156 KIm. Mb!. Augenheilk. 197 (1990)

Paraneoplastische Retinopathie unter dem klinischen Bud einer Zapfendystrophie mit Achromatopsie D. G. Cogan, T. Kuwabara, J. Currie, J. Kattah Department of Health & Human Services, National Institute of Health, Bethesda, Maryland

Zusammenfassung Eine 72jahrige Patientin entwickelte eine rezidivierend auftretende hochgradige Sehverschlechte-

rung nach Einwirkung von hellem Sonnenlicht. Die ophthalmologische Untersuchung ergab eine volistandige Achromatopsie, bilaterale, zentrale Skotome, einen uberwiegenden Verlust der Zapfenantwort im Elektroretinogramm und eine Verengung der retinalen Arterien. Bei der Aligemeinuntersuchung wurde em pleomorphes Karzinom im Becken diagnostiziert, das vermutlich vom Uterus ausging. Die Patientin starb 9 Mo-

nate nach Beginn der okularen Symptomatik an generalisierten Metastasen. Die histopathologische Untersuchung der Augen zeigte einen Verlust der Photorezeptoren, uberwiegend im Bereich der Makula, und einen selektiven Zapfenverlust in der ubrigen Netzhaut. Aderhautmetastasen oder Entzundungszeichen wurden nicht nacligewiesen. Die beschriebenen Veranderungen werden als durch einen AutoimmunprozeB induzierte paraneoplastische Retinopathie gedeutet.

Paraneoplastic Retinopathy Presenting as a Cone Dysfunction with Achromatopsia ______________________________

A 72-year-old woman developed recurrent blindness on exposure to bright light (sunlight). Examination revealed total achromatopsia; bilateral central scotomas, predominant suppression of the cone response by electroretinography, and narrowing of the retinal arteries on ophthalmoscopy. The general examination revealed a pelvic tumor that later proved to be a pleomorphic carcinoma of presumed uterine origin. The

patient died of metastatic disease 9 months after the ocular symptoms developed. Histopathologic examina-

tion of the eyes revealed loss of the photoreceptors,

most extensive in the macular regions, and selective loss of the cones from the rest of the retinas. No ocular me-

tastases of inflammation were found. The changes described are interpreted as paraneoplastic retinopathy of autoimmune origin. _________________________________________________

___________________________________________________ KIm. MbL Augenheilic 197 (1990) 156158

Als paraneoplastische Retinopathie wird em degenerativer NetzhautprozeB bezeichnet, der in Zusammenhang mit einem malignen Tumor im Korper ohne das Vorhandensein okularer Metastasen auftritt. Zwei Formen lassen sich unterscheiden. In 11 Fallen wurde em Verlust der Photorezeptorschicht, ähnlich einer akuten Retinitis pigmentosa beobachtet (1, 3, 4, 8, 11, 12, 13), in 3 Fallen kam es zum Verlust retinaler Ganglienzellen und Nervenfasern (2, 5, 9, 10). Wir berichten eine Formvariante des Photorezeptorverlustes, bei dem die klinischen Befunde wie auch die spater gefundenen morphologischen Veränderungen auf einen selektiven Zapfenverlust hindeuten. Au-

Berdem geht der hier vorgesteilte Fall nicht mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom (8 Falle; 3, 11, 12, 13), sondern mit einem malignen Tumor des Beckens einher, was eher ungewohnlich ist (2 Falle; 4, 8). Pathogenetisch wird auf Grund des Auftretens von Netzhautantikorpern im Serum (4, 6, 9, 10, 12) und eines Tumorantigens (5, 6) an einen Autoimmunprozel3 gedacht. Fallbeschreibung Eine 72jahrige, dunkeihautige Patientin, die angab, immer gesund gewesen zu sein, hatte nach dem Besuch eines China-Restaurants unter Einwirkung von hellem Sonnenlicht einen plotzlichen Visusverlust bemerkt. Als sie zu Hause ankam,

hatte sich der Visus weitgehend erholt. Jedoch bemerkte sie im Verlauf der nachsten Tage eine langsame, erneute Sehverschlechterung. Das Tragen dunkler Glaser im Freien wurde von der Patientin als angenehm empfunden. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Hinweise, die fur oder gegen eine Glutamat-Intoxikation gesprochen h.tten (sog . ,,chinese restaurant syndrome").

Wenige Tage nach dem Auftreten der Sehstorungen ergab die ophthalmologische Untersuchung folgende Befunde: Die Patientin hatte beidseits einen Vjsus von 0,4 und asymmetrische, zentrale Skotome. Auller einer geringgradigen Engstellung der retinalen Gefalle fanden sich normale vordere und hintere Augenabschnitte. Es lag eine erhOhte Lichtempfindlichkeit vor, zusätzlich eine absolute Farbenblindheit. Das Elektroretinogramm (ERG) war erloschen.

Bei der Untersuchung der visuell evozierten Potentiale (VEP) steilten sich verzogerte Latenzen dar, wahrend sich auf Musterreize keine Antworten ableiten helen. Die neurologische Untersuchung, die auch em Computertomogramm und em Kernspintomogramm einschloll, war unauffallig. Zwei Lumbalpunktionen

erbrachten: 16—20 Lymphozyten/mm3, 7 Erythrozyten/mm3,

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Herrn Professor Dr. O.-E. Lund zum 65. Geburtstag gewidmet

Paraneoplastische Relinopathie unter dem klinischen Bud einer Zapfendystrophie Abb. 1 Augenhintergrund des inken Auges mit

a-a£

K/in. Mb!. A ugenhei!k. 197(1990) 157

wr?

CS S f. a.L4 — t—

... J.. —

.-..

feingranularer Rigmentierung der Makula und verengten Gefätlen (artefizielle Abblassung der Rapitlef.

S 2 Monozyten/mm3, Protein 39—41 mg/dl und Glukose 95—106 mg/dl. Die serologischen Parameter auf Lues und Cryptococcus, wie auch das Myelin-Protein, waren unauffallig. Em Carotis-Angiogramm zeigte keinerlei Obstruktionen oder Entzundungen. Als einziger pathologischer Parameter fiel eine persistierende Erhohung der Laktat-Dehydrogenase im Serum auf. Immunologische

Abb. 2 Dünnschnitt l2t) des Beckentumors mit pleomorphen Zeikernen (H&E-Farbung)

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Studien des Serums wurden nicht durchgefuhrt. Auch war das Vorliegen eines malignen Tumors zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Pine subjektive Besserung wurde auch nach zweiwochiger systemischer Gabe von Corticosteroiden nicht erreicht. Die Wiederholungsuntersuchung nach zwei Monaten zeigte, daB der Visus beidseits auf 0,1 abgesunken war. Besonders auffallend war eine extreme Lichtempfindlichkeit der Patientin, die sich in einem Visusverlust auf Lichtwahrnehmung bei hellem Gegenlicht ausdruckte. Ophthalmologisch fand sich eine leicht geweilte, retinale Oberfläche, eine beidseitige fein-granulare Pigmentierung der Makula (Abb. 1) sowie verengte retinale Arterien. Es bestand eine absolute Achromatopsie. Das ERG zeigte eine Reduktion der Zapfenantwort, das VEP war erloschen. Beide Pupillen reagierten verzogert auf Licht.

Der Verdacht auf das Vorliegen einer paraneoplastischen Retinopathie wurde trotz des aligemeinen Wohlbefindens der Patientin geaul3ert. Em blutiger, vaginaler AusfIull wurde von der Patientin auf Grund der Farbenblindheit nicht als Blut erkannt und somit als nicht beunruhigend mil3gedeutet. Die weitere Untersuchung zeigte das Vorhandensein eines malignen Tu-

mors im Becken und Abdomen. Durch Biopsie wurde em teils kleinzelliges, endometriales Karzinom diagnostiziert. Die Lungen waren radiologisch tumorfrei. Die Patientin verstarb einige Monate später an ihrem ausgedehnten abdominalen Tumor.

Abb. 3 Mikroskopische Schnitte (71') durch die parafoveale Retina mit Verlust der Photorezeptorschicht und Einwanderung von pigmentierten Makrophagen in die Retina. Die inneren Retinaschichten sind unauffallig.

Morphologische Befunde Die Autopsie ergab eine massive Infiltration des

Abdomens mit einem Tumor, der sich aus Uterusgewebe entwickelt hatte. Der Tumor bestand aus nicht differenzierten, anaplastischen Zellen mit pleomorphen Zellkernen und eosinophilem Zytoplasma (Abbildung 2). Farbungen mit adrenokortikotropem Hormon (ACTH), choriongoniotropem Hormon (HCG), Glucagon, Insulin, Keratin, S-l00-Antigen und epithelialem Membranantigen (EMA) waren negativ. Nur die Farbung mit neuronaler Enolase war positiv. Die Endothelmikroskopie zeigte einen wenig

differenzierten Tumor ohne neurosekretorische Granula oder Mucingranula und ohne Keratinfilamente. Als einziger pathologischer Lungenbefund wurde em weniger als 1 cm groBes Chemodektom entdeckt.

Histopathologisch wiesen beide Augen keine Unterschiede auf. Die vorderen Augenabschnitte waren normal. Auffalligster pathologischer Befund im Hinterabschnitt beider

Abb. 4 Dünnschnitt (21'), 4 mm entfernt von der Fovea: Verlust von Zapfen und Darstellung der intakten Stdbchen.

D. G. Cogan und Mitarb.: Paraneoplastische Retinopathie einer Zapfendystrophie

Augen war em partieller Verlust der Photorezeptoren und des darunterliegenden Pigmentepithels (Abb. 3 und 4). Diese Verhnderungen waren in der Makularegion am starksten ausgepragt und glichen dem Bud einer idiopathischen Makuladegeneration. Die Photorezeptoren und die äullere Kornerschicht fehiten hier youstandig, wobei gleichzeitig eine Einwanderung von pigmentierten Makrophagen vorlag. An einem Auge konnte em Makulaforamen nachgewiesen werden. Das darunterliegende Pigmentepithel war vorhanden, jedoch abgeflacht und z.T. depigmentiert. Die Ganglienzellschicht und die Schicht der bipolaren Zellen waren morphologisch unauffallig. Das den Sehnerven umgebende Gewebe zeigte einen Verlust von Photorezeptoren und eine VerdQnnung des Pigmentepithels wie im Makulagebiet. Einige andere Gebiete der Retina zeigten einen ahnlichen, jedoch weniger ausgepragten Photorezeptorverlust. Auf den ersten Buck erschienen die Photo-

rezeptoren in anderen Regionen unauffallig, jedoch konnte mit Hilfe von in Kunststoff eingebetteten Dunnschnitten gezeigt werden, daB auch hier die zugehorigen Zelikerne zu den Zapfen fehiten. Demgegenuber waren die Stäbchen und ihre zugehOrigen Zelikerne relativ gut erhalten. Die Chorioidea einschliefllich der Choriocapillaris war normal. Es lag keine Optikusatrophie vor. Entzundungszeichen wurden nicht gefunden. Die elektronenmikroskopischen Befunde bestatigten die oben beschriebenen Veranderungen.

Fall lag em endometriales Karzinom des Uterus vor. Tmmunologische Studien des Serums sowie Antigenuntersuchungen waren leider nicht durchgefuhrt worden. Auch war nicht geprUft worden, ob em dem Tumor und der Retina gemeinsames Antigen vorhanden war. Obwohl im vorliegenden Fall auf em autoimmunes Geschehen geschlossen wird, erscheint es ungewohnlich, dalI em ausschlieBlich degenerativer ProzeB vorliegt und entzundliche Zeichen

ganzlich fehlen. Die meisten Autoimmunprozesse emschlielllich anderer Formen paraneoplastischer Retinopathien mit Ganglienzellverlust und Neuropathie des Sehneryen (2, 6) sowie auch die experimentellen Retinopathien (7) wiesen eindeutige entzundliche Veranderungen auf.

Literatur

2

Schlullbetrachtung

Eine 72jahrige, schwarze Patientin entwickelte innerhalb weniger Tage einen rasch zunehmenden und schmerzlosen Visusverlust in Verbindung mit extremer Blendempfindlichkeit. Die Untersuchung ergab asymme-

trische, zentrale Skotome, eine totale Achromatopsie mit abgeflachtem VEP und em Fehien der Zapfenantworten mit abgeschwachten Stäbchenantworten im ERG. Die retinalen GefaBe waren verengt und die Makularegion zeigte eine fein-granulare Pigmentierung. All dies lieB auf einen Photorezeptordefekt mit bevorzugtem Befall der Zapfen schliel3en. Als Ursache fur eine vorher nicht erkannte vaginale Blutung wurde em maligner Tumor im unteren Abdomen entdeckt, der sich mit Hilfe einer Biopsie als endometriales Karzinom des Uterus differenzieren lieB. Die Patientin verstarb 9 Monate nach Eintreten der ersten Visusminderung. Histopathologisch fand sich in beiden Augen em selektiver Zapfenverlust.

6

Boghen, D., H. Sebag, J. Michaud: Paraneoplastic optic neuritis and encephalomyelitis. Report of a case. Arch. Neurol. 45(1988)353—356 Buchanan, T. A., T. A. Gardiner, D. R. Archer: An ultrastructural study of retinal photoreceptor degeneration associated with bronchial carcinoma. Am. J. Ophthalmol. 97 (1984) 277—287 Crofts, J. W., B. N. Bachynski, J. 0. Ode!: Visual paraneoplastic syndrome associated with undifferentiated endometrial carcinoma. Can. J. Ophthalmol. 23 (1988) 128—132 Grunwald, G. B., R. Klein, M. A. Si,nmonds, S.E. Kornguth: Autoimmune basis for visual neoplasia in patients with small cell lung carcinoma. Lancet 1 (1985) 658—661 Grunwald, G. B., S. E. Kornguth, J. Towfigli, J. Sassani, M. A. Simmont/s. C. H. Housman, N. Papadopoulos: Autoimmune basis for visual paraneoplastic syndrome in patients with small cell lung carcino-

ma. Retinal immune deposits and ablation of retinal ganglion cells. Cancer 60 (1987) 780—786

Hirose, S., T. Kuwabara, R. B. Nussenbiati, B. Wiggert: Uveitis induced in primates by interphotoreceptor retinoid-binding protein. Arch. Ophthalmol. 104 (1986) 1698—1702

Keltner, J. L., A. M. Roth, S. Chang: Photoreceptor degeneration.

10

Possible autoimmune disorder. Arch. Ophthalmol. 101 (1983) 564—569 Kornguth, S. E., P. Klein, R. Appen, J. Choale: Occurrence of anti-retinal ganglion cell carcinoma of the lung. Cancer 50 (1982) 1289—1293 Kornguth, S. F., T. Kalinka, G. B. Grunwald, H. Schutta, D. DahI: Anti-neurofilament antibodies in the sera of patients with small cell carcinoma of the lung and with visual paraneoplastic syndrome: Cancer Research 46 (1986) 2588—2595

2

Vermutet wird das Vorliegen einer paraneoplastischen Retinopathie, wie sie ursprunglich von Sawyer, Selhorst, Zimmerman und Hoyt (11) und spater von anderen Autoren (3, 4, 8, 12, 13) beschrieben wurde.

Berson, E. L., S. Lessel: Paraneoplastic night blindness with malignant melanoma. Am. J. Ophthalmol. 106 (1988) 307—311

'

Sawyer, R. A., J. B. Selhorsl, L. Z. Zimmerman, W. F. Hoyt: Blindness caused by photoreceptor degeneration as a remote effect of cancer. Am. J. Ophthalmol. 81(1976) 606—613 Thirkill, C. E., A. M. Roth, .1. L. Keltner: Cancer associated retinopathy. Arch. Ophthalmol. 105 (1987) 372 Van der Pol, B. A., J. T. Planten: A non-metastatic remote effect of lung carcinoma. Doc. Ophthalmol. 67 (1987) 89—94

Manuskript erstmals eingereicht 8. 11. 1989 zur Publikation in der vorliegenden Form angenommen 6. 12. 1989.

Der hier vorgestellte Krankheitsverlauf unterscheidet sich von den fruher publizierten Fallen durch die bevorzugte Schadigung der photopischen Antworten David G. Cogan, M. D. im ERG und die ausgepragte Beteiligung beider Makulae. Building 10, Room 6C40l Eye Institute Das Auftreten euler paraneoplastischen Retinopathie in National Bethesda, MD 20892 Verbindung mit einem Tumor im Becken wurde bisher nur USA in zwei weiteren Fallen beschrieben (4, 8). Im vorgestellten

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

158 KIm. Mb!. Augenheilk. 197 (1990)

[Paraneoplastic retinopathy simulating cone dystrophy with achromatopsia].

A 72-year-old woman developed recurrent blindness on exposure to bright light (sunlight). Examination revealed total achromatopsia; bilateral central ...
316KB Sizes 0 Downloads 0 Views