Originalien Anaesthesist 2015 · 64:33–38 DOI 10.1007/s00101-014-2401-0 Eingegangen: 18. Juli 2014 Überarbeitet: 2. September 2014 Angenommen: 17. Oktober 2014 Online publiziert: 9. Januar 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

S. Wicker1 · S. Wutzler2 · A. Schachtrupp3 · K. Zacharowski4 · B. Scheller4 1 Betriebsärztlicher Dienst, Universitätsklinikum Frankfurt, Frankfurt a. M. 2 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Frankfurt, Frankfurt a. M. 3 B. Braun Melsungen AG, Melsungen 4 Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie,

Universitätsklinikum Frankfurt, Frankfurt a. M.

Arbeitsbedingte Blutexpositionen in der Polytraumaversorgung Die medizinische Versorgung Schwerstverletzter erfordert von ­allen beteiligten Disziplinen und ­Berufsgruppen ein Höchstmaß an Fertigkeiten. Handlungsabläufe in der präklinischen Situation und im Schockraum sind meist wenig plan­ bar und zeitkritisch. Die u. U. kom­ plexen invasiven Tätigkeiten können ein Infektionsrisiko sowohl für das medizinische Personal als auch für den Patienten bedeuten.

Hintergrund Mitarbeiter aus der Chirurgie und der Notfallmedizin weisen die höchsten Raten von berufsbedingten Blutkontakten auf [9]. Persönliche Schutzausrüstungen (z. B. Handschuhe, doppelte Handschuhe, Schutzbrille, Mund-Nasen-Schutz) können die Exposition des medizinischen Personals gegenüber Körperflüssigkeiten minimieren [10]. Krankenhaushygienische Schutzmaßnahmen (z. B. konsequente Händehygiene) schützen sowohl die Patienten als auch die Mitarbeiter. Akzeptanz von Standardhygienemaßnahmen und Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung in der Notfallversorgung sind jedoch oftmals unzureichend [3, 6, 11, 12, 13, 18]. Die Risikoeinschätzung des medizinischen Personals hinsichtlich der persönlichen Infektionsgefährdung ist maßgeblich für die Compliance bezüglich der

Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung [4]. Um eine höhere Akzeptanz in der Durchführung von Schutzmaßnahmen zu erreichen, muss das medizinische Personal das Risiko einer Infektionsübertragung realistisch einschätzen können. Hierzu ist es auch unabdingbar, dass Kenntnisse hinsichtlich der virologischen Befundinterpretation bestehen. Das Infektionsrisiko durch eine Nadelstichverletzung (NSV) hängt vom Infektionsstatus des Indexpatienten und seiner Viruslast, dem Immunstatus des medizinischen Beschäftigten, der Verletzungstiefe, der Dauer des Kontakts und dem Zeitintervall zwischen Verletzung und Reinigung der Wunde sowie der Anwendung prophylaktischer Maßnahmen ab [8, 9]. Das Transmissionsrisiko variiert je nach Exposition erheblich. Entscheidend für das weitere Prozedere nach einem beruflichen Blutkontakt sind somit die Analyse der Exposition (z. B. NSV mit Hohlnadel bzw. keine Hohlraumkanüle, tiefe oder oberflächige NSV bzw. Schleimhautkontakt) und die möglichst genaue Dokumentation des Infektionsstatus des Indexpatienten [blutübertragbare Infektion bekannt? Viruslast, bestehende Medikamentenresistenzen eines „Humanimmunodeficiency-virus“(HIV)-positiven Indexpatienten]. Die Indikation zur HIV-Postexpositionsprophylaxe (HIVPEP) resultiert aus der Abwägung zwi-

schen der Reduktion des HIV-Transmissionsrisikos und der möglichen Nebenwirkungen durch die HIV-PEP. Damit ist die HIV-Viruslast des Indexpatienten essenziell [14]. Ziel der vorliegenden Pilotstudie war es daher, das Wissen der Mitarbeiter in der Polytraumaversorgung bezüglich der Transmissionswahrscheinlichkeit von blutübertragbaren Infektionen [Hepatitis B (HBV), Hepatitis C (HCV) und HIV] sowie die Akzeptanz von Schutzmaßnahmen und die Häufigkeit von stattgefundenen NSV zu erheben. Darüber hinaus wurde die Einstellung der Polytraumaversorger in Bezug auf die virologische Untersuchung des Indexpatienten, sollte es zu einem arbeitsbedingten Blutkontakt gekommen sein, erfragt.

Methoden Ein für die Studie entwickelter standardisierter Fragebogen wurde im Juli 2014 im Rahmen der zertifizierten Fortbildung zum Thema Schwerverletztenversorgung (Kasseler Symposium „Praxis der Polytrauma-Versorgung“) an die Teilnehmer (n=38) sowie Referenten und Tutoren (n=46) der Veranstaltung ausgeben. Bevor der Fragebogen entwickelt wurde, fand eine Literaturrecherche zu ähnlichen Studien in PubMed statt. Der Fragebogen wurde aus interdisziplinärer Sicht (Anästhesie, Arbeitsmedizin, Notfallmedizin und Unfallchirurgie) erstellt. Der Anaesthesist 1 · 2015 

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Anteil (%)

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Abb. 2 8 Subjektive Einschätzung hinsichtlich des statistischen Risikos für einen nicht-Hepatitis-B-geimpften Mitarbeiter, nach einer Nadelstichverletzung bei einem HBsAg-positiven Indexpatienten eine Hepatitis-B-Virus-Infektion zu bekommen (n=76). Die korrekte Antwort ist farblich markiert

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5 5% 10 – 30% >50% 0,4 – 1,5% Transmissionswahrscheinlichkeit für Hepatitis C

Abb. 3 8 Subjektive Einschätzung hinsichtlich des statistischen Risikos, nach einer Nadelstichverletzung bei einem infektiösen Indexpatienten eine HCV-Infektion zu bekommen (n=76). Die korrekte Antwort ist farblich markiert

Der 2-seitige Fragebogen enthielt insgesamt 23 Fragen zu blutübertragbaren Infektionen, Transmissionswahrscheinlichkeit, eigenem Hepatitis-B-Impfstatus, Anwendung von persönlicher Schutzausrüstung (Handschuhe, doppelte Handschuhe, Schutzbrille, Mund-Nasen-Schutz), stattgehabten NSV und zur Untersuchung des Indexpatienten.

Statistische Analysen Die statistische Aufarbeitung der Kontingenztabellen erfolgte mit dem Fisher-Exakt-Test (GraphPad QuickCalcs: http:// www.graphpad.com/quickcalcs/contingency1/.cfm San Diego, CA, zugegriffen Juli 2014).

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Abb. 1 8 Subjektive Einschätzung hinsichtlich des Risikos einer Transmission von blutübertragbaren Erregern in der Polytraumaversorgung (n=76)

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1,3 5% 10 – 30% 0,1 – 0,3% Transmissionswahrscheinlichkeit für HIV

>50%

Abb. 4 8 Subjektive Einschätzung hinsichtlich des statistischen Risikos, nach einer Nadelstichverletzung bei einem infektiösen Indexpatienten eine Humane-Immundefizienz-Virus(HIV)-Infektion zu bekommen (n=76). Die korrekte Antwort ist markiert

Ergebnisse Von den insgesamt 84 Teilnehmern des Symposiums füllten 76 den anonymen Fragebogen aus (Rücklauf 90,5%). Hierbei handelte es sich um ärztliches Personal (80,3%, n=61) sowie um Angehörige des Rettungsdienstes, der Intensivpflege und um Humanmedizinstudenten (19,7%, n=15). Aufgrund der Anonymität der Befragung können keine Angaben zu denjenigen, die den Fragebogen nicht beantwortet hatten, gemacht werden. Es ließen sich 57,9% der Studienteilnehmer der Anästhesie, 35,5% der Chirurgie und 6,6% anderen Fachrichtungen zuordnen. Insgesamt 65,8% (n=50) der Befragten waren männlich, und 34,2% (n=26) waren weiblich.

Fast jeder 3. Studienteilnehmer (30,2%, n=23) schätzte das Risiko einer Transmission von blutübertragbaren Erregern in der Polytraumaversorgung als hoch bzw. sehr hoch ein (. Abb. 1). Diese beruflich bedingte Infektionsgefährdung beunruhigt 7,9% (n=6) der Befragten sehr, 68,4% (n=52) mäßig und 23,7% (n=18) gar nicht. Insgesamt 76,3% (n=58) der Befragten gaben an, dass die HCV-Infektion die blutübertragbare Infektion ist, vor der sie sich am meisten fürchten. Eine HIVInfektion wurde in diesem Kontext am zweithäufigsten angegeben (21,1%, n=16). Dagegen fürchteten nur 2 der Befragten die HBV-Infektion am meisten; es nannten 2 Studienteilnehmer zusätzlich noch

Zusammenfassung · Abstract Tuberkulose und ein Teilnehmer Meningitis. Von den Befragten gaben 96,1% (n=73) an, vollständig gegen HBV geimpft zu sein, allerdings wussten nur 47,4% (n=36) ihren Anti-HBs-Titer. Hiervon hatten 80,6% (n=29) ein Anti-HBs ≥100 IU/l und 19,4% (n=7) ein Anti-HBs zwischen 10 und 99 IU/l. Interessanterweise gaben auch 11,8% der Studienteilnehmer (n=9) an, vollständig gegen HCV geimpft zu sein. Hierbei handelte es sich um 6 Anästhesisten, einen Chirurgen und 2 „sonstige“ Teilnehmer. Das statistische Risiko für einen Beschäftigten, der nicht gegen HBV geimpft ist, nach einer NSV bei einem HBV-infektiösen Indexpatienten mit HBV infiziert zu werden, beträgt ca. 30% [8, 9]. Dieses Risiko wurde von 61,9% der Befragten unterschätzt (n=47; . Abb. 2). Das statistische Risiko (ca. 1%, [8, 9]), nach einer NSV bei einem HCV-infektiösen Indexpatienten mit HCV infiziert zu werden, wurde von mehr als drei Viertel der Befragten überschätzt (. Abb. 3). Die Mitarbeiter, die HCV-Infektion am meisten fürchteten (n=58), überschätzten zu 86,2% das Risiko der HCV-Übertragung (p

[Occupational exposure to blood in multiple trauma care].

Trauma care personnel are at risk of occupational exposure to blood-borne pathogens. Little is known regarding compliance with standard precautions or...
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