der Leukozyten und in rund 30% der Liquorzellen der untersuchten Patienten mit HTLV-I-assoziierter Myelopathie das HTLV-I-Virus als Provirus ins Genom integriert (2).

Mögliche Bedeutung von Retroviren bei der multiplen Sklerose Auch bei der multiplen Sklerose wurde kürzlich über die Isolierung von HTLV-I-ähnlichen DNS-Sequenzen berichtet (4, 12). Zum Nachweis wurde die äußerst empfindliche Polymerase-Kettenreaktion (Polymerase Chain Reaction; 1) verwendet. Mit Hilfe dieser Methode kann eine bekannte DNSSequenz mit einer Länge von rund 100-1000 Nucleotiden exponentiell um bis zu einen Faktor von 101%ermehrt (amplifiziert) werden. Somit kann man mit der Polymerase-Kettenreaktion unter Verwendung von »Primern« (kurzen DNS-Segmenten von etwa 20 Nucleotiden Länge) nach bekannten DNSSequenzen suchen. Durch die starke Amplifikation ist die Empfindlichkeit der Polymerase-Kettenreaktion extrem hoch, was zugleich Vorteil und Nachteil dieser Methode ist. Das Genom der Retroviren besteht aus einem RNS-Einzelstrang (Abbildung 1, oben). Die Virusgene, welche die viralen Proteine kodieren, werden von Regulationssequenzen, den sogenannten »long terminal repeats« flankiert, die eine wichtige Rolle bei der Synthese komplementärer DNS durch

* Mit Unterstützung durch d a s Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ho 762/2-1

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Neurologische Klinik und Poliklinik (Direktor: Prof. Dr. Th. Brandt), Klinikum Großhadern der Universität München, und Abteilung für Neuroimmunologie (Direktor: Prof. Dr. H. Wekcrle), Max-Planck-Institut, Martinsried

Voltz, Hohlfeld: Multiple Sklerose und Retrouiren

DMW1990, 115. Jg., Nr. 11

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Abb. 1 Schematische Ubersicht zum Nachweis LTR

LTR HTLV-I-RNS

reverse Transkriptase

+-----

4

4

PCR

100%

JPCR

die reverse Transkriptase spielen. Die Strukturgene der Retroviren werden als gag, pol und enu bezeichnet (16).gag, pol und enu sind die Teile des retroviralen Genoms, die für das gruppenspezifische Antigen, die viruseigene w y G e r a s e und die ~ % l l e ( g e l o p e ) , kodieren. Reddy und Mitarbeiter (12) benutzten bei der Polymerase-Kettenreaktion Primer für Sequenzen aus den Abschnitten gag und enu des HTLV-I-Genoms. Bei allen sechs untersuchten Patienten mit multipler Sklerose ließen sich diese Sequenzen nicht nur nachweisen (etwas schwächer als bei den Positivkontrollen), sondern auch klonieren und sequenzieren. Die Sequenzanalyse ergab, daß die von den sechs Patienten isolierten Klone untereinander fast identisch waren, sich aber von den bisher bekannten HTLV-I-Sequenzen leicht unterschieden. Nur eine von 20 gesunden KontrollPersonen zeigte eine positive Reaktion. Greenberg und Mitarbeiter (4) verwendeten Primer für Sequenzen der HTLV-I-Gene gag, pol und enu. Alle 35 gesunden Kontrollpersonen waren negativ. Von 21 Patienten mit multipler Sklerose fanden sich bei sechs Sequenzen aus pol. Von diesen sechs Patienten wiesen wiederum drei Sequenzen aus enu auf, aber keiner aus gag (Abbildung 1,unten). Die Wissenschaftler beider Arbeitsgruppen folgerten aus ihren Ergebnissen eine Assoziation, nicht notwendigerweise einen kausalen Zusammenhang, der multiplen Sklerose mit HTLV-I oder einem ähnlichen, bisher unbekannten Retrovirus.

Offene Fragen Diese Schlußfolgerung ist umstritten (17). Erstens gibt es Fragen zu der verwendeten Methode. Mit der Polymerase-Kettenreaktion gewonnene Daten sind häufig von Experiment zu Experiment verschieden (1, 17). Lassen sich dadurch die

PCR

n.g.

JPCR

100%

JPCR

------b integrierte HTLV-I-DNS (Provirus) Reddy et al., 1989 (12) Greenberg et al., 1989 (4)

Unterschiede zwischen den Ergebnissen der beiden Arbeitsgruppen, besonders was die gag-Sequenzen betrifft, erklären? Reddy und Mitarbeiter (12) wiesen ausdrücklich darauf hin, daß die positiven Hybridisierungssignale nur in etwa der Hälfte der Experimente bestätigt werden konnten. Außerdem ist nicht völlig ausgeschlossen, daß die Ansätze durch früher im selben Labor verwendete Retroviren verunreinigt waren. Ein Sequenzvergleich ergab nur minimale Unterschiede zum früher im Labor untersuchten HTLV-I (12). Von Greenberg und Mitarbeitern (4) wurden noch keine Sequenzdaten mitgeteilt. Der zweite Fragenkomplex betrifft die Kontrollen. Der Vergleich der Multiple-SklerosePatienten mit Gesunden erscheint überzeugend. Von Patienten mit multipler Sklerose ist jedoch bekannt, daß es im Rahmen der Erkrankung zu einer »Immundysregulation

[Multiple sclerosis and retroviruses].

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