Aktuelles aus Diagnostik und Therapie Nervenarzt 2015 · 86:483–490 DOI 10.1007/s00115-015-4287-8 Online publiziert: 3. April 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

V.I. Leussink1 · C. Warnke1 · B. Tackenberg2 · H. Wiendl3 · B.C. Kieseier1 1 Neurologische Klinik, Medizinische Fakultät, Universitätsklinikum

Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf 2 Klinik für Neurologie, Philipps-Universität, Marburg 3 Klinik für Allgemeine Neurologie, Universitätsklinikum Münster

Pegyliertes Interferon-beta 1a Eine neue Therapieoption zur Behandlung der schubförmigen multiplen Sklerose

Die Immuntherapie der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose (MS) hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend und kontinuierlich verändert. Seit der Einführung der ersten Immunmodulatoren, Interferon-beta (IFN-β) und Glatiramerazetat, erhielten zahlreiche weitere Immuntherapeutika eine Zulassung zur Therapie der MS. Mit den erweiterten

Therapieoptionen hat sich aber auch gezeigt, dass bei der Wahl eines geeigneten Therapeutikums auch unerwünschte Wirkungen Berücksichtigung finden müssen. IFN-β hat sich über die letzten 20 Jahre als wirksame und sichere Behandlung, auch bei Langzeitanwendung, zur MS-Therapie bewährt. Aus Sicht betroffener Patienten besteht allerdings Op-

Vorteil

Hintergrund

Höhere Stabilität und Löslichkeit

PEG sind biologisch inerte wasserlösliche Polymere (linear oder verzweigt)

timierungsbedarf insbesondere hinsichtlich der Applikationsfrequenz. Es erscheint aus Patientensicht attraktiv ein IFN-β-Präparat zu verwenden, das bei belegter oder möglichst verbesserter Wirksamkeit und Sicherheit einfacher und weniger häufig anzuwenden ist [11]. In anderen Therapiefeldern findet dafür das Verfahren der Pegylierung Anwendung.

PEG Protein

Verlängerung der Halbwertzeit

Pegylierung vergrößert das Proteinmolekül

Gesteigerte Exposition Folge: Verlangsamung der renalen Clearance Verlängerung der Halbwertszeit und Erhöhung der Exposition



PEG-Molekülmasse Verlangsamter Abbau, reduzierte Gewebegängigkeit und Immunogenität

PEG bildet eine Art Schutzschild um das Protein Schutz vor Erkennung durch das Immunsystem und proteolytischer Inaktivierung Immunogene Stelle

Abschirmung gegen Erkennung durch Makrophagen, Antikörper und proteolytische Enzyme

Abb. 1 8 Die Pegylierung stellt ein seit vielen Jahren etabliertes Verfahren zur pharmakologischen Optimierung therapeutisch aktiver Proteine dar. PEG Polyethylenglykol. (Mod. nach [2, 8, 9, 16]) Der Nervenarzt 4 · 2015 

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Abb. 2 9 Schematische Darstellung des Moleküls PEG-Interferon(IFN)-β1a. Die Pegylierung der α-Aminogruppe der N-terminalen Aminosäure Methionin beeinträchtigt nicht die IFN-Rezeptorbindung. (Mod. nach [11])

Pegylierung – ein etabliertes Verfahren Die Pegylierung stellt ein bewährtes Verfahren zur Verbesserung der Stabilität von Makromolekülen und zur Verlängerung sowie Erhöhung der Exposition dar ([9, 13], . Abb. 1). Dabei werden ein oder mehrere Moleküle des Polymers Polyethylenglykol (PEG) kovalent an ein Makromolekül, z. B. ein Protein wie IFN, gebunden [9]. Die Zielsetzung der Pegylierung besteht darin, die intrinsischen Aktivitäten von biologisch aktiven Proteinen so zu verbessern, dass sich die Wirksamkeit der Therapie optimieren und gleichzeitig die Applikationshäufigkeit durch eine längere Verfügbarkeit im Körper reduzieren lässt. Darüber hinaus kommt es durch die Pegylierung zu einer verminderten Erkennung des therapeutischen Biomoleküls, was zu einer Reduktion der Immunogenität führen und somit das Auftreten neutralisierender Antikörper vermindern kann. Zurzeit sind etwa zehn verschiedene pegylierte Arzneimittel weltweit zugelassen, darunter beispielsweise PEGIFN-α2a und -2b zur Behandlung der Hepatitis C und PEG-Certolizumab PEGol (Tumornekrosefaktor-Antikörperfragment) zur Therapie der rheumatoiden Arthritis und des Morbus Crohn [2, 11, 13, 15]. Viele weitere pegylierte therapeutische Substanzen befinden sich in der Entwicklung. Die Pegylierung von IFN-β1a hatte zum Ziel, ein anwenderfreundliches IFNβ-Präparat mit einer niedrigen Applikationshäufigkeit zu entwickeln, das eine gute Wirksamkeit bei bekanntem Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil kombiniert [3, 4, 9, 11, 13]. Die dabei für die Pegylierung verwendete Bindungsstel-

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Der Nervenarzt 4 · 2015

le (N-terminales Ende) beeinträchtigt die IFN-Rezeptor-Bindung nicht ([3], . Abb. 2). Pharmakokinetische Untersuchungen bei Mäusen, Ratten und Rhesusaffen belegten eine gegenüber nicht PEG-IFN-β1a deutlich herabgesetzte systemische Elimination von PEG-IFN-β1a bei gleichzeitiger Zunahme seiner antiviralen Aktivität im Serum der getesteten Spezies [14]. In einer weiteren Untersuchung bei Rhesusaffen zeigte PEG-IFN-β1a verglichen mit unverändertem IFN-β1a bei gleicher Dosierung eine etwa 40-fach reduzierte Elimination und eine um den Faktor drei verlängerte Halbwertzeit. Gleichzeitig nahm die maximale Serumkonzentration um den Faktor 7 und die sog. „area under the curve“ (AUC) um den Faktor 40 zu [4, 12]. In einer Toxizitätsstudie über 5 Wochen bei Rhesusaffen zeigte sich die Toxizität von freiem IFN-β1a und PEG-IFN-β1a vergleichbar [7].

Phase-I-Studien mit pegyliertem Interferon-beta 1a Zur Bestimmung der Pharmakokinetik, der Pharmakodynamik und des Sicherheits-/Verträglichkeitsprofils von Einzelund Mehrfachdosen von PEG-IFN-β1a wurden zwei randomisierte, verblindete Phase-I-Studien mit gesunden Probanden durchgeführt. In einer ersten Phase-Ia-Studie (Einzeldosisstudie) wurde bei 60 gesunden Probanden die Pharmakokinetik nach einmaliger s.c. und i.m. Gabe von 63, 125 und 188 µg PEG-IFN-β1a mit der i.m. Injektion von 30 µg IFN-β1a verglichen. Die niedrigste Dosis von 63 µg PEG-IFN-β1a ergab sich aus In-vitro-Studien, in der 63 µg PEG-IFN-β1a eine vergleichbare

Zusammenfassung · Summary Potenz wie 30 μg IFN-β1a im antiviralen CPE („cytopathic effect“) -Bioassay aufwies [6]. In dieser Einzeldosisstudie ergaben alle Dosierungen von PEG-IFNβ1a eine höhere Konzentration (Cmax and AUC168h) und eine längere Halbwertzeit. Die niedrigste Dosis von PEG-IFN-β1a führte zu einer ungefähr 4-fach höheren AUC als unter 30 μg IFN-β1a. Die AUC stieg dosisabhängig an, 125 und 188 μg zeigten einen 9- bis 14-fachen dosisproportionalen Anstieg. Die pharmakokinetischen Parameter unterschieden sich dabei nach s.c. bzw. i.m. Applikation nicht [6]. Daher wurden alle folgenden Studien mit einem s.c. Regime fortgeführt. In einer Phase-Ib-Studie (Mehrfachdosisstudie über 8 Wochen) wurde bei 69 gesunden Probanden PEG-IFN-β1a in verschiedenen Dosierungen (63, 125 und 188 µg) oder Placebo entweder im Abstand von 14 Tagen (Q2W) oder im Abstand von 4 Wochen (Q4W) s.c. appliziert [6]. Wie in . Abb. 3 dargestellt, korrelieren die IFN-β1a-Serumkonzentrationen mit IFN-induzierten Neopterinkonzentrationen. Die pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Profile von PEGIFN-β1a nach mehrmaliger Verabreichung zeigten sich vergleichbar mit den entsprechenden Profilen der Substanz in der Einzeldosisstudie. Eine Wirkstoffakkumulation wurde dabei nicht beobachtet. PEG-IFN-β1a zeigte sich in allen untersuchten Dosierungen und beiden gewählten Anwendungsfrequenzen als sicher und gut verträglich und entsprach einer Behandlung mit nichtpegyliertem IFNβ1a. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren grippeähnliche Nebenwirkungen [6]. Im Studienprogramm der Phase I ergab sich somit eine Dosierung von 125 µg als optimal, da hiermit eine höhere Exposition erzielt wurde als mit 63 µg PEGIFN-β1a, sich jedoch gegenüber 188 µg keine Dosisproportionalität mehr ergab. Das Nebenwirkungsprofil zeigte sich für 125 µg günstiger als für die höhere Dosierung.

Phase III – die ADVANCE Studie Aufgrund der positiven Ergebnisse aus der Präklinik, dem Phase-I-Studienprogramm

Nervenarzt 2015 · 86:483–490  DOI 10.1007/s00115-015-4287-8 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 V.I. Leussink · C. Warnke · B. Tackenberg · H. Wiendl · B.C. Kieseier

Pegyliertes Interferon-beta 1a. Eine neue Therapieoption zur Behandlung der schubförmigen multiplen Sklerose Zusammenfassung Die Pegylierung pharmakologischer Substanzen wurde in den 1970er Jahren als ein Verfahren entwickelt, um deren Wirkung zu verbessern und deren Elimination und damit Applikationsfrequenz zu reduzieren. Prominentes Beispiel ist die Pegylierung von Interferon(IFN)-α, das Ende der 1990er Jahre die Behandlung der viralen Hepatitis revolutionierte. Inzwischen ist es gelungen, ein pegyliertes Interferon-beta (PEG-IFN-β1a) zur Therapie der Multiplen Sklerose (MS) herzustellen, dessen Wirksamkeit und Sicherheit in einer Phase-III-Studie untersucht wurde (ADVANCE-Studie). Die Einjahresergebnisse dieser randomisierten, doppelblinden, multizentrischen und placebokontrollierten Studie bei mehr als 1500 MS-Patienten zeigen, dass die Gabe subkutanen PEG-IFN-β1a die jährliche Schubrate sowie auch die Behinderungs-

progression signifikant reduziert. Das Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil von PEG-IFNβ1a war dabei vergleichbar mit dem konventioneller IFN-β-Präparate, die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren grippeähnliche Symptome und Rötungen an der Injektionsstelle. Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen, dass PEG-IFN-β1a eine interessante neue Therapieoption zur Behandlung der schubförmigen MS darstellt, die eine hohe Interferonwirksamkeit mit dem bekannten Verträglichkeits- und Sicherheitsprofil der IFN-β-Therapie bei niedriger Applikationsfrequenz vereint. Schlüsselwörter Multiple Sklerose · Pegylierung · Interferon-beta · Wirksamkeit · Sicherheit

Pegylated interferon beta 1a. A new therapy option for treatment of relapsing-remitting multiple sclerosis Summary Pegylation of pharmacological substances was developed in the 1970s as a way of improving their efficacy and elimination and hence reducing the dosage frequency. A prominent example is pegylation of IFNα, which revolutionized the treatment of virus hepatitis in the late 1990s. Efforts have now succeeded in producing a pegylated interferon beta (PEG-IFN-β1a) to treat multiple sclerosis (MS) and the efficacy and safety have been investigated in a phase III trial called the ADVANCE study. The 1-year results of this randomized, double blind, multicenter, placebo-controlled study in more than 1500 MS patients show that administration of subcutaneous PEG-IFN-β1a significantly reduc-

und auch der langjährigen klinischen Erfahrungen bezüglich Sicherheit und Wirksamkeit mit IFN-β1a zur Behandlung der MS wurde die klinische Entwicklung von PEG-IFN-β1a unmittelbar mit einer PhaseIII-Studie fortgesetzt [11]. Die sog. ADVANCE-Studie wurde als randomisierte, multizentrische, doppelblinde Studie durchgeführt, um Wirksamkeit und Sicherheit von 125 µg PEG-IFNβ1a s.c. mit unterschiedlicher Applikationsfrequenz bei Patienten mit schubförmiger MS zu untersuchen [5]. Diese für 2

es the annual relapse rate and disability progression. The safety and tolerability profile of PEG-IFN-β1a was found to be similar to that of conventional IFN-β drugs. The most common adverse events were flu-like symptoms and redness at the injection site. The results of this study underscore that PEG-IFN-β1a is an interesting new therapeutic option in the treatment of relapsing-remitting MS that combines highly effective interferon with the established tolerability and safety profile of IFN-β at a reduced dosage frequency. Keywords Multiple sclerosis · Pegylation · Interferon beta · Efficacy · Safety

Jahre konzipierte klinische Studie war im ersten Jahr placebokontrolliert, am Ende des ersten Studienjahres wurden die Patienten der Placebogruppe in Verumarme mit unterschiedlicher Applikationsfrequenz randomisiert. Ursprünglich war seitens des Sponsors eine Vergleichsstudie Kopf-an-Kopf gegen IFN-β1a i.m. vorgesehen worden, die amerikanische Zulassungsbehörde jedoch erachtete einen Placebovergleich für wichtig und somit als zulassungsrelevant. Der Vergleich von PEG-IFN-β1a gegenüber Placebo war soDer Nervenarzt 4 · 2015 

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800

Neopterin168h (ng/ml)

Peginterferon-1a (pg/ml)

1000

600

400

PEG-IFN-β-1a s.c. Q2W 125 µg Q4W 125 µg Q2W 188 µg Q4W 188 µg Q2W 63 µg Q4W 63 µg

20

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10

5

200

0

0 0

a

14

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Zeit (Tage)

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0

b

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42

Zeit (Tage)

Abb. 3 8 Medianes Zeit-Konzentrations-Profil von a Interferon(IFN)-β1a und b Neopterin nach s.c. Verabreichung von Peginterferon beta-1a alle 2 (Q2W) oder 4 Wochen (Q4W). (Mod. nach [6])

mit eine behördliche Auflage. Primärer Studienendpunkt war die jährliche Schubrate am Ende des ersten Behandlungsjahres. Sekundäre Parameter umfassten u. a. die Behinderungsprogression gemessen an der Kurtzke-Skala (EDSS, Expanded Disability Status Scale), den Anteil an Patienten mit Schüben, verschiedene magnetresonanztomographische (MRT-) Parameter sowie die Lebensqualität. Untersucht wurden erwachsene Patienten mit klinisch gesicherter, schubförmiger MS (mindestens ein Schub im letzten Jahr, mindestens zwei Schübe innerhalb der letzten 3 Jahre) und einer klinischen Behinderung mit einem EDSS ≤5,0. Insgesamt wurden 1512 Patienten in 183 Prüfzentren in 26 Ländern eingeschlossen und 1:1:1 randomisiert, um entweder mit Placebo (n=500) oder mit 125 µg PEG-IFN-β1a s.c. alle 2 Wochen (n=512) oder alle 4 Wochen (n=500) behandelt zu werden. Die PEG-IFN-β1a-Dosis wurde innerhalb der ersten 4 Wochen von initial 63 µg s.c. (Tag 1) über 94 µg (nach 2 Wochen) auf die Zieldosis von 125 µg (nach 4 Wochen) aufdosiert [5, 11]. Wie aus . Tab. 1 ersichtlich, ergaben sich hinsichtlich der demografischen und krankheitsspezifischen Charakteristika zwischen den Behandlungsgruppen keine Unterschiede. Bereits nach dem ersten Behandlungsjahr verminderte PEG-IFN-β1a s.c. alle 2 Wochen appliziert die jährliche Schubra-

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te gegenüber Placebo um 36% (p=0,0007) und alle 4 Wochen appliziert um 28% (p=0,0114; . Abb. 4). PEG-IFN-β1a s.c. alle 2 Wochen appliziert reduzierte zudem das Schubrisiko um 39% (p=0,0003) und alle 4 Wochen appliziert um 26% (p=0,02). Beide PEG-IFN-β1a Dosisregime verringerten den Anteil der MS-Patienten mit fortschreitender Behinderung im EDSS (mit 12-wöchiger Bestätigung) innerhalb des ersten Behandlungsjahres signifikant um 38% gegenüber Placebo (Q2W: p=0,0383, Q4W: p=0,0380; . Abb. 5a). Die Reduktion des Anteils der MS-Patienten mit fortschreitender Behinderung mit 24-wöchiger Bestätigung (Post-hoc-Analyse) betrug mit PEG-IFN-β1a s.c. alle 2 Wochen appliziert sogar 54% (p=0,0069) und alle 4 Wochen appliziert 33% (p=0,1116; . Abb. 5b). Auch die Analysen der sekundären Endpunkte bestätigen die Wirksamkeit von PEG-IFN-β1a s.c. gegenüber Placebo. Dabei zeigten insbesondere die MRTEndpunkte, dass die zweiwöchige Applikationsfrequenz der vierwöchigen Gabe überlegen ist. Die Zahl neuer bzw. sich neu vergrößernder T2-Läsionen wurde mit PEG-IFN-β1a bei zweiwöchiger Gabe um 67% (p

[Pegylated interferon beta 1a. A new therapy option for treatment of relapsing-remitting multiple sclerosis].

Pegylation of pharmacological substances was developed in the 1970s as a way of improving their efficacy and elimination and hence reducing the dosage...
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