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Neurologische und psychiatrische Störungen bei der Vinylchlorid-Krankheit K. Podoll. E. Berg-Dammer, J. Noth

Neurological and Psychiatrical Disorders in Vinyl Chloride Disease

Zusammenfassung

A literature review and an own case observation of neurological and psychiatrical disturbances in vinyl chloride disease are presented. In acute vinyl chloride intoxication, patients complain of vertigo, nausea and headache. At higher concentrations, vinyl chloride exerts a narcotic effeet. In patients with chronic occupational exposure, neurological disturbances include sensory-motor polyneuropathy, trigeminal sensory neuropathy, slight pyramidal signs and cerebellar and extrapyramidal motor disorders. Psychiatrie disturbances present as neurasthenie or depressive syndromes. Sleep disorders and disorders of sexual functions are frequently encountered. Pathological EEG alterations can be found in a high proportion of patients. The long term course and prognosis of the neurological and psychiatrical disorders in vinyl chloride disease are obscure. In an own case, a slight sensory polyneuropathy, bilateral hyposmia, a marked neurasthenie syndrome, typical EEG changes and computed tomography signs of cerebral atrophy were found in a 56-years-old patient as late as 16 years after the exposure to vinyl chloride.

Anhand einer Literaturübersicht und eines eigenen Falles werden die bei der Vinylchlorid-Krankheit auftretenden neurologischen und psychiatrischen Störungen dargestellt. Bei der akuten Vinylchlorid-Intoxikation stehen Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen im Vordergrund, bei höheren Konzentrationen tritt eine narkotische Wirkung ein. Bei chronischer beruflicher Exposition sind als neurologische Störungen des peripheren Nervensystems eine sensomotorisehe Polyneuropathie vom axonalen Schädigungstyp, als Hirnnervenstörung eine sensible Neuropathie des Nervus trigeminus und als Störungen des zentralen Nervensystems leichte Pyramidenbahnschädigungszeichen, zerebelläre sowie extrapyramidalmotorische Störungen beschrieben worden. Psychiatrisch können die Patienten ein neurasthenisches Syndrom oder ein Psychosyndrom mit überwiegender depressiver Verstimmung und Antriebsstörung aufweisen. Schlafstörungen und Störungen der Sexualfunktion werden häufig beobachtet. In einem hohen Anteil finden sich pathologische EEG-Veränderungen. Der Langzeitverlauf und die Prognose der neurologisch-psychiatrischen Störungen bei der Vinylchlorid-Krankheit sind bisher noch weitgehend unbekannt. In einem eigenen Fall waren bei einem 56jährigen Patienten noch 16 Jahre nach Expositionsbeendigung eine leichte sensible Polyneuropathie, eine Hyposmie beidseits, ein ausgeprägtes neurasthenisches Beschwerdesyndrom, typische EEG-Veränderungen mit Delta-Parenrhythmie und computertomographische Zeichen einer Hirnatrophie nachweisbar.

In der klinischen Symptomatologie der als Berufskrankheit anerkannten Vinylchlorid-Krankheit lassen sich neben internistischen und dermatologischen Störungen mit Thrombozytopenie, Milz- und Leberschädigungen (darunter das seltene Angiosarkom der Leber), Lungenfunktionsstörungen, Durchblutungsstörungen der Extremitäten bis hin zum Raynaud-Syndrom, Akroosteolyse der Finger und skIerodermieähnlichen Hautveränderungen (3, 17, 29) bei einem beträchtlichen Anteil der Patienten auch neurologische und psychiatrische Störungen nachweisen. Bei der akuten Vinyl-

chlorid-Intoxikation stehen Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen als Beschwerden im Vordergrund (27), bei höheren Konzentrationen des gasförmigen monomeren Vinylchlorids (Ve) tritt eine narkotische Wirkung ein (24). Bei chronischer beruflicher Exposition wurde als häufigste psychiatrische Störung bei der VC-Krankheit ein neurasthenisches Syndrom beschrieben, wobei die Häufigkeit bei VC-exponierten Arbeitern nach den Angaben in der Literatur zwischen 43 % (22) und 71 % (16) liegt. Aus der dafür typischen Beschwerdevielfalt hoben Penin et al. (22) Kopfdruck, Schwindel, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Lustlosigkeit, Reizbarkeit und innere Unruhe, Schwitzen sowie Schlaf- und Appetitstörungen hervor. Schlafstörungen konnten auch durch polygraphische Ableitungen des Nachtschlafs objektiviert werden (9-11). Als Störungen

Fortschr. Neurol. Psychiat. 58 (1990) 439-443 © GeorgThieme Verlag Stuttgart· New York

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Neurologische Klinik mit Klinischer Neurophysiologie, Alfried-Krupp-Krankenhaus Essen

Fortschr. Neuro/. Psychiat 58 (1990)

der Sexualfunktionen wurden bei Männern mit beruflicher VC-Exposition Potenzstörungen (22, 25) und bei Frauen Frigidität - bis hin zur Anorgasmie (20) - beschrieben. Makarov et al. (20) fanden in einer Gruppe von VC-exponierten Frauen reduzierte Blutspiegel der Sexualhormone und der zugeordneten Hormone der hypothalamisch-hypophysären Achse. Mit einer Häufigkeit von 52 '% stellten Penin et al. (22) bei 21 VC-exponierten Arbeitern Störungen mit überwiegend depressiver Verstimmung und Antriebsstörung sowie vereinzelt mit einem herabgesetzten geistigen Leistungsvermögen fest, die als organisches Psychosyndrom klassifiziert wurden. In einer kasuistischen Mitteilung über einen Patienten mit VCKrankheit, der allerdings zusätzlich einen Alkoholabusus aufwies, beschrieben Halama et al. (12) ein Psychosyndrom mit pathologischer Eifersucht. Neurologische Störungen des peripheren Nerven.\}'stems wurden bei VC-exponierten Arbeitern mit einer Häufigkeit zwischen 57"/" (22) und 70'Y.) (23) beschrieben. Klinisch finden sich mehr oder minder symmetrisch oder polytop verteilte Sensibilitätsstörungen, die an den distalen Extremitäten strumpf- oder handschuhförmig bzw. unregelmäßig begrenzt sind (22). Häufig, aber nicht regelmäßig, zeigen sich hierbei klinische Hinweise für Durchblutungsstörungen der Hände und Füße, z. T. mit einem Raynaud-Syndrom (22). Als Beschwerden geben die Patienten kribbelnde wie brennende Parästhesien, Schmerzen, Taubheit, Brennen der Handinnenflächen und Fußsohlen bzw. ein unangenehmes Kältegefühl an Händen und Füßen und einzelnen Fingern oder Zehen an (22). Elektroneurographisch wiesen Perticoni et al. (23) bei 70% von VC-exponierten Arbeitern eine leichte Polyneuropathie vom axonalen Schädigungstyp mit pathologischer Amplitudenreduktion bei unauffälliger Nervenleitgeschwindigkeit nach. Bei der elektromyographischen Untersuchung zeigten diese Patienten pathologische Spontanaktivität mit Faszikulationen (44 %) und florider Denervierungsaktivität (15 %) sowie ein gelichtetes Interferenzmuster. Als Hirnnervenstörung trat nach Langauer-Lewowicka et al. (16) bei 12 % von 200 VCexponierten Arbeitern eine sensible Neuropathie des N. trigeminus auf mit Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet der drei Hautäste des N. trigeminus oder seltener mit zwiebelschalenförmigem zentralen Verteilungstyp. Als neurologische Störungen des zentralen Nen'ensystems wurden bei 26 % der 200 Arbeiter leichte Pyramidenbahnschädigungszeichen mit einseitig oder beidseitig gesteigerten Muskeleigenreflexen und in einem Teil der Fälle mit positivem Babinski- und Rossoli mo-Zeichen, bei 19% zerebelläre Störungen mit leichter oder mäßiger Ataxie der oberen und unteren Extremitäten und pathologischem Romberg-Test sowie bei 1,5 % nicht näher spezifizierte extrapyramidalmotorische Störungen festgestellt (16). Penin et al. (22) untersuchten einen Patienten mit VC-Krankheit, der eine Ataxie, einen typischen FlügelschlagTremor (flapping tremor) und einen horizontalen Nystagmus zeigte. Pathologische EEG- Veränderungen wurden bei VC-exponierten Arbeitern mit einer Häufigkeit zwischen 15 % (14) und 76% (22) festgestellt. Penin et al. (22) beschrieben als pathologische EEG-Befunde oder als Grenzbefunde eine Parenrhythmie mit gruppierten Ausbrüchen verlangsamter rhythmischer Wellen, eine Dysrhythmie oder eine Grundrhythmusverlangsamung. In einem großen Anteil findet sich ein subvi-

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giles EEG mit abgeflachtem Kurvenverlauf und eingestreuten langsamen Wellen (14, 15,22, 26, 28). Während bei nachgewiesener Mutagenität des VC eine karzinogene Wirkung des VC bei dem Angiosarkom der Leber bekannt ist, ließ sich ein gehäuftes Auftreten von Hirntumoren (21) bei VC-exponierten Arbeitern anhand größerer epidemiologischer Untersuchungen bisher nicht sichern (6, 13). In einer Studie von Edmonds et al. (7) konnte kein Zusammenhang zwischen beruflicher VC-Exposition bei den Eltern und der Häufigkeit kongenitaler ZNS-Mißbildungen festgestellt werden. Die Häufigkeit neurologischer Störungen korreliert mit der Dauer der beruflichen VC-Exposition (16, 28). In der Studie von Langauer-Lewowicka et al. (16) fand sich weiterhin eine Korrelation zwischen dem Vorliegen neurologischer Störungen und der anamnestischen Angabe euphorischer oder narkotischer Zustände während der beruflichen VC-Exposition, was als Indikator für episodische Expositionen mit höheren Konzentrationen von VC aufgefaßt wurde. Der Verlauf und die Prognose der VC-Krankhcit sind klinisch nur unvollständig dokumentiert. Bei den in der Literatur berichteten Patienten traten neurologisch-psychiatrische Störungen nach einer Expositionsdauer von 1,5- 3 Jahren mit allmählichem Beginn und - bei fortgesetzter VC-Exposition chronisch-progredientem Verlauf auf. Der Langzeitverlauf der neurologisch-psychiatrischen Störungen bei der VCKrankheit ist bisher noch weitgehend unbekannt. In der vorliegenden Arbeit berichten wir über den Fall eines Patienten mit VC-Krankheit, bei dem noch 16 Jahre nach Beendigung der beruflichen VC-Exposition neurologische und psychiatrische Störungen, typische EEG-Veränderungen und computertomographische Zeichen einer Hirnatrophie nachweisbar waren. Fallbeschreibung

Anamnese Der 56jährige Patient war im März 1969 im Alter von 37 Jahren in einen PVCherstellenden Betrieb eingetreten, in dem er in den folgenden 3 1/2 Jahren bis September 1972 tätig war. Zu den Arbeiten gehörte das Bedienen und Reinigen der Autoklaven, wobei nach arbeitsmedizinischen Ermilllungen eine durchschnillliche Verweildauer im Autoklaven von 25- 30 Stunden im Monat vorlag. Messungen der millIeren Arbeitsplatzkonzentration von VC wurden zum damaligen Zeitpunkt nicht vorgenommen; nach Angabe des Patienten, daß er mehrfach täglich den Geruch des gasförmigen VC wahrnehmen konnte, ist von einem häufigen Überschreiten der Geruchsschwelle von 4.000-6.000 cm'/m ' auszugehen. Der Patient berichtete, daß während der Arbeit mehrfach pro Woche Intoxikalionscrscheinungen mit einem Rauschgefühl bestanden hallen. Bei dem Patienten, bei dem keine internistischen oder neurologisch-psychiatrischen Vorerkrankungen bekannt waren, traten etwa I 1/2 Jahre nach Aufnahme der Arbeit in der PVC-Herstellung seit September 1970 als typische Erstsymptome der VC-Krankheit eine vermehrte Kältempfindlichkeit, Kribbelparästhesien und Schmerzen an Händen und Füßen, Oberbauchbeschwerden sowie Allgemeinbeschwerden mit starker Müdigkeit. Verlangsamung und Vergeßlichkeit, Schwindelgefühl und einem chronischen Kopf~ schmerzsyndrom im Sinne eines Spannungskopfschmerzes auf. Bei der DiagnosesteIlung im September 1972 konnten inlani.l'lisch ein Raynaud-Syndrom, sklerodermiearlige knotige Hautveränderungen im Bereich der Fingerstreckseiten und der Processus styloidei ulnae, eine Thrombozytopenie (I I I.OOO/Illl, einc Splenomegalie und eine Leberschädigung nachgewiesen werden. Röntgenologisch zeigte sich

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Abb. 1 Delta-Parenrhythmie in einem EEG vom Alpha-Typ bei einem 56jährigen Patienten mit VC-Krankheit (Zeitkonstante 0,3 5, obere Grenzfrequenz 70 Hz)

2 3 4

5 6

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ein gering reduzierter Kalksalzgehalt der Fingerknochen. eine geringgradige Arthrosis deformans einzelner Fingerend- und Mittelgelenke sowie eine Osteoporose der gelenknahen Knochenabschnitte der Sprunggelenke und der Füße. Die angegebenen Allgemeinstörungen blieben nach Beendigung der beruflichen Exposition mit VC in wechselnder. aber insgesamt unveränderter Intensität bestehen und auch die klinische Symptomatik des Raynaud-Syndroms war im weiteren Verlauf unveriindert nachweisbar. Die darüber hinaus auf internistischem Gebiet vorliegenden Symptome zeigten dagegen eine weitgehende Rückbildung. Bei psychiatrischclI Explorationen war der Patient nach übereinstimmendem Urteil mehrerer Untersucher seit 1973 als "weitschweifig" und "umständlich" ... nervös" und .. vegetativ stigmatisiert" beschrieben worden. Aufgrund des klinischen Befundes einer depressiven Verstimmung und psychomotorischen Verlangsamung mit psychometrisch nachweisbarer leichter Einschränkung des Au!: f~lssungs- und Konzentrationsvermögens wurde 19X2 das Vorliegen eines .. hirnorganischen Psychosyndroms" diagnostiziert. Im IIcumlogischclI Befund wurde seit 1975 eine Pali hypästhesie der unteren Extremitäten beschrieben. die bei unauffiilliger Elektroneurographie einer beginnenden sensiblen Polyneuropathie zugeordnet wurde. Darüber hinaus wurde seit 19X6 in den ärztlichen U ntersuehungsbefunden eine Hyposmie beidseits verzeichnet. die dem Patienten selbst erst dadurch aufgefallen war. daß er unangenehme. seine Mitmenschen stark belästigende Gerüche kaum wahrnahm. ElektmclI::.cplllllographisch fanden sich seit der Erstuntersuchung 1972 pathologische Veriinderungen mit leichter Grundrhythmusverlangsamung (X-X.5 Hz) und einer mäßigen. bifronto-präzentro-temporal betonten paroxysmalen Dysrhythmie mit Maximum links und Zunahme bei Hyperventilation. wobei das Ausmaß der Dysrhythmie bei mehrfachen Kontrollen bis 19X2 leicht progredient war. Eine 19X2 durchgeführte COIllPII{crtolllographic eles Schiield, zeigte eine leichte Hirnatrophie.

Vn {ersuch ungsheflinde Bei der illlCl'llis{ischclI Untersuchung des jetzt 56jährigen Patienten in gutem Allgemeinzustand fand sich neben einem durch Kälteexposition auszulösenden Raynaud-Syndrom an den oberen und unteren Extremitäten. das als internistische Symptomatik von seiten der VC-Krankheit verblieben war. ein gering ausgeprägtes Lungenemphysem und eine Adenomyomatose der Prostata. Bei den labordiagnostischen Untersuchungen zeigten sich bis auf eine leichte Erhöhung des Bilirubinwertes (1.3 mg/dl) keine Abweichungen. Leber und Milz stellten sich sonographisch unaufTällig dar. Der Röntgenbefund beider Hände war altersentsprechend unauffällig. Bei der Oszillographie der oberen und unteren Extremitäten und der DoppIersonographie der extrakraniellen hirnversorgenden Arterien ergaben sich Normalbefunde.

Ncurologisch !~lI1d sich (bei unaumilligem IINOiirztlichen Befund) eine Hyposmie beidseits. bei der (ieruehsproben mit einer für die klinische Prüfung üblichen Reizintensitiit nicht wahrgenommen wurden und nur sehr intensive Geruchsreize bemerkt. aber nicht identifiziert wurden. Trigeminusreizstoffe wurden prompt wahrgenommen. Der Hirnnervenstatus war sonst unaulTällig. Trophik. Kraft und TOlllls der Muskulatur waren unaumillig. Die Muskeleigemeflexe waren seitengleich mittellebhaft. es fanden sich keine Pyramidenbahnzeichen. Die Koordinationsprüfungen wurden sicher ausgeführt. insbesondere ergab sich kein Hinweis für /l'I'ebeibre Störungell. Bei sonst ungestörter Sensibilitiit fand sich als Zeichen ei)ler leichten sensiblen Polyneuropathie eine distal betonte Pallhypiisthesie beider Füße (4- 5/X). während motorische und sensible f,'lek tmII

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A literature review and an own case observation of neurological and psychiatrical disturbances in vinyl chloride disease are presented. In acute vinyl...
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