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Übersicht

Zwangssymptome bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung

Autoren

P. Mavrogiorgou, O. Schabos, G. Juckel, K. Hoffmann

Institut

Psychiatrie, Ruhr-Universität, Bochum

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

"

!

!

Hintergrund: Zwangssymptome, vor allem Wiederholungs- und Kontrollzwänge, treten mit einer hohen Prävalenz von 3,5 % bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung auf. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über verschiedene klinische Aspekte. Methode: Es wurde eine selektive Literaturrecherche in Pubmed und Cochrane durchgeführt. Ergebnisse: Aufgrund kognitiv-sprachlicher Beeinträchtigungen der betroffenen Personen sowie zusätzlicher Stereotypien und repetitiven Verhaltens gelingt die Diagnose nicht immer. Genetische Syndrome stellen den häufigsten Grund einer angeborenen intellektuellen Entwicklungsstörung dar, wovon nur einzelne auch mit einer Zwangssymptomatik einhergehen. Zur Behandlung werden serotonerge Antidepressiva in – entsprechend der hirnorganischen Einschränkung – niedriger Dosierung eingesetzt; jedoch liegen keine kontrollierten Studien vor. Der Stellenwert von Psychotherapie ist kritisch zu beurteilen. Schlussfolgerungen: Gerade zur Behandlung besteht ein hoher Forschungsbedarf.

Background: Obsessive-compulsive symptoms are common with a high prevalence of 3.5 % in adults with intellectual disabilities (ID). The present article reviews different aspects (epidemiology, aetiology, clinical features, diagnostic methods and treatment). Method: A computerized search of the relevant literature was done using Pubmed and Cochrane databases. Results: Difficulties in diagnosing obsessive-compulsive disorder in adults with ID result from difficulties in differentiating true compulsions from stereotypical and repetitive behaviors as also from the fact that patients with ID have cognitive and language impairments. Genetic diseases are most frequently the cause of congenital intellectual disability but only a few with ID are affected by OCD symptoms. Low-dose serotonergic antidepressants are used in the treatment of OCD symptoms. However, there are only a few controlled treatment studies of obsessive-compulsive symptoms in people with ID. Conclusion: Further research especially regarding treatment of OCD in people with ID is urgently needed.

Einleitung

in den Praxen und Kliniken die Versorgungsnotwendigkeit sich immer häufiger stellt. Zwangssymptome in Form von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gelten als komplexe psychische Phänomene, die nicht nur spezifisch für die Zwangsstörung im klassischen Sinne einer „Zwangsneurose“ sind, sondern ubiquitär im Rahmen einer Reihe neuropsychiatrischer Erkrankungen wie z. B. Chorea Sydenham, Economo-Enzephalitis oder einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis auftreten können. Auch bei Patienten mit einer Intelligenzminderung bzw. intellektuellen Entwicklungsstörung

● Zwangsstörungen ● intellektuelle Entwicklungs"

● "

störung genetische Syndrome

Key words

● obsessive-compulsive "

disorder

● intellectual disabilities ● genetic syndromes " "

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1399600 Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83: 314–320 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0720-4299 Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Georg Juckel Psychiatrie, Ruhr-Universität Bochum Alexandrinenstr. 1 44791 Bochum [email protected]

!

In Deutschland leben zu Hause bei den oft leidgeprüften Familien sowie in zahlreichen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialsystems ca. 2,5 – 3 Millionen Menschen mit geistiger Behinderung (ca. 3 – 4 % der Bevölkerung) [1], von denen schätzungsweise 15 – 20 % temporär oder chronisch psychische Probleme, d. h. psychiatrische Erkrankungen, aufweisen [2]. Diese Zahlen weisen auf eine hohe Relevanz für klinisch tätige Kollegen hin, zumal das Thema Intelligenzminderung und psychische Komorbidität wenig bekannt ist, aber

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Obsessive Compulsive Symptoms in Persons with Intellectual Disabilities

Übersicht

1

Definition und Klassifikation !

Die Prävalenz einer Intelligenzminderung bzw. intellektuellen Entwicklungsstörung in der Allgemeinbevölkerung wird auf ca. 3 % geschätzt [1]. Nach ICD-10 ist die Störung als Zustand verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten (Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten) definiert. Der " Tab. 1) wird anhand Schweregrad einer Intelligenzminderung (● standardisierter Intelligenztests festgestellt. Sie kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten [8]. Eine Lernbehinderung (IQ 84 – 70) betrifft ausschließlich das Erlernen schulischer Fertigkeiten und wird im ICD-10 gesondert in der Kategorie der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F8) klassifiziert. Im DSM-5 wird der Begriff der „Intellektuellen Beeinträchtigung“ (als Äquivalent zum Begriff der „Intellektuellen Entwicklungsstörung“ im ICD-11) für alle in einer frühen Entwicklungsphase sich manifestierenden Defizite geistiger Fähigkeiten wie abstraktes Denken, schulisches Lernen, Problemlösen usw. verwendet. Die Defizite gehen mit Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit und daraus resultierendem Mangel an Selbständigkeit und sozialer Kompetenz einher, so dass die Betroffenen einer ausgeweiteten und kontinuierlichen Unterstützung bedürfen. Die verschiedenen Schweregrade der intellektuellen Beeinträchtigung (leicht, mittel " Tab. 2) werden nicht mehr ausschließlich schwer und extrem; ● anhand der IQ-Werte definiert, sondern aufgrund des adaptiven Funktionsniveaus, das wesentlich für das Ausmaß der erforderlichen Unterstützung ist [9]. Die Verwendung von Zusatzcodierungen erlaubt eine nähere klinische Beschreibung, aber auch die Dokumentation von möglichen kausalen Faktoren wie z. B. genetische Erkrankungen. Basierend auf den Klassifikationssystemen wird in der vorliegenden Arbeit der Terminus „intellektuelle Entwicklungsstörung“ bevorzugt verwendet, wohl wissend, dass in der alltäglichen Praxis der Begriff der „geistigen Behinderung“ weiterhin weit verbreitetet ist. Zur Diagnose einer Zwangsstörung nach ICD-10 ist neben dem Vorliegen der Zwangssymptomatik (Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen) einhergehend mit einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung und Funktionseinschränkung in den verschiedenen Lebensbereichen das Erfüllen des Zeitkriteriums, das auf 2 Wochen festgelegt wurde, erforderlich. Unter Zwangsgedanken versteht man lästige und aufdringliche Gedanken, Befürchtungen, Impulse und Vorstellungen, gegen die sich die Betroffenen nicht wehren können, obwohl sie diese als absto-

Intelligenzminderung

Intelligenzquotient

Charakteristika

Anteil1

Leichte (F70)

50 – 69

Mentales Alter:12 – 9 LJ Schulschwierigkeiten, berufliche und soziale Teilhabe gut erreichbar

80 %

Mittelgradige (F71)

35 – 49

Mentales Alter: 9 – 6 LJ Entwicklungsschwierigkeiten im Kindesalter, Kommunikation, Erwerb schulischer Fertigkeiten und soziale Teilhabe mit Unterstützung möglich

12 %

Schwere (F72)

20 – 34

Mentales Alter: 6 – 3 LJ Personen benötigen kontinuierliche Hilfen

7%

Schwerste (F73)

unter 20

Schwerste Beeinträchtigung in der Mobilität, Kommunikation und Selbstversorgung, Inkontinenz

unter 1 %

Tab. 1 Schweregrad der Intelligenzminderung nach ICD-10.

Anteil an der Gesamtgruppe der Personen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung [34].

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können zusätzlich Zwangssymptome auftreten. So fand sich z. B. bei einer Untersuchung von 283 Patienten mit einer mittleren bis schweren intellektuellen Entwicklungsstörung eine Prävalenzrate von Zwangssymptomen von fast 3,5 % [3]. Bodfish et al. fanden bei 40 % von insgesamt 210 untersuchten Patienten mit intellektueller Entwicklungsstörung zusätzliche Zwangssymptome vor allem in Form von Zwangshandlungen [4]. Die dadurch bedingten zusätzlichen Beeinträchtigungen der Betroffenen, vor allem im Falle einer nicht adäquaten Diagnostik und Behandlung der Zwangssymptomatik, erfordern eine nähere Betrachtung und auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik, zumal systematische Untersuchungen bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung hierzulande fehlen. Ein wesentlicher Grund, neben historisch und moralisch-ethisch begründeten Aspekten [5], für die restriktive Haltung hinsichtlich der Durchführung von Studien mit dieser Personengruppe ist sicherlich die Annahme, dass die Betroffenen aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen nicht zu einer informierten Einwilligung zur Studienteilnahme in der Lage seien. Dies mag für schwer und extrem kognitiv beeinträchtigte Patienten nachvollziehbar sein. Personen hingegen mit einer leichten bis mittleren intellektuellen Beeinträchtigung sind, wie die Arbeit von Fisher et al. zeigen konnte, bei entsprechender Anpassung der Aufklärungsmodalitäten im Rahmen der individuellen kognitiv-sprachlichen Gegebenheiten wohl fähig, den Sinn, das Prozedere und auch die Konsequenzen einer Studienteilnahme zu erfassen und nachzuvollziehen [6]. Der medizinische Fortschritt und ein gesellschaftlicher Wandel schaffen einerseits Bedingungen zur sog. „Inklusion“ und größeren sozialen Teilhabe der Betroffenen, wie im Beispiel von Trisomie-21-Patienten, andererseits zeigen sich dabei aber auch Probleme und Grenzen, die einen Forschungsbedarf im Sinne der Bedarfsanalyse auch angesichts der UN-Behindertenkonvention begründen. Betont sei, dass die dazu notwendigen Studien mit kognitiv beeinträchtigten und größtenteils nicht einwilligungsfähigen Patienten stets unter Einhaltung und Befolgung der ethischen Prinzipien geplant und durchgeführt werden sollten [7]. Im Folgenden werden anhand einer Literaturrecherche Befunde zu einer Zwangssymptomatik bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung unter besonderer Berücksichtigung diagnostischer und differentialdiagnostischer Aspekte, möglicher pathogenetischer Zusammenhänge und des therapeutischen Vorgehens näher dargestellt.

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Übersicht

Tab. 2

Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung (mod. nach DSM-5).

Leicht

Mittel

Schwer

Extrem

Kognitiv

Schulische Fertigkeiten wie Lesen, Rechnen, Schreiben erschwert, abstraktes Denken, exekutive Funktionen und Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt Konkretismus

Deutlicher Entwicklungsrückstand der schulischen Grundfertigkeiten, anhaltende tägliche Hilfeleistung bei kognitiven Anforderungen des Alltags unerlässlich

Erwerb kognitiver Fähigkeiten ist begrenzt, so dass eine lebenslange intensive Betreuung notwendig ist

Kognitive Fähigkeiten umfassen keine symbolischen Prozesse, das zielgerichtete Verwenden von Objekten ist bedingt möglich bzw. erlernbar, wenn keine sensomotorisch bedingten Behinderungen vorliegen

Sozial

Im Vergleich zu Gleichaltrigen unreifes Verhalten in sozialen Situationen, konkretistisch in Kommunikation, Leichtgläubigkeit und Probleme bei der Emotions- und Verhaltensregulation

Weniger komplex entwickelte Sprache, deutliche Schwierigkeiten, soziale Hinweisreize wahrzunehmen und zu interpretieren, Unterstützung bei Lebensentscheidungen unerlässlich

Soziale Kommunikation durch einfache Sprache (einzelne Wörter und Sätze) und non-verbales Verhalten möglich

Soziale Beziehungen zu gut bekannten und vertrauten Personen, wobei die Interaktion durch gestische und emotionale Hinweisreize geprägt ist

Alltagspraxis

Altersgerechte Selbstversorgung möglich, einige Unterstützung bei komplexen Alltagsaufgaben und Anforderungen jedoch notwendig.

Eigenständigkeit in persönlichen Bedürfnissen nach längerer Anlernzeit möglich, insgesamt ist jedoch eine beachtliche Unterstützung (z. B. Betreuer) notwendig, um soziale Erwartungen und komplexe Aufgaben und Aktivitäten zu erfüllen

Für alle Anforderungen des täglichen Lebens wird Unterstützung bzw. Anleitung benötigt. Unangemessenes Verhalten tritt bei einer bedeutsamen Minderheit auf

Für alle Anforderungen des täglichen Lebens ist der Betroffene abhängig von anderen, vereinzelt ist an eine Teilhabe an Aufgaben unter Unterstützung möglich, schlecht angepasstes Verhalten findet sich bei einer bedeutsamen Minderheit

ßend, unannehmbar und sinnlos empfinden. Die Zwangsgedanken führen bei den Betroffenen zu Angst und einer erhöhten inneren Anspannung und Unruhe. Zwangshandlungen sind in immer der gleichen Art und Weise sich wiederholende Handlungsabläufe, die von den Betroffenen gegen einen inneren Widerstand ausgeführt werden und gegen die sie sich auch kaum wehren können. In der Regel dienen die Zwangshandlungen dazu, die durch Zwangsgedanken hervorgerufene Angst und innere Unruhe zu reduzieren. Obwohl im ICD-10 auf den Ausschluss der Diagnose einer Zwangsstörung bei Vorliegen einer anderen psychischen Störung wie der Schizophrenie oder affektiver Störungen hingewiesen wird, erscheint diese Klausel im klinischen Alltag häufig vernachlässigt zu werden. Dabei ergeben sich die Schwierigkeiten nicht beim Erkennen der eigentlichen Zwangssymptomatik, sondern bei ihrer nosologischen Einordnung als „primäre bzw. sekundäre Zwangsstörung“, die aber wesentlich für das therapeutische Prozedere ist. Noch unklarer zeigt sich das praktische Vorgehen bei der Einordnung von Zwangssymptomen im Rahmen anderer neuropsychiatrischer Erkrankungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns, die nicht selten neben den kognitiven Beeinträchtigungen auch mit verschiedenartigsten psychopathologischen Phänomenen wie Angst, Depression oder Zwang einhergehen können. Eine konkrete Nennung bzw. explizite Klassifizierung von Zwangsstörungen im Zusammenhang mit einer Intelligenzminderung findet sich im ICD-10 nicht, allerdings besteht die Möglichkeit, sie als sonstige bzw. nicht näher bezeichnete Zwangsstörung oder aber als Verhaltensbeeinträchtigung in Verbindung mit der Intelligenzminderung näher zu klassifizieren. Auch im DSM-5 findet sich keine explizite Nennung einer Zwangsstörung bei intellektueller Beeinträchtigung, trotz der umfangreich vorgenommenen Änderungen hinsichtlich der Zwangsstörungen: Im DSM-5 bilden nunmehr die Zwangsstörung und verwandte Störungen (ZWAV) eine neue eigene nosologische Kategorie. Zu den ZWAV gehören die körperdysmorphe

Störung, das pathologische Horten, die Trichotillomanie, die Dermatillomanie, aber auch medikamenten-/substanzinduzierte Zwangsstörungen oder ZWAV aufgrund eines anderen medizinischen Krankheitsfaktors bzw. unspezifische Zwangsstörungen und verwandte Störungen [9]. Zur Diagnose einer Zwangsstörung werden weiterhin das Erfüllen des Zeitkriteriums (mehr als 1 Stunde pro Tag), mindestens aber einschneidende Beeinträchtigungen in verschiedenen psychosozialen Bereichen verlangt. Neu ist die Zusatzkodierung der Einsichtsfähigkeit (gut, wenig und fehlend) der Patienten in die Unsinnigkeit bzw. Unangemessenheit ihrer Zwangssymptomatik. Im Zusammenhang mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung zeigt sich jedoch weiterhin bei beiden Klassifikationssystemen die Problematik der Einsichtsfähigkeit der Betroffenen in die Unsinnigkeit ihrer Symptome. Aufgrund der mangelnden bzw. fehlenden Introspektionsfähigkeit, der eingeschränkten Auffassungsgabe in Verbindung mit einer beeinträchtigten verbalen Mitteilungsfähigkeit ist es den betroffenen Patienten kaum möglich, die entsprechenden zwanghaften Denk- und Verhaltensweisen als Ich-zugehörig, jedoch Ich-dyston und sinnlos zu erleben und zu beschreiben. Stereotypien und andere Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. repetitive Selbstverletzungen erschweren die Diagnose einer Zwangsstörung noch zusätzlich. Eine genaue Verhaltensbeobachtung, das Einholen fremdanamnestischer Angaben und die Verwendung von speziell entwickelten Skalen wie der „Compulsive Behavior Checklist for Clients with Mental Retardation“ können die diagnostischen Erwägungen und Einordnungen erleichtern [10].

Ätiologie !

Eine intellektuelle Entwicklungsstörung stellt keine nosologische Einheit, sondern ein Syndrom dar, das in Verbindung mit vielen anderen körperlichen und/oder psychischen Erkrankungen auf-

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treten und auf sehr unterschiedlichen Ursachen basieren kann. Eine grobe Unterteilung der Ursachen basiert auf dem Einwirken von Noxen bzw. dem Auftreten von Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt, die zu einer strukturellen und/ oder Funktionsstörung des ZNS führen. Unterschieden werden dabei pränatale (von der Empfängnis bis zu 28. SSW), perinatale (zwischen 28. SSW und dem 7. Lebenstag) und postnatale (frühkindliche bis zum 2. Lebensjahr und später erworbene) Ursachen. Bei bis zu 40 % aller Betroffenen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung kann jedoch keine Ursache verifiziert werden, lediglich bei 5 % der Betroffenen geht diese mit einem genetischen Syndrom wie z. B. der Trisomie 21 (Down-Syndrom) oder dem Prader-Willi-Syndrom (PWS) einher [Übersicht: 11]. Pränatale Ursachen spielen vor allem bei fast 70 % der Patienten mit einer schweren intellektuellen Entwicklungsstörung eine wesentliche pathogenetische Rolle. Chromosomale Anomalien – insbesondere die Trisomie 21 und das Fragile-X-Syndrom – sind die häufigsten pränatalen Ursachen, die zu kognitiven Beeinträchtigungen unterschiedlicher Ausprägung führen. Insgesamt ist man gegenwärtig der Auffassung, dass die erbliche Grundlage der Intelligenz polygen ist und dass eine Beeinträchtigung der Intelligenz aus einem multifaktoriellen Geschehen resultiert. Dies zeigt sich vor allem für die weitaus größere Gruppe der Patienten mit leichter intellektueller Entwicklungsstörung (IQ > 50), für die psychosoziale und kulturelle Risikofaktoren wie z. B. soziale Deprivation und Vernachlässigung identifiziert werden konnten [Übersicht: 12]. Lediglich bei einigen der mittlerweile zahlreich beschriebenen genetischen Syndrome, die mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung einhergehen, kommt es zusätzlich zu einem gehäuften " Tab. 3). Auch dabei wird Auftreten einer Zwangssymptomatik (● eine multifaktorielle Pathogenese angenommen. Matson und Dempsey gehen davon aus, dass die Phänomenologie der Zwänge, aber auch die Prädisposition, solche zu entwickeln, in Abhängigkeit nicht nur von der mit der Intelligenzminderung einhergehenden Grunderkrankung steht, sondern auch von psychosozialen

Tab. 3

Faktoren abhängt [13]. In der Untersuchung von Stavrakaki und Antochi [14] wiesen diejenigen Patienten mit einem Down-Syndrom eine höhere Rate von Zwangssymptomen auf, bei denen auch vermehrt psychotraumatisierende Lebenserfahrungen zu eruieren waren. Hinsichtlich der Zwangsstörungen weisen die mittlerweile zahlreichen Forschungsergebnisse bzgl. der Pathogenese zusammengefasst darauf hin, dass dabei eine Dysfunktion der kortiko-striato-thalamo-kortikalen (CSTC) Regelschleifen und eine damit in Verbindung stehende Dysbalance verschiedener Neurotransmitter und -modulatoren relevant sind. So wird im Rahmen der CSTC-Schleifenhypothese, vereinfacht dargestellt, eine Überaktivität im orbitofrontalen Kortex und im anterioren Cingulum als Folge einer Basalganglienstörung, die wiederum eine ungenügende Hemmung der positiven Rückkopplung von Thalamus und orbitofrontalem Kortex bedingt, postuliert. Das serotonerge System, das den CSTC-Regelkreis innerviert und inhibitorisch sich moduliert, scheint zumindest bei einem Teil der Patienten mit einer Zwangsstörung wesentlich bei der Pathogenese beteiligt zu sein. Das stärkste Argument dafür ist die aus pharmakologischer Sicht einzigartige selektive Wirksamkeit serotonerger Medikamente (der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) bei dieser möglichen Subgruppe zwangserkrankter Patienten. Studien mittels funktioneller Bildgebung legen eine serotonerge Dysfunktion ebenfalls nahe [Übersicht: 15]. Tierexperimentelle Studien, aber auch humangenetische Untersuchungen weisen zudem darauf hin, dass neben dem Serotonin auch die Neurotransmitter Dopamin und Glutamat bedeutender in der Pathogenese von Zwangsstörungen involviert sind als anfänglich angenommen. In klinischen Studien konnte für die zusätzliche Gabe von Antipsychotika zu einer bestehenden SSRI-Medikation eine Wirksamkeit und Effektivität bei einem Teil der Patienten mit Zwangsstörungen gezeigt werden [16]. In Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren konnten Veränderungen der Dopamintransporterdichte in zwangsrelevanten Hirnregionen wie dem Striatum oder dem Nucleus caudatus gezeigt werden. Dar-

Genetische Syndrome mit Zwangssymptomatik.

Syndrom

Gendefekt

Klinik

Zwangssymptomatik (Literatur)

Angelman

Dup15q11 – 13

„Happy puppet“, auffallend freundliches Gesicht, Epilepsie, Hyperaktivität, Schlafstörungen

Bis zu 45 % der Patienten zeigen ritualisierte Wiederholungszwänge [35]

CHARGE

CHD7

Kopf- und Hals-Anomalien, Herzfehler, Genitalund Harntraktanomalien

Zwangsgedanken und Zwangshandlungen in Einzelfällen beschrieben [36]

Cornelia de Lange

Unklar, da Mutationen verschiedener Chromosomen (X, 5, 10) beschrieben

Mikrozephalie, Minderwuchs, Gliedmaßen-Anomalie, Hörbeeinträchtigung, Herzfehler Stereotypien und selbstverletzendes Verhalten

Zwangsähnliche Handlungen bei fast 87 % der untersuchten Pat. Putz- und Kontrollzwänge [28]

DiGeorge

Del22q11.2

Herzfehler, Gesichtsdysmorphien und GaumenAnomalien Immunschwäche,

Bei 8 % bis 83 % der Patienten konnten Zwangsgedanken und -handlungen beschrieben werden [37]

Down

Trisomie 21

Epikanthus, Ohrmuschelanomalien, Vierfingerfurche der Hände, große Zunge, Überstreckbarkeit der Gelenke, Herzfehler

Zwanghafte Langsamkeit, Zwangshandlungen und Zwangsrituale [12]

Fragiles X

FMR-1 GenXq27.3

Längliche Gesichtsform, Handstereotypien, Makroorchismus

Wiederholt zwanghaftes Verhalten beschrieben [38]

Prader-Willi

Del15q11 – 13

Adipositas, Hyperphagie, Hypogenitalismus

Bis zu 50 % der Pat. zeigen Ordnungs-, Symmetriezwänge, zwanghaftes Nachfragen, Sammelzwang, „skin picking“, Zwangsrituale [25, 26]

Rett

MECP2 Gen Xq27

Gang- und Rumpf-Ataxie, Handstereotypien

Händewaschzwang [27]

Tuberöse Sklerose

TSC 1: 9q34 TSC 2: 16p13

Adenoma sebaceum, epileptische Anfälle, Gehirntumoren

Einzellfallberichte über Zwangssymptomatik [39]

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Übersicht

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über ließ sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer Abnahme der Dopaminbindung vor allem im Bereich der Basalganglien und der Abnahme der Zwangssymptomatik unter einer effizienten SSRI-Medikation aufzeigen [17]. Ähnliche Befunde konnten auch für die einzelnen genetischen Syndrome, die neben der intellektuellen Entwicklungsstörung gehäuft " Tab. 3), erhoeine zusätzliche Zwangssymptomatik ausweisen (● ben werden. Allerdings sind sie vorsichtig zu interpretieren, da die Zahl der Studien und die Fallzahlen auch dazu insgesamt spärlich und überschaubar sind [17]. Zudem lässt sich die Frage nach der Spezifität der Befunde kaum zufriedenstellend klären. Aufgrund phänomenologischer Überlappungen von Zwangssymptomen und anderen motorischen Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. Stereotypien oder Tics, die bei Patienten mit intellektuellen Beeinträchtigungen ebenfalls häufig zu finden sind, könnte von pathogenetischen Gemeinsamkeiten ausgegangen werden. Einige wenige Studien mittels bildgebender Untersuchungen wie Positron-Emissionstomografie (PET) konnten vor allem bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung bei autistischer Störung und komorbider Zwangssymptomatik Störungen des Serotonin- und Dopaminstoffwechsels aufzeigen [18, 19]. Darüber hinaus fanden sich bei diesen Patienten sowohl strukturelle als auch Aktivitätsveränderungen in Hirnstrukturen wie dem orbitofrontalen Kortex oder den Amygdalae, ähnlich wie bei Patienten mit einer reinen Zwangssymptomatik [20]. Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Zwangssymptomen und ritualisierten Stereotypien werden auch durch neurophysiologische Untersuchungen geliefert, die eine Dysfunktion in der Regulation sensorischen Inputs nahelegen. Postuliert wird dabei eine Hypersensitivität in der Reizwahrnehmung und Reizverarbeitung, die wiederum zwanghafte bzw. ritualisierte Verhaltensweisen im Sinne eines autoregulativen Stressabbaus zur Folge hat [21]. Trotz der molekularbiologischen und technischen Fortschritte erlauben die bisherigen genetischen und neurobiologischen Befunde zusammengefasst bei keinem der o. g. Syndrome die Formulierung eines widerspruchsfreien pathogenetischen Modells, was angesichts der komplexen Zusammenhänge zwischen Genetik und Umweltbedingungen nicht verwundert. Interessanterweise ergaben molekulargenetische Untersuchungen von normal intelligenten Patienten mit einer primären Zwangsstörung keine chromosomalen Mutationen entsprechend denjenigen genetischen Syndromen, die vermehrt mit Zwangssymptomen assoziiert sind [22, 23].

Symptomatologie !

Ähnlich problematisch wie die Klassifikation und der Versuch einer ätiologischen Erklärung der Entstehung von Zwangsstörungen im Zusammenhang mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung gestaltet sich aber auch die phänomenologische Differenzierung. Die Problematik des Nicht-Erkennens von Zwangssymptomen bei Personen mit intellektuellen Störungen ergibt sich nicht nur aus deren sprachlich-kognitiven Beeinträchtigungen im Sinne eines „under-reporting“. Vielmehr führt das Zusammentreffen von Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. Stereotypien, die bei dieser Personengruppe sehr häufig sind, oder das ebenfalls häufige komorbide Auftreten einer autistischen Störung zu der Fehleinschätzung einer behandlungsbedürftigen Zwangssymptomatik [19]. Patienten mit einer Erkrankung aus dem autistischen Spektrum zeigen ebenfalls häufig Ordnungs- und Wiederholungszwänge [19], wobei die Ab-

grenzung zu motorischen und Verhaltensstereotypien auch hier nicht immer einfach erscheint. Stereotypien gehören einerseits zu den diagnostischen Kriterien der autistischen Störung, andererseits treten stereotype, repetitive Verhaltensmuster wie exzessives Sammeln, Ordnen, Berühren und selbststimulierendes Verhalten auch häufig bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung ohne Autismus auf [24]. Die Funktion von Stereotypien bei Menschen mit Intelligenzminderung mit und ohne Autismus besteht in der Reizmodulation, in der Anspannungsreduktion, aber auch in der Kontakt- und Kommunikationsherstellung und stellt somit für diese meistens eine positive und selbststärkende Handlung dar [24]. Im Gegensatz dazu erleben „Zwangsneurotiker“ ihre Handlungen trotz anspannungsreduzierender Wirkung meistens als unsinnig, Ich-dyston und unangenehm. Als konsistent und relativ gesichert gilt das gehäufte Auftreten von Zwangssymptomen beim Prader-Willi-Syndrom (PWS). Bereits im Alter von zwei bis drei Jahren zeigen die Kinder mit einem PWS, einer Genmutation des Chromosoms 15 (del 15q11q13) einhergehend mit komplexen somatischen und neurodegenerativen Veränderungen, erste zwanghafte Verhaltensweisen und Zwangsrituale [11]. In einer Untersuchung von Dimitropoulos et al., in der die Eltern von 45 Kindern mit PWS sowie von 39 Kindern mit einem Down-Syndrom (Trisomie 21) und Kindern mit unauffälligem altersbezogenem Entwicklungsstatus nach Auftreten von zwanghaftem Verhalten befragt wurden, zeigte sich eine deutliche Häufung von ritualisierten Ordnungs-, Sammel- und Waschzwängen bei den Kindern mit dem PWS [25]. Auch erwachsene Patienten mit PWS zeigen fast regelhaft gehäuft ritualisierte Ordnungs- und Wiederholungszwänge, wobei der Schweregrad der Zwangssymptomatik mit der Stärke der kognitiven Behinderung zu korrelieren scheint [26]. Beim Rett-Syndrom, einer fast ausschließlich bei Mädchen auftretenden genetisch bedingten neurologischen Störung mit einem charakteristischen Muster kognitiver und funktionaler Entwicklungsstagnation und anschließender Rückentwicklung, imponiert neben den sich wiederholenden ritualisierten Handstereotypien auch ein Händewaschzwang [27]. Eindrucksvoll beschrieben werden Zwangssymptome vor allem in Form von ritualisierten zwanghaften Putz- und Kontrollhandlungen auch beim Cornelia-de-Lange-Syndrom, einer Erkrankung, deren Ätiologie molekulargenetisch noch nicht vollständig erklärt ist [28]. Insgesamt ergibt sich beim näheren Betrachten der Berichte über Zwangssymptome bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen im Rahmen eines genetischen Syndroms der Eindruck, dass dabei vor allem Zwangshandlungen in Form von Wiederholungsritualen, Symmetrie- und Ordnungszwängen sowie ritualisierten Kontrollhandlungen überwiegen. Dies ähnelt eher dem häufig zu beobachtenden Verhalten einer vorübergehenden Entwicklungsstufe bei Kindern zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr. Typische Zwangsgedanken in Form von z. B. Ekel, Krankheitsbefürchtungen usw. mit anschließenden, die Angstgedanken neutralisierenden Zwangshandlungen werden nicht beschrieben bzw. lassen sich bei den betroffenen Patienten nur schwer eruieren. Die Frage, ob es sich bei der Zwangssymptomatik, die Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung entwickeln können, tatsächlich um eine Zwangsstörung oder eher um typische Verhaltensweisen einer frühkindlichen Entwicklungsstufe handelt, lässt sich derzeit nicht eindeutig beantworten [29]. Abschließend muss betont werden, dass die problematischen Verhaltensweisen der betroffenen Personen nicht nur psychobiologisch determiniert sind, sondern teilweise

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Übersicht

Behandlung und Therapie !

Die ätiologischen und phänomenologischen Unterschiede zwischen einer „primären Zwangsstörung“ und einer sekundären Zwangsstörung bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung einerseits und die individuellen psychologisch-psychodynamischen und motivationalen Unterschiede implizieren somit die Notwendigkeit individuell ausgearbeiteter Behandlungsstrategien und Interventionen auf der Basis eines integrativen Therapieansatzes. Während sich in der Behandlung von Patienten mit „primärer Zwangsstörung“ die Kombination von Verhaltenstherapie und selektiven Serotonin-WiederaufnahmeHemmern (SSRIs) als effektiv erwies und allgemein etabliert ist [siehe dazu 30], fehlt bei der Behandlung der Patienten mit intellektueller Entwicklungsstörung und zusätzlicher Zwangssymptomatik ein ähnliches standardisiertes multimodales Therapiekonzept. Ein wesentlicher Grund dafür liegt auch darin, dass sowohl zur Psychotherapie als auch zur Pharmakotherapie dieser umschriebenen Patientengruppe keine kontrollierten Untersuchungen vorliegen und lediglich Aussagen und Befunde zur Therapieresponse aus wenigen offenen Studien und überwiegend Einzelfalldarstellungen herangezogen werden können [13, 31]. Interessanterweise werden bis zu 45 % der Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung psychopharmakologisch behandelt, wobei dies bei 14 – 30 % aufgrund von diversen Verhaltensauffälligkeiten durchgeführt wird [31]. Dabei werden im Wesentlichen antipsychotische Substanzen wie Haloperidol, Fluphenazin und die Atypika Risperidon, Aripiprazol oder Olanzapin eingesetzt, während Antidepressiva wie die SSRIs nur vereinzelt angewendet werden [31]. Gerade aber der Einsatz von Atypika bei dieser Personengruppe könnte das Risiko für die Manifestation von Zwangssymptomen erhöhen, zumal sich aus der Literatur Hinweise ergeben, dass atypische Neuroleptika (z. B. Clozapin, Risperidon, Olanzapin) bei schizophrenen und bipolar erkrankten Patienten das Auftreten von Zwangssymptomen triggern können [32]. Untersuchungen, ob diese Atypika auch bei Patienten mit intellektueller Entwicklungsstörung das Auftreten komorbider Zwangssymptomatik begünstigen, liegen unseres Wissens nicht vor, allerdings kann aufgrund der erhöhten ZNSVulnerabilität ein entsprechendes Risiko dafür angenommen werden. Berichte über positive Effekte bei der Behandlung von Zwangssymptomen bei Patienten mit intellektueller Entwicklungsstörung liegen für Fluoxetin und Clomipramin vor. Andere SSRIs wie Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin und Citalopram wurden zur Behandlung repetitiver und aggressiver Verhaltensstörungen intelligenzgeminderter Patienten eingesetzt und zeigten sich dabei auch effektiv [31]. Sutor et al. berichten über die erfolgreiche Kombination verschiedener SSRIs (Citalopram, Fluoxetin, Sertralin) mit Risperidon bei der Behandlung von Down-Syndrom-Patienten, bei denen eine Zwangssymptomatik und andere psychopathologische Symptome (Halluzinationen, Aggression, Depression) bestanden [33]. Hinsichtlich der Dauer und Dosis einer SSRI- bzw. ClomipraminMedikation zur Behandlung der Zwangssymptomatik bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung können keine

allgemein gültigen Empfehlungen ausgesprochen werden. Grundsätzlich sollte die Pharmakotherapie aufgrund der erhöhten ZNSVulnerabilität wegen der hirnorganischen Vorschädigung und der evtl. bestehenden somatischen Komorbidität vorsichtig mit niedriger Einstiegsdosis und langsamer Aufdosierung erfolgen. Kasuistische Darstellungen über verhaltenstherapeutische Interventionen legen nahe, dass einzelne Patienten mit Intelligenzminderung und Zwangssymptomatik von einer Expositionsbehandlung mit Reaktionsverhinderung profitieren können [13]. Allerdings muss kritisch betont werden, dass die verhaltenstherapeutischen Interventionen inhaltlich und zeitlich den individuellen Beeinträchtigungen (z. B. Kapazität bzgl. Konzentrationsleistungen) und Fähigkeiten angepasst werden sollten. Als erster Interventionsschritt kann die Durchführung einer Verhaltensanalyse der Zwangssymptomatik versucht werden und könnte bei den betroffenen Patienten zu einer Besserung führen [13]).

Fazit für die Praxis !

Die Diagnose einer Zwangsstörung bei Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung ist aufgrund der sprachlich-kognitiven Defizite und der großen phänomenologischen Überlappung häufiger Komorbiditäten nicht immer eindeutig zu stellen. Einige der genetischen Syndrome, die mit einer intellektuellen Beeinträchtigung einhergehen, scheinen jedoch stärker mit dem Auftreten zusätzlicher Zwangssymptome assoziiert sein. Trotz weiteren Forschungsbedarfs sollte eine Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen individuell angepasst erfolgen.

Take Home Message

▶ Zwangssymptome treten bei Personen mit einer intellek-





tuellen Entwicklungsstörung mit einer Häufigkeit von bis zu 3,5 % auf und stellen bei einzelnen genetischen Syndromen typische psychopathologische Verhaltensauffälligkeiten dar. Das Erkennen der Zwangssymptomatik und ihre Abgrenzung von häufig gleichzeitig bestehenden Stereotypien und repetitiven Verhaltensstörungen ist schwierig, zumal sich die betroffenen Personen infolge ihrer sprachlich-kognitiven Beeinträchtigungen nicht differenziert ausdrücken können. Bei der Behandlung der Zwangssymptomatik mittels SSRIs und Verhaltenstherapie sollte auf die erhöhte ZNS-Vulnerabilität und die individuellen Fähigkeiten geachtet werden.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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[Obsessive Compulsive Symptoms in Persons with Intellectual Disabilities].

Obsessive-compulsive symptoms are common with a high prevalence of 3.5 % in adults with intellectual disabilities (ID). The present article reviews di...
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