Arzneimitteltherapie Internist 2014 · 55:93–102 DOI 10.1007/s00108-013-3409-2 Online publiziert: 9. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Redaktion

M. Wehling, Mannheim

H.K. Berthold Klinik für Innere Medizin und Geriatrie, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld

Neue orale Antikoagulanzien Wer braucht sie wirklich?

Ein Mann sucht unter einer Straßenlaterne seinen Schlüssel. Ein Polizist hilft ihm bei der Suche. Als der Polizist nach langem Suchen wissen will, ob der Mann sicher sei, den Schlüssel hier verloren zu haben, antwortet jener: „Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.“

die neuen Wirkstoffe wirklich brauchen. Besondere Berücksichtigung finden dabei Aspekte der Therapietreue, grundlegende klinisch-pharmakologische Überlegungen zur Wirkkinetik der Substanzgruppen sowie die wechselseitige Beeinflussung dieser beiden Parameter.

Paul Watzlawick demonstriert mit dieser Geschichte, wie man sein Unglück steigern kann, indem man sein untaugliches Bemühen verdoppelt. An diese Geschichte bin ich erinnert, wenn die Befürworter der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAC) es als Vorteil herausstellen, dass bei diesen Wirkstoffen keine Gerinnungskontrollen benötigt werden. An der falschen Stelle zu suchen und damit nicht wirklich zu suchen, wie der Mann unter der Laterne, heißt Tatsachen zu ignorieren. Das ist in der Medizin selten ein guter Rat. Wer die Gerinnung unter oraler Antikoagulation nicht kontrolliert (und auch gar nicht kontrollieren kann!), soll sich vermeintlich über das Ausmaß der Gerinnungshemmung auch keine Gedanken machen müssen. Die NOAC sollen eine größere therapeutische Breite als die klassischen Vitamin-K-Antagonisten (VKA) haben, es bleibt aber unklar, an welchen Parametern diese Aussage festgemacht wird. Dass aber NOAC, ebenso wie VKA, über- oder unterdosiert sein können, wird niemand bestreiten. Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Frage, welches die belegten Vorteile der NOAC bei der Schlaganfallprävention und welches irreführende Interpretationen von Daten sind. Zudem versucht er zu definieren, welche Patienten

Vorhofflimmern und orale Antikoagulation Das Vorhofflimmern ist eine typische Erkrankung des höheren Lebensalters. Bei unter 60-Jährigen beträgt die Prävalenz etwa 1%, im Alter >80 Jahre dagegen >9%. Die altersadjustierte 2-Jahres-Inzidenz für einen Schlaganfall ist bei diesen Patienten etwa 3- bis 5-mal höher als bei Menschen im Sinusrhythmus. Leitlinien empfehlen beim nichtvalvulären Vorhofflimmern die Prävention von kardioembolischen Komplikationen mit oralen Antikoagulanzien [1]. Seit einigen Jahrzehnten ist die orale Antikoagulation mit VKA aus der Gruppe der Kumarine (Phenprocoumon, Warfarin) in Gebrauch. Durch ihren Einsatz kann das Schlaganfallrisiko etwa halbiert werden [2, 3, 4]. Unstrittig besteht generell eine Untertherapie mit oralen Antikoagulanzien, auch wenn neuerlich aus der Anwendung des CHA2DS2-VASc-Scores im Vergleich zum alten CHADS2-Score eine Indikationsausweitung resultiert. D Die Handhabung der

Vitamin-K-Antagonisten ist bekanntermaßen nicht einfach. Die Untertherapie kann auch durch die Sorge um ihre Nebenwirkungen und

durch den aufwendigen und schwierigen Umgang mit ihnen erklärt werden. Welchen Anteil an einer unzureichenden Einstellung der Faktor „Benutzer“ (Arzt, Patient) und welchen der Faktor „Wirkstoff “ (pharmakodynamische und pharmakokinetische Eigenschaften) hat, ist im Einzelfall schwer zu messen. Die Güte der Einstellung mit oralen Antikoagulanzien wird meist mit dem prozentualen Anteil der Zeit beschrieben, in dem die International Normalized Ratio (INR) innerhalb des gewünschten Zielbereichs liegt [“time in therapeutic range“ (TTR)]. Dieser Parameter ist die Resultante von Dosis, Dosierungsschema, Arzneimittelund Nahrungsmittelinteraktionen, genetischen und anderen individuellen Faktoren sowie Therapietreue. Welcher der genannten Faktoren auf die Güte der Einstellung im Einzelfall den größten Einfluss hat, kann selten genau bestimmt werden. Es gibt jedoch Gründe, anzunehmen, dass der Nonadhärenz die größte Bedeutung zukommt. Deshalb wird zu diskutieren sein, wie sich eine gegebene Nonadhärenz bei VKA bzw. NOAC auswirkt.

Neue orale Antikoagulanzien Mit den NOAC stehen erstmals Alternativen für die Schlaganfallprävention zur Verfügung. Sie unterscheiden sich pharmakologisch wesentlich von den VKA und stellen eine bedeutende Weiterentwicklung der Möglichkeiten zur oralen Antikoagulation dar. In den neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) wird bereits jetzt eine Bevorzugung der NOAC gegenüber VKA empfohDer Internist 1 · 2014 

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Arzneimitteltherapie Tab. 1  Pharmakokinetische Eigenschaften der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAC)   Dosierung im Rahmen der Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern (mg) Dosierung im Rahmen der Thromboembolieprävention bei Knie- und Hüftgelenksersatzb (mg) Bioverfügbarkeit (%) Zeit der maximalen Plasmakonzentration (h) Halbwertszeit (h) Proteinbindung (%) Anteil der renalen Elimination (%)

Interaktion mit P-Glykoprotein-Transporterc Interaktion mit CYP3A4d

Dabigatran (Pradaxa®) 2-mal 150 (110)a 1-mal 220

Rivaroxaban (Xarelto®) 1-mal 20

Apixaban (Eliquis®) 2-mal 5 (2,5)a

1-mal 10–30

2-mal 2,5

6,5 2 14–17 35 >85

>80 2–4 5–13 92–95 65 (je zur Hälfte unverändert und als Metabolit) + +

>50 1–3 9–14 87 27

++ −

+ +

a Dosisreduktion u. a. bei Alter >80 Jahre, eingeschränkter Nierenfunktion, niedrigem Körpergewicht, verschie-

denen Komedikationen. b Rivaroxaban ist auch für die Behandlung tiefer Beinvenenthrombosen und Lungenembolien sowie für die Prävention von Rezidiven dieser Erkrankungen zugelassen.c P-Glykoprotein-Inhibitoren (z. B. Amiodaron, Diltiazem, Nifedipin, Verapamil, Azolantimykotika, Clarithromycin, Erythromycin) erhöhen die Plasmakonzentration und damit die Blutungsneigung. P-Glykoprotein-Induktoren (z. B. Johanniskraut, Phenytoin, Rifampicin) führen zur Wirkabschwächung.d CYP3A4-Inhibitoren (z. B. Amiodaron, Cimetidin, Clarithromycin, Erythromycin, Diltiazem, Azolantimykotika, Grapefruitsaft, HIV-Protease-Inhibitoren, Valproat, Verapamil) erhöhen die Plasmakonzentration und damit die Blutungsneigung. CYP3A4-Induktoren (z. B. Carbamazepin, Johanniskraut, Phenytoin, Rifampicin) führen zur Wirkabschwächung.

len, während andere Leitlinien zurückhaltender sind. Die verfügbaren NOAC wirken über eine direkte Thrombinhemmung (Dabigatran) bzw. eine reversible Hemmung des Faktors Xa (Rivaroxaban, Apixaban). Für diese Wirkstoffe wurde in großen randomisierten klinischen Studien die Nichtunterlegenheit gegenüber Warfarin bewiesen [5, 6, 7, 8]. Dabei wurde für Dabigatran in der höheren Dosierung sowie für Apixaban eine Verminderung von Insulten oder Embolien gezeigt, während Dabigatran in der niedrigeren Dosierung sowie Rivaroxaban in Bezug auf diesen Endpunkt neutral waren. Die Häufigkeit schwerer Blutungen wurde durch Dabigatran in niedrigerer Dosierung sowie durch Apixaban vermindert, während Dabigatran in der höheren Dosierung sowie Rivaroxaban neutral waren. Die Verbesserung hinsichtlich der Endpunkte war in allen Studien zwar signifikant, aber in den Effektgrößen marginal. Aus Post-hocAnalysen wurden in verschiedener Hinsicht auch statistisch signifikante Überlegenheiten abgeleitet, obgleich alle Studien als Nichtunterlegenheitsstudien angelegt waren. In allen Zulassungsstudien waren alte und sehr alte sowie geriatrische Pa-

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Der Internist 1 · 2014

tienten unterrepräsentiert. Folglich ist die Erfahrung in diesen wichtigen Patientengruppen bisher gering [9].

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In allen Zulassungsstudien waren alte und sehr alte Patienten unterrepräsentiert Die neuen Wirkstoffe verteuern die Tages­ therapiekosten beträchtlich. Eine „number needed to treat“ (NNT) von 167 bei Dabigatran beispielsweise bewirkt Mehrkosten in Höhe von >200.000 € zur Verhinderung eines Ereignisses [9]. Kosten-Nutzen-Analysen aus anderen Gesundheitssystemen geben Hinweise, dass die Gesamttherapie günstiger wird, diese Daten liegen jedoch für Deutschland nicht vor. Die Verordnungszahlen der NOAC steigen stark an, was auch auf eine einfachere Handhabung, eine größere Sicherheit und geringere Wechselwirkungen zurückgeführt wird. Ein aggressives Marketing wie auch die frühe Aufnahme in die Empfehlungen der ESC haben ebenfalls zu einer rasch ansteigenden Verbreitung geführt. Ärzte wie auch Patienten könnten verleitet sein, allein aufgrund der nicht

notwendigen Laborkontrollen eine Entscheidung zugunsten der NOAC zu treffen. Die pharmakokinetischen Kenndaten der NOAC Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban finden sich in . Tab. 1. Alle drei Substanzen erreichen nach 2–4 h ihre maximalen Plasmakonzentrationen und haben Plasmahalbwertszeiten (Plasma-HWZ) von etwa 10–15 h. In den übrigen pharmakokinetischen Daten unterscheiden sie sich jedoch teilweise deutlich voneinander. Die Therapie erfolgt, im Gegensatz zu den VKA, mit fixen Dosierungsschemata. Besonderes Augenmerk in der Therapie gilt einer verminderten Nierenfunktion, insbesondere bei Dabigatran. Die Ausscheidung der Wirkstoffe erfolgt bei Dabigatran zu 80% renal, bei Rivaroxaban zu 65% und bei Apixaban zu 25–40%. Es ist richtig, dass NOAC im Vergleich zu VKA weniger Arzneimittelinteraktionen unterliegen, weil sie in geringerem Maße über das CytochromP450(CYP)-System metabolisiert werden. Dennoch zeigen alle drei Wirkstoffe wichtige und klinisch relevante Arzneimittelinteraktionen, die zwingend beachtet werden müssen, neben CYP teilweise auch über das P-Glykoprotein. Nahrungsmittelinteraktionen gibt es bei den NOAC im Vergleich zu VKA dagegen deutlich weniger.

Laborparameter zur Bestimmung der Antikoagulation und Antidote Bislang fehlen sensitive und spezifische Schnelltests für den Nachweis einer wirksamen Antikoagulation unter NOAC. Die Wirkung bzw. der Zusammenhang zwischen Plasmakonzentrationen und Wirkung sind schwierig zu bestimmen. Die INR ist dazu nicht geeignet. Mit dem neuen Anti-Faktor-Xa-Test lassen sich sowohl Spitzenspiegel als auch geringe antikoagulatorisch wirksame Rivaroxaban- oder Apixaban-Spiegel nachweisen. Normalwerte bei diesem Test schließen blutungserhöhende Plasmaspiegel mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Bei Dabigatran lassen sich mithilfe der Ecarinzeit, der Thrombinzeit und dem Hemoclot®-Test auch geringe antikoagulatorische Effekte nachweisen. Normalwerte

Zusammenfassung · Abstract schließen ebenfalls blutungserhöhende Wirkungen aus. Die Frage nach der Indikation einer Thrombolyse bei einem Patienten, der mit NOAC behandelt wird, stellt eine neue Herausforderung in der Rettungsstelle oder Stroke Unit dar. Unter Zuhilfenahme der genannten Parameter kann über eine Thrombolyse entschieden werden. Die Erfahrung mit Patienten, die unter NOAC ein zerebrovaskuläres Ereignis erleiden, ist aber noch gering. Die wichtigsten Informationen bei der Interpretation der Messwerte, nämlich Zeitpunkt und Dosis der letzten Einnahme, fehlen häufig und spielen, im Gegensatz zur Interpretation der Gerinnungswerte bei VKA, eine wesentliche Rolle.

Internist 2014 · 55:93–102  DOI 10.1007/s00108-013-3409-2 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 H.K. Berthold

Neue orale Antikoagulanzien. Wer braucht sie wirklich? Zusammenfassung Mit den neuen oralen Antikoagulanzien (NOAC) steht eine Alternative zu klassischen Vitamin-K-Antagonisten (VKA) zur Schlaganfallprävention bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern zur Verfügung. In randomisierten Studien wurden im Vergleich zu Warfarin signifikante Verbesserungen bei klinischen Endpunkten dokumentiert, die allerdings insgesamt geringe Effektgrößen hatten. In Studienzentren mit ohnehin gutem Antikoagulationsmanagement war die Überlegenheit kaum nachweisbar. Die Effektivität einer Therapie mit oralen Antikoagulanzien hängt wesentlich von der individuellen Adhärenz ab. NOAC bringen zahlreiche Eigenschaften mit

sich, die eine schlechtere Adhärenz bewirken könnten. Dazu zählen u. a. die mehr als 1-mal pro Tag erforderliche Einnahme einiger der verwendeten Substanzen sowie der Wegfall der Gerinnungsmessungen, die als eher adhärenzfördernd anzusehen wären. VKA sind aufgrund ihrer langen Wirkhalbwertszeiten möglicherweise besser geeignet, eine schlechte Adhärenz auszugleichen. Schlüsselwörter Vitamin-K-Antagonisten · Antikoagulation · Vorhofflimmern · Schlaganfallprophylaxe · Adhärenz

D Praxistaugliche Antidote gegen

die Wirkung neuer oraler Antikoagulanzien fehlen. Die Suche nach Agenzien, welche die Wirkung der NOAC aufheben, ist im Gange. Kleine Studien an Probanden haben gezeigt, dass Prothrombinkomplexkonzen­ trate bei Faktor-Xa-Inhibitoren wirksam sind. Sie fördern die Bildung von Thrombin und setzen damit an der naheliegendsten Endstrecke an. Es ist unwahrscheinlich, dass man rigoros designte, placebokontrollierte Studien zu Antidoten, insbesondere an Patienten mit Blutungen, durchführen wird.

Steuerbarkeit der Therapie Das Marketing stellt heraus, dass mit den NOAC nach Therapiebeginn sehr schnell eine therapeutische Wirkung erreicht wird, die nach dem Absetzen auch schnell verschwindet. Eine „gute Steuerbarkeit“ wird häufig als Vorteil einer Antikoagulation dargestellt. Die beste Steuerbarkeit gewährleisten Heparine, die aber für eine Langzeittherapie nicht infrage kommen. Eine gute Steuerbarkeit, d. h. eine kurze Wirk-HWZ einer Einzeldosis im Steady State, ist jedoch aufwendig und umgekehrt proportional zu einer gleichmäßigen Wirkung, die in der oralen Langzeittherapie aber erwünscht ist. Gut „steuerbare“ Arzneimittel haben in der Regel eine höhere Empfindlichkeit gegenüber Unregelmäßigkeiten in der Einnahme. In den

New oral anticoagulants. Who really needs them? Abstract The new oral anticoagulants (NOAC) are alternative drugs to classical vitamin K antagonists (VKA) for stroke prevention in patients with nonvalvular atrial fibrillation. They have been shown in randomized trials to be superior to warfarin in reducing clinical endpoints, although at rather small effect sizes. However, in study centers with good anticoagulation management their superiority was barely significant. The effectiveness of anticoagulation therapy is crucially dependent on individual drug adherence. NOAC potentially decrease adherence due to several reasons,

meisten klinischen Situationen ist eine gute Steuerbarkeit gar nicht vonnöten – was nicht bedeutet, dass im Bedarfsfall richtig gesteuert werden muss, z. B. durch Antidote oder Bridging.

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Gut „steuerbare“ Arzneimittel reagieren meist empfindlicher auf eine unregelmäßige Einnahme Die weltweit gebräuchlichsten Kumarinderivate sind Warfarin, v. a. in den USA und Japan, sowie Phenprocoumon, v. a. in Europa. Sie ähneln sich in ihrer chemischen Struktur, weisen aber bedeutende pharmakokinetische Unterschiede auf. Die Eliminations-HWZ von Warfarin liegt bei 36–42 h, die von Phenprocoumon dagegen wegen dessen ausgeprägter

among them the twice-daily dosing requirement in some of them and the nonnecessity for anticoagulation monitoring. Anticoagulation monitoring is assumed to increase adherence per se. VKA are potentially better suitable to compensate for low adherence due to their long half-lives. Keywords Vitamin K antagonists · Anticoagulation · Atrial fibrillation · Prevention, stroke · Patient adherence

Lipidlöslichkeit bei etwa 150 h (mit einer interindividuellen Streuung von 80–270 h im Steady State). Die Wirk-HWZ der Kumarinderivate wird durch die HWZ der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsproteine (Faktoren II, VII, IX, X) und durch die Kinetik der Substanzen selbst bestimmt. Die Faktoren II, IX und X haben eine HWZ von 3–4 Tagen, während die HWZ des Faktors VII nur wenige Stunden beträgt. Die Latenzzeit bis zum Wirkeintritt ist insbesondere von der HWZ der Gerinnungsfaktoren abhängig; insofern unterscheiden sich Warfarin und Phenprocoumon kaum bei der „Aufdosierung“. Die Zeit bis zur Normalisierung der Gerinnung bei Absetzen der Behandlung ist jedoch eher von den pharmakokinetischen Eigenschaften abhängig. Bei WarfaDer Internist 1 · 2014 

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Arzneimitteltherapie rin sind es meist 4–6 Tage, bei Phenprocoumon jedoch 7–14 Tage. Diese Eigenschaften könnten bei Vorliegen einer akuten Blutung unter Warfarin von Vorteil sein, die Wirkung von Phenprocoumon ist jedoch im Normalfall stabiler und resistenter gegen Einnahmefehler. Zu einer Zeit, als Prothrombinkonzentrate noch nicht allgemein verfügbar waren, könnte die Behandlung mit kürzer wirksamen VKA im Notfall von Vorteil gewesen sein. Studien, die Phenprocoumon mit dem ebenfalls kürzer wirksamen Acenocoumarol verglichen, zeigten aber, dass Patienten unter Phenprocoumon in der stabilen Situation häufiger im therapeutischen Bereich waren, weniger Gerinnungskontrollen benötigten und insgesamt besser eingestellt waren [10, 11]. Aufgrund der üblichen länderspezifischen Verwendung von Warfarin und Phenprocoumon und der entsprechenden Bedeutung der Absatzmärkte wurde in den zulassungsrelevanten Studien der NOAC gegen Warfarin getestet. Es ist nicht zu erwarten, dass größere Studien gegen Phenprocoumon durchgeführt werden. Aus den o. g. Gründen gibt es aber Argumente, anzunehmen, dass die positiven Wirkungen der NOAC in Vergleichsstudien mit Warfarin überschätzt werden. Phenprocoumon ist wahrscheinlich in der stabilen Situation im Vergleich zu Warfarin der bessere VKA, auch bedingt durch dessen Problematik bei bestimmten genetischen Dispositionen im Arzneimittelmetabolismus. Hinsichtlich der Wirkkinetik ist wichtig, zu betonen, dass bei allen NOAC die antikoagulatorische Wirkung bereits nach einer ausgelassenen Dosis deutlich schwächer und bei 2–3 oder mehr ausgelassenen Dosen vollständig aufgehoben ist.

Therapietreue (Adhärenz, Compliance) Die Adhärenz ist aufgrund der beschriebenen Zusammenhänge der Wirkkinetik von zentraler Bedeutung für die Wirksamkeit oraler Antikoagulanzien und damit auch für deren Einfluss auf patientenrelevante Endpunkte. Wer würde die Wirksamkeit von Schmerzmitteln bezweifeln, wenn sie nicht nachweislich in der richtigen Dosierung und mit dem richti-

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Der Internist 1 · 2014

gen Dosierintervall angewendet werden? Bei chronischen Erkrankungen und ihren Dauermedikationen liegt die Adhärenz üblicherweise bei 50–60% der einzunehmenden Dosen. Die Wahrscheinlichkeit des Auslassens einer Dosis steigt mit der Anzahl verordneter Wirkstoffe und der Zahl der täglichen Einnahmezeitpunkte. Dabei spielt auch eine wichtige Rolle, ob das Arzneimittel eine unmittelbar oder kurzfristig für den Patienten wahrnehmbare Wirkung hat bzw. das Weglassen der Medikation eine Rückkehr der Symptome zur Folge hätte, wie z. B. bei Antianginosa, Herzinsuffizienzmitteln, Analgetika und Laxanzien, oder ob es in die Gruppe der prognoseverbessernden Arzneimittel einzuordnen ist, wie etwa Lipidsenker, Bisphosphonate und Thrombozytenaggregationshemmer. Selbstverständlich gibt es zwischen den symptomatisch wirksamen und den prognoseverbessernden Arzneimitteln Überschneidungen. So zählen Angiotensin-convertingenzyme(ACE)-Hemmer zu den prognoseverbessernden Arzneimitteln, können aber auch direkt wahrnehmbare Effekte auf eine Herzinsuffizienz oder den Blutdruck haben.

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Die Wahrscheinlichkeit des Auslassens einer Dosis steigt mit der Zahl täglicher Einnahmezeitpunkte Bei zahlreichen Arzneimitteln ist die prognoseverbessernde Wirkung durch Surrogatparameter bestimmbar, so z. B. durch Lipide, HbA1c, Blutdruck und INR. Wenn der Patient oder Arzt die entsprechenden Surrogatparameter misst, kann dies einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Therapietreue haben. (Es ist auch durchaus statthaft, im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung von einer „Kontrolle“ zu sprechen.) Als Beispiel für die Wichtigkeit gemessener Surrogatparameter sei die Diskussion um die hausärztliche Strategie bei Lipidsenkern genannt („fire and forget“); die Kenntnis darüber, ob ein Lipidsenker tatsächlich genommen wird, kann für Arzt und Patient eine wesentliche Größe in der langfristigen Therapieplanung sein und die Adhärenz und damit die Prognose verbessern. Herttua et al. [12]

haben kürzlich eindrucksvoll belegt, dass Patienten mit Hypertonie bei verminderter Adhärenz im Vergleich zu adhärenten Patienten nach 2 Jahren ein 4-fach und nach 10 Jahren ein 3-fach erhöhtes Risiko haben, einen tödlichen Schlaganfall zu erleiden. Die finnischen Forscher konnten sogar eine „Dosisabhängigkeit“ zwischen Nonadhärenz und Schlaganfallrisiko dokumentieren. Arzneimittel, deren Wirkung der Patient nicht direkt spürt, haben nach einer Therapiedauer von einem Jahr eine Adhärenz von etwa 50%; ein Beispiel hierfür sind Antihypertensiva. Falls die Arzneimittel schlecht verträglich oder mit Nebenwirkungen behaftet sind, wie beispielsweise Diuretika, kann sie noch deutlich darunter liegen (bis 20%). Ähnliches kann auf orale Antikoagulanzien allgemein (Phenprocoumon) und speziell auf subjektiv schlecht verträgliche Wirkstoffe wie Dabigatran, das häufig gastrointestinale unerwünschte Arzneimittelwirkungen verursacht, zutreffen. Im letzteren Fall werden die Beschwerden wahrscheinlich durch die galenische Zubereitung verursacht, die zur besseren Resorption eine azidische Mikroumgebung bewirkt. Darüber hinaus werden zur Behandlung dieser Beschwerden Protonenpumpenhemmer eingesetzt (vermutlich auch im Off-and-on-Modus oder in Selbstmedikation), die ihrerseits zu relevanten Arzneimittelinteraktionen und damit Wirkschwankungen führen. Alle Umstände, die zu einer Störung von Steady-State-Bedingungen einer Antikoagulation führen, sind ungünstig. D Vitamin-K-Antagonisten werden

1-mal täglich eingenommen. Zwei der drei verwendeten NOAC müssen 2-mal täglich genommen werden; ob auch bei dem dritten eine 2-mal tägliche Gabe sinnvoll wäre, sei dahingestellt. Bei Herz-Kreislauf-Medikationen ist jedes Therapieschema, das von der täglichen Einmalgabe abweicht, als ungünstig im Sinne der Adhärenz zu bezeichnen. Dies ist durch die Entwicklung der zahlreichen entsprechenden Wirkstoffe für die Indikationen koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz, Thrombozytenaggregationshemmung und teilweise auch im

Infobox 1  Wesentliche allgemeine Prädiktoren einer schlechten Arzneimitteladhärenz. (Nach [15]) F Psychische Probleme (insbesondere Depression)

F Kognitive Beeinträchtigung F Behandlung einer asymptomatischen Erkrankung

F Inadäquates Follow-up oder unzureichende Entlassungsplanung

F Unerwünschte Arzneimittelwirkungen F Fehlendes Vertrauen des Patienten in die Vorteile der Behandlung

F Fehlendes Verständnis des Patienten für die Art der Erkrankung

F Fehlender Zugang zu Versorgungsstrukturen und/oder Medikamenten

F Nicht wahrgenommene Arzt-PatientenKontakte

F Komplexitätsgrad der Behandlung F Kosten der Medikation, Zuzahlungen oder beides

Diabetesbereich überzeugend belegt worden. Bereits Eisen et al. [13] haben in einer kleinen Studie gefolgert, dass die wichtigste Einzelmaßnahme zur Adhärenzförderung die Reduktion der Anzahl täglicher Arzneimittelgaben ist. In einem systematischen Review von Arbeiten, welche die Adhärenz mit elektronischen Mitteln erfasst hatten, wurde eine inverse Beziehung zwischen der Anzahl täglicher Einnahmezeitpunkte und der Adhärenz festgestellt [14]. Bei 1-mal täglicher Gabe betrug die Adhärenz 79%, bei 2-, 3- bzw. 4-mal täglicher Gabe 69%, 65% bzw. 51%. Osterberg et al. [15] haben allgemeingültige Prädiktoren für eine schlechte Adhärenz erarbeitet. Diese sind in . Infobox 1 zusammengestellt. Es zeigt sich, dass von den genannten Prädiktoren viele gerade auf die Therapie mit oralen Antikoagulanzien zutreffen, da insbesondere die große Gruppe der Patienten nach Schlaganfall zahlreiche dieser Eigenschaften aufweist. Einige der Parameter treten zudem bei den NOAC eher in Erscheinung als bei den VKA. D Die Nonadhärenz kann man in

intentionale und nichtintentionale Formen unterteilen. Von den beschriebenen und mit elek­ tronischen Mitteln gemessenen Nonadä-

renztypen ist das vollständige Auslassen einzelner Dosen der häufigste Typus [16, 17]. Die nichtintentionale Variante dieser Nonadhärenz ist ein passiver Prozess, bei dem der Patient sorglos bzw. vergesslich von dem vorgegebenen Einnahmeschema abweicht und damit das Dosierintervall verdoppelt oder vervielfacht. Der Prozess kommt auch bei den gewissenhaftesten Patienten vor und ist quasi unvermeidbar. Die intentionale Variante dieser Nonadhärenz hat pharmakologisch dieselben Auswirkungen. Entscheidend dafür, ob das Auslassen einer Dosis eine nachteilige Auswirkung hat, sind die pharmakokinetisch-pharmakodynamischen Zusammenhänge der Eigenschaften des Arzneimittels und seiner Wirkungen. Nachteilige Auswirkungen werden in vielen Fällen durch sog. „forgiving drugs“ abgefedert. Der Begriff „forgiving drug“ wurde von Urquhart eingeführt [18]; der Franzose Jean-Pierre Boissel, ein klinischer Pharmakologe, hat das Konzept mit mathematisch-formalen Beschreibungen dieser pharmakokinetischpharmakodynamischen Zusammenhänge weiter verfeinert [19]. Der Grundgedanke ist die Überlegung, die (unausweichliche) Nonadhärenz durch Auswahl von Arzneimitteln günstig zu beeinflussen, bei denen das Weglassen einzelner Dosen möglichst geringe Auswirkungen auf eine gleichmäßige Wirkung hat. Intuitiv kommen dafür Arzneimittel infrage, die aufgrund ihrer langen Eliminations-HWZ lange wirken, z. B. Chlortalidon im Vergleich zu Hydrochlorothiazid, oder die aufgrund einer langsamen Freisetzung lange wirken, z. B. bei retardierten Formulierungen. Die Steady-State-Konzentrationen werden dann weniger stark beeinflusst. Auch kommen dafür Arzneimittel infrage, die ein indirektes Wirkmodell aufweisen, deren Wirkkinetik also nicht mit der Kinetik der Substanz selbst einhergeht. Ein Beispiel hierfür sind Protonenpumpenhemmer, die entsprechend der HWZ ihres Zielenzyms und nicht entsprechend ihrer eigenen HWZ wirken. Zuletzt sind auch Therapeutika geeignet, die auf dem Plateau ihrer Dosis-Wirkungs-Kurve wirken, d. h. in einem Dosis-Wirkungs-Bereich, in dem der Dosis-Wirkungs-Zusammenhang flach ist. VKA zählen zugleich zur ersten und zur dritten Gruppe,

da ihre Wirkkinetik durch die HWZ der Gerinnungsfaktoren und ihren Metabolismus bestimmt wird. NOAC haben sowohl eine schnelle Eliminations- als auch eine kurze Wirkkinetik. Sie haben mit ihren kürzeren HWZ bei schlechter Adhärenz niedrigere Talspiegel, wenn das Dosierintervall verlängert wird, und höhere Spitzenspiegel, wenn das Dosierintervall verkürzt wird. Bei einem relativ direkten Zusammenhang mit der direkten Thrombinhemmung bzw. der Anti-Faktor-Xa-Wirkung bewirkt dies gleichsinnige pharmakodynamische Effekte. Ob diese Schwankungen durch die behauptete größere therapeutische Breite ausgeglichen werden, darf bezweifelt werden, insbesondere, da in der Praxis häufig nicht nur Einzeldosen weggelassen werden, sondern Serien von Einzeldosen, was zu Therapiepausen von mehreren Tagen führt. Es ist davon auszugehen, dass nach Auslassung von 2–3 Dosen der NOAC die gewünschte gerinnungshemmende Wirkung vollständig verschwunden ist. Im stationären Bereich etwa würde das Pflegepersonal kritisiert werden, wenn die Heparinspritzen zur Thromboseprophylaxe nicht wie angeordnet regelmäßig verabreicht werden. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Pharmakotherapie, bei denen Probleme mit der Adhärenz – aber auch mit dem Aufwand durch die häufige Handhabung – durch verlängerte Dosierintervalle, teilweise wöchentlich oder länger, verbessert werden können. Dazu gehören niedermolekulare Heparine im Vergleich zu unfraktionierten Heparinen, aber auch Bisphosphonate, Antipsychotika, Mittel gegen multiple Sklerose u. v. m. Auf dem Gebiet der Antikoagulation war Idraparinux mit 1-mal wöchentlicher Gabe ein Beispiel, das jedoch wegen erhöhter Blutungsraten nicht erfolgreich war. D Eine gute Adhärenz in der Frühphase

einer Therapie hat auch Einfluss auf die langfristige Therapietreue. Vrijens et al. [17] zeigten in einer longitudinalen Datenbankstudie zu Antihypertensiva mit 1-mal täglicher Gabe, dass etwa die Hälfte der Patienten ihre verschriebene Medikation innerhalb des ersten Jahres abgesetzt hatte. Bei denen, die Der Internist 1 · 2014 

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Anteil der Patienten (%)

Arzneimitteltherapie scher Nonadhärenz (Umsetzung/“execu­ tion“) und langfristiger Adhärenz (Persistenz; . Infobox 2).

100 90

Rückgang der Adhärenz wegen Behandlungsabbruch

80 70 60

Rückgang der Adhärenz wegen schlechter Umsetzung 50 der Dosierungsvorgaben Persistenz

Adhärenz/Compliance

Perfekte Adhärenz

0 0

50

100

150

200

250

300

350 Zeit (Tage)

Zahl der in 3108 der Studie verbliebenen Patienten

980

828

618

474

400

331

Anteil der Patienten (%)

Abb. 1 8 Zeitlicher Verlauf der Adhärenz- bzw. Compliance-Parameter (Umsetzung, Persistenz; die Begriffe werden in Infobox 2 definiert). Die Abbildung erklärt zum einen den Abfall der Persistenz über die Zeit (Anteil der Patienten, die grundsätzlich noch anwenden) und zum anderen den durch eine schlechte Ausführung bedingten Unterschied. Nach einem Jahr hat nur noch etwa die Hälfte der Patienten grundsätzlich das Arzneimittel eingenommen. Der initiale leichte Abfall in der Persistenzkurve beschreibt den Anteil der Patienten, die ihre Medikation nie begonnen haben (2%). Die Persistenzkurve fällt graduell ab. Am 200. Tag beispielsweise haben 35% der Patienten ihre Medikation gestoppt, 65% haben sie noch genommen. Unter den Patienten, die sie noch genommen haben, haben am 200. Tag 10% ihre Medikation nicht eingenommen („non-execution“). Die kombinierte Adhärenz beträgt an diesem Tag deshalb 58% (0,9×65%). (Adaptiert nach [17]) 100

80

60

40

20 Anteil A t il der d TTage mit it korrekter k kt Dosierung D i 0-60% (n=210) 61-80% (n=440)

81-100% (n=4043)

0 0

50

100

150

200

250

300

350 Zeit (Tage)

Abb. 2 8 Kaplan-Meier-Kurven der Persistenz stratifiziert nach dem Anteil der eingenommenen verschriebenen Dosen (Umsetzung). Die Daten belegen, dass eine bessere Umsetzung zu einer längeren Persistenz führt. Die Ordinate zeigt den Anteil der Patienten, die ihre Medikation zu den entsprechenden Zeitpunkten (Abszisse) grundsätzlich noch eingenommen haben (Persistenz). (Adaptiert nach [17])

ihre Medikation noch einnahmen, wurden zu jedem gegebenen Zeitpunkt etwa 10% der Dosen weggelassen; 42% dieser Auslassepisoden betrafen Einzeldosen, 15% dauerten 2 Tage, 43% waren Auslas-

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Der Internist 1 · 2014

sungen der aufeinanderfolgenden Dosen von ≥3 Tagen. Etwa die Hälfte der Patienten hatte mindestens eine solche längere Episode pro Jahr. . Abb. 1 beschreibt den Zusammenhang zwischen episodi-

Ein Ergebnis der Studie von Vrijens et al. [17] ist für die Therapie mit oralen Antikoagulanzien von besonders hoher Bedeutung: Die Wahrscheinlichkeit für einen frühzeitigen kompletten Abbruch der Therapie, d. h. eine kurze Persistenz, korrelierte invers mit der Güte der täglichen Arzneimitteleinnahme (Umsetzung; . Abb. 2). Für NOAC bedeutet dies, dass keine Überwachung der Einnahme (wegen Nichtnotwendigkeit der Gerinnungsmessungen) mit einer kurzen Persistenz assoziiert sein könnte, während eine Kontrolle der Adhärenz (im Rahmen der notwendigen „Einstellung“ bei VAK) dagegen zu einer besseren Langzeitadhärenz führen könnte. Dem Patienten wird sozusagen seine Nonadhärenz durch die Gerinnungsmessungen „vor Augen geführt“.

Einfluss der Therapietreue auf die Qualität und Sicherheit der Einstellung mit NOAC In der RE-LY-Studie reduzierte Dabigatran in der höheren Dosierung Schlaganfälle, während es in der niedrigen Dosierung zu weniger schweren Blutungen führte. Dieses Ergebnis wird relativiert, wenn man die Qualität der erzielten Antikoagulation berücksichtigt. Bei hoher Adhärenz – v. a. in europäischen Studienzentren – war die Überlegenheit gegenüber Warfarin nicht mehr nachweisbar. Für jedes Studienzentrum wurde die mittlere TTR im Warfarin-Arm für eine INR von 2–3 bestimmt [20]. Die Ergebnisse für alle drei Studienarme, also für Warfarin sowie Dabigatran in hoher bzw. niedriger Dosis, wurden dann auf die Quartile der TTR bezogen. Im Durchschnitt wurde in der Gesamtstudie eine TTR von 64% erreicht, die vergleichbar mit den Ergebnissen anderer Langzeitstudien mit Warfarin ist. Je nach klinischem Setting und der Erfahrung der versorgenden Ärzte werden aber allgemein in Beobachtungsstudien Ergebnisse von 50–70% beschrieben, teilweise auch deutlich bessere Werte. Bei den Endpunkten „gesamte vaskuläre Ereignisse“, „nichthämorrhagische Ereignisse“ und „Mortalität“ in der RE-LY-Studie

Infobox 2  Definitionen von Adhärenz, Persistenz und Umsetzung 5 Adhärenz (bzw. Compliance) ist ein dimensionsloser Parameter, der beschreibt, inwieweit die Einnahme durch den Patienten mit dem verschriebenen Schema übereinstimmt. Adhärenz (bzw. Compliance) kann auf zwei Komponenten heruntergebrochen werden: 5 Die Persistenz ist die zeitliche Dauer, während der ein Arzneimittel angewendet wird (Zeit zwischen der ersten und der letzten Dosis). 5 Die Umsetzung („execution“) ist ein multidimensionaler Parameter, der durch den Vergleich zweier Zeitserien bestimmt wird, des verschriebenen Dosierungsregimes und der individuellen Ausführung durch den Patienten (während der Zeit, in der das Arzneimittel grundsätzlich noch eingenommen wird).

war die Überlegenheit von Dabigatran nur in Zentren mit einer relativ schlechten TTR dokumentierbar. Dies bedeutet, dass in Zentren, in denen eine gute INREinstellung mit Warfarin erreicht werden kann, Dabigatran nicht von Vorteil ist. Dies gilt bei Werten im oberen Quartil (TTR >72,6%). Ähnliche Ergebnisse liegen für Apixaban vor [21], während es zu Rivaroxaban keine solchen Untersuchungen gibt.

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Bei einem guten Antikoagulationsmanagement sind Vitamin-K-Antagonisten mindestens gleichwertig Pointiert formuliert bedeutet dies im Ergebnis, dass man NOAC nur benötigt, wenn das Antikoagulationsmanagement schlecht ist, denn bei einem guten Management sind VKA mindestens gleichwertig. Es ist bekannt, dass das Antikoagulationsmanagement in verschiedenen Gesundheitssystemen heterogen ist. Schwedische Registerdaten zeigen, dass mit einem national gut organisierten Programm bei der oralen Antikoagulation bezüglich der TTR ein gutes Ergebnis erreicht werden kann (76%) und dass die TTR invers mit Blutungskomplikationen korreliert [22]. Die TTR steigt mit dem Alter sogar an. Es gibt zwar eine Assoziation zwischen dem Alter und schweren Blutungen, jedoch nicht zwischen dem

Alter und thromboembolischen Komplikationen. Diese Daten legen nahe, dass die Überlegenheit der NOAC gegenüber VKA möglicherweise aufgrund der heterogenen Qualität des Patientenmanagements zwischen einzelnen Ländern überschätzt wird und die Studienergebnisse nicht auf alle Länder übertragbar sind. Die Schlussfolgerung muss sein, prioritär die Programme des Antikoagulationsmanagements zu verbessern, wie dies beispielsweise in den Niederlanden oder in Schweden umgesetzt wurde. Dafür kommen auch strukturierte Selbstmanagementprogramme infrage, die nicht nur die Qualität der Antikoagulation selbst verbessern, sondern auch die Lebensqualität und die Kosteneffektivität [23]. Da Ärzte ihren Patienten Empfehlungen für den Einzelfall geben müssen, darf nach jetz­ iger Datenlage auch abgeleitet werden, dass eine Überlegenheit der NOAC für den Fall, dass der individuelle Patient mit VKA gut eingestellt ist, noch nicht zweifelsfrei bewiesen wurde. Darüber sollte ein Patient aufgeklärt werden, nicht nur weil neuere Leitlinien die Patientenpräferenzen bei der Antikoagulation hervorheben [24, 25].

Wer braucht die NOAC wirklich? Grundsätzlich sollten alle Patienten, die mit VKA behandelt werden und damit gut behandelbar sind, aus den vorgetragenen Gründen bei dieser Medikation bleiben. Dies entspricht auch der Empfehlung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft [26]. In einigen Leitlinien werden NOAC bei Patienten empfohlen, die sich mit VKA nicht auf eine stabile INR einstellen lassen. Die Ursache für eine schlechte Einstellung wird in den Leitlinien aber selten hinterfragt. Aus den Ausführungen zur Adhärenz geht hervor, dass die Gründe für eine schlechte Einstellung überwiegend im Bereich der Therapietreue zu suchen sind. Daher sollte bei allen Patienten überprüft werden, ob die schwankende Gerinnungseinstellung nicht aufgrund von Adhärenzproblemen besteht. Adhärenzprobleme werden durch einen Wechsel der Wirkstoffklasse von VKA auf NOAC nicht behoben. Im Gegenteil könnte sich, wie im Zusammenhang mit den

Wirkkinetiken dargestellt, die Einstellungsqualität bei Verwendung der Substanzen mit kurzer HWZ sogar noch verschlechtern. (Es gilt die Botschaft von Watzlawick: fehlende Gerinnungsmessungen sind nicht gleichbedeutend mit einer korrekten Gerinnungseinstellung.) Ist jedoch für einen Patienten eine gute Einstellung mit einem VKA dokumentiert (TTR >72%), besteht zumindest nach Datenlage kein Grund für die Verordnung von Dabigatran, da dieses dem VKA nicht überlegen ist und die Therapiekosten erhöht. Bei Neuverordnungen erfolgt die Entscheidung zwischen NOAC und VKA häufig in der Klinik, z. B. nach Aufenthalt wegen eines Schlaganfalls. Eine enge vorherige Abstimmung mit den Hausärzten wäre wünschenswert, da dort die besten Kenntnisse über die praktische Umsetzung einer Antikoagulation vorliegen.

Welcher NOAC ist der Wirkstoff der Wahl? Es ist völlig ungeklärt, ob die verfügbaren Wirkstoffe aus der Gruppe der NOAC in Bezug auf Endpunkte untereinander gleichwertig sind, da sie bedeutende pharmakologische Unterschiede aufweisen und keine direkten Vergleichsstudien vorliegen. Indirekte Vergleiche sind, obgleich geeignete netzwerkanalytische Methoden vorliegen, nur sehr eingeschränkt möglich [27]. Deshalb müssen einzelne Aspekte und Eigenschaften bei der Wirkstoffauswahl herangezogen werden.

Dabigatran Bei Dabigatran sind Vorteile bei der Reduktion von Schlaganfällen nur für die hohe Dosierung belegt. Diese ist aber bei älteren Patienten oder höhergradiger Nierenfunktionseinschränkung nicht möglich. Die niedrige Dosierung kommt eher für Patienten infrage, die ein hohes Blutungsrisiko haben (bestimmt z. B. mit dem HAS-BLED-Score). Der Patient sollte aber darüber informiert werden, dass für diese Dosierung keine Reduktion der Endpunkthäufigkeit belegt ist. D Unter direkten Thrombin-

hemmern ist das Risiko für Myokardinfarkte erhöht. Der Internist 1 · 2014 

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Arzneimitteltherapie Dies scheint ein Klasseneffekt zu sein, der bei den Faktor-Xa-Hemmern nicht nachweisbar ist. Bei einem Patienten mit schwerer KHK sollte Dabigatran als direkter Thrombinhemmer daher eher nicht gegeben werden. Bei höhergradiger Niereninsuffizienz oder dem Risiko der Verschlechterung einer Niereninsuffizienz sollte Dabigatran ebenfalls nicht eingesetzt werden. Eine galenische Besonderheit von Dabigatran wirkt sich noch zusätzlich adhärenzmindernd aus: Die Tabletten dürfen erst unmittelbar vor Einnahme aus den Blistern genommen werden, da sie feuchtigkeitsempfindlich sind. Auch dürfen sie nicht durchgedrückt werden, sondern müssen nach Abziehen der Folie entnommen werden. Die erfahrenen Praktiker werden wissen, dass dies viele Patienten bereits überfordert. Viele Patienten haben ihre Medikation in Wochendispensern vorbereitet, was bei Dabigatran nicht möglich ist. Dies könnte zu einer verminderten Einnahmetreue führen.

Rivaroxaban Die Datenlage zu Rivaroxaban zeigt aus verschiedenen Gründen, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert werden können, keine zweifelsfreie Überlegenheit gegenüber Warfarin an. Beispielsweise war in einer zulassungsrelevanten Studie die INR-Einstellung im WarfarinArm deutlich schlechter als in den Zulassungsstudien zu Dabigatran und Apixaban. Die Überlegenheit bei Endpunkten war nur für die Behandlungsdauer, nicht jedoch für die Nachverfolgungszeit statistisch signifikant. Die Ereignisse in der frühen Nachbeobachtungsphase wurden deshalb in der primären Auswertung nicht berücksichtigt, obgleich möglicherweise ein prothrombotischer ReboundEffekt zu beobachten war. Diese Zusammenhänge bedürfen einer weiteren Klärung. Auch ist nicht völlig überzeugend geklärt, warum bei mit Dabigatran vergleichbarer Pharmakokinetik die Gabe von Rivaroxaban 1-mal täglich erfolgt. Die Einmalgabe ist zwar unter Gesichtspunkten der Adhärenz günstiger als die 2-malige Gabe, ob sie in diesem Fall pharmakologisch richtig ist, sei aber dahingestellt.

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Apixaban Apixaban schließlich erscheint in seiner Gesamtbewertung am günstigsten, führt es doch zu einer Verminderung von Schlaganfallereignissen und Blutungen und erreicht sogar eine statistisch signifikante Reduktion der Gesamtmortalität. Aber auch hier ist der Gesamteffekt von der Güte der INR-Einstellung abhängig, d. h., bei guter Einstellung werden die Effekte umso kleiner. Apixaban ist der erste Wirkstoff aus der Gruppe der NOAC, für den eine frühe Nutzenbewertung gemäß dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vorliegt. Dort wurde festgestellt, dass das Patientenalter als Effektmodifikator zu sehen ist: Ein beträchtlicher Zusatznutzen wurde nur bei über 65-jährigen Patienten gesehen; in dieser Gruppe waren die Schlaganfallhäufigkeit und Gesamtmortalität geringer. Die Patienten mussten grundsätzlich für VKA geeignet sein. In Bezug auf Schlaganfälle stützte sich die Überlegenheit insbesondere auf die Reduktion hämorrhagischer Schlaganfälle. Auch bei größeren und klinisch relevanten nichtgrößeren Blutungen fand sich eine Überlegenheit. Bei Patienten, die nicht für VKA geeignet waren, wurde ein Vergleich mit Acetylsalicylsäure durchgeführt. Hier wurde ein Zusatznutz­en unabhängig vom Alter gesehen. Die gewählte „zweckmäßige Vergleichstherapie“ entsprach der Therapie der entsprechenden Zulassungsstudien. Heute stehen jedoch mit Dabigatran und Rivaroxaban zwei weitere mögliche Vergleichstherapien zur Verfügung. Zu einem Vergleich mit diesen Wirkstoffen macht das IQWiG jedoch keine Aussage. Auch wurde die Aufteilung in Altersgruppen

[New oral anticoagulants: who really needs them?].

The new oral anticoagulants (NOAC) are alternative drugs to classical vitamin K antagonists (VKA) for stroke prevention in patients with nonvalvular a...
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