Klin. Pädiatr. 202 (1990) 355
Primäre Hyperlipoproteinämie Typ I im Neugeborenenalter1 B. Schlüter, E. Trowitzsch, W. Andler
Abkürzungen Zusammenfassung Fettstoffwechselstärungen werden selten im Neugeborenenalter diagnostiziert. Hyperlipoproteinämien gelten als typische Erkrankungen des Erwachsenen. Es wird über ein Kind berichtet, bei dem im Neugeborenenalter ein milchig-trübes Serum auffiel. Durch die Lipiddiagnostik und durch Ausschluß anderer Erkrankungen konnte die Diagnose einer primären Hyperlipoproteinämie Typ I wahrscheinlich gemacht werden. Die Diagnose wurde durch den Nachweis des Lipoproteinlipase-Mangels gesichert. Die Eltern der Patientin waren normolipämisch, wiesen aber eine Aktivitätsverminderung der Lipoproteinlipase auf, so daß sie als heterozygot angesehen werden können. Das Kind wurde mit einer fettarmen (6-19 g Fett/Tag, 2-3 g Fett/kg Körpergewicht/Tag) Diät mit hohem Relativanteil mittelkettiger Fettsäuren (78% MCT) ernährt. Die initial extrem ausgeprägte Hypertriglyceridämie (3674 mg/d!) konnte durch die Diät auf Werte von 214 bis 711 mg/dl gesenkt werden. In den ersten 7 Lebensmonaten folgten das Körpergewicht und das Längenwachstum der 10. Perzentile der Norm, das Kopfumfangswachstum der 50. Perzentile der Norm. Unerwartet starb das Kind im Alter von 8 Monaten an einer pulmonalen Infektion. Primary Type I Hyperlipoproteinemia in Early Infancy Newborn infants with inborn errors of lipid metabolism are relatively rare. There are only a few reports of hyperlipoproteinemia in infancy. In a sixday-old "healthy" newborn infant with a weight of 2960 gm a milky blood serum was found. Diagnosis of primary hyperlipoproteinemia type I was established by exclusion of other diseases and by analysis of blood lipids. Lack of lipoproteinlipase activity in postheparin plasma confirmed the diagnosis. The parents of the patient were normolipemic but showed reduced lipoproteinlipase activity. Thus, they were recognized as heterocygotes. A low fat (6-19 gm [at/d, 2-3 gm fat/kg bodyweight/d) diet with a high proportion of medium-chain triglycerides (780/0 MCT) lowered the initially extremely high serum triglyceride level (3674 mg/dl) significantly (214-711 mg/dl). Until the age of 7 months body weight and length followed the 10. percentile, head circumference followed the 50. percentile. Unexpectedly the patient died of pulmonary infection at the age of 8 months.
High-density Lipoprotein HDL HDL-Chol High-density-Lipoprotein-Cholesterin Hyperlipoproteinämie HLP Hepatische Triglyceridlipase HTGL Low-density lipoprotein LDL Lipoproteinlipase LPL Mittelkettige Triglyceride MCT Postheparin-lipolytische Aktivität PHLA Plötzlicher Säuglingstod SIDS Triglyceride TG Very-Iow-density-Lipoprotein VLDL Einleitung Als primäre Hyperlipoproteinämie Typ I wird eine angeborene Störung des Fettstoffwechsels bezeichnet, bei der aufgrund eines Lipoproteinlipase-Defektes die Aufnahme der exogenen Triglyceride aus der Blutbahn in Fett- bzw. Muskelzellen gestört ist und eine Akkumulation von Chylomikronen mit exzessiver Vermehrung des Neutralfettgehaltes des Blutes resultiert (5, 14, 17, 22, 29). Synonyme Bezeichnungen sind: Familiäre Hyperchylomikronämie, familiärer Lipoproteinlipasemangel, fettinduzierte Hyperlipidämie und BÜRGER-GRÜTZ-Syndrom. Als typische Symptome gelten milchig-trübes Serum, Lipaemia retinalis, Hepatosplenomegalie und eruptive Xanthome, ferner Bauchschmerzen und eine Pankreatitis. Mit weniger als 1% aller primären Hyperlipoproteinämien ist der Typ 1 die seltenste Form (14, 33). Die Häufigkeit wird mit weniger als 1: 100000 angegeben (2). Manifestationen im Kindesalter wurden mehrfach beobachtet (4, 6, 10, 11, 12,24,25,30,32). Die Prognose erscheint dubios. Im Neugeborenenalter konnte nach unserem Wissen diese Erkrankung bisher nicht beschrieben werden. Kasuistik
Anamnese Eine Fettstoffwechselstörung oder vorzeitige kardiovaskuläre Erkrankungen waren bei Familienangehörigen nicht bekannt. Die Mutter war eine 26jährige IV. Gravida (Entbindung eines gesunden Kindes jeweils I
Klin. Pädiatr. 202 (1990) 355-360 © 1990 F. Enke Verlag Stuttgart
Ein Teil dieser Arbeit wurde als Poster auf der 83. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, 13.-16. September 1987 in Wolfsburg gezeigt
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
Vestische Kinderklinik Datteln (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. W. Andler)
B. Schliiter et al.
Klin. Pädiatr. 202 (1990) 1980 und 1983, Abort 1982). Nach komplikationsloser Schwangerschaft erfolgte die Spontangeburt am errechneten Termin. Das Kind wies normale Apgar-Werte auf. Die Ernährung erfolgte zunächst mit einer teiladaptierten Milchnahrung (Aleternil I, Nestle-Alete GmbH). Bis zum 6. Lebenstag war das Kind klinisch unauffällig. Dann fiel im Rahmen einer routinemäßigen Blutbildbestimmung ein stark lipämisches Plasma auf, und das Kind wurde in die Kinderklinik verlegt.
Die Bestimmung des Apoprotein C-Il wurde angestrebt, mißlang aber. Weitere Laboruntersuchungen fielen normal aus. Ein Diabetes mellitus, ein nephrotisches Syndrom, eine Schilddrüsenerkrankung und eine Hepatopathie wurden ausgeschlossen. Die Eltern und Geschwister der Patientin zeigten normale TG- und Cholesterinkonzentrationen (Tab. I).
Nachweis des Lipoproteinlipase-Mangels. Klinischer Befund Bei Aufnahme zeigte sich das Kind in gutem AZ. Das Gewicht betrug 2960 g, die Länge 48 cm, der Kopfumfang 35,5 cm, die Körpertemperatur 36,8 Grad C rektal, der Blutdruck 100170 mm Hg. Intern und neurologisch wurde kein pathologischer Befund erhoben. Es bestanden keine Xanthome und keine Hepatosplenomegalie.
Laborbefunde Es fand sich ein stark lipämisches Serum mit exzessiv erhöhten Triglyceriden und erhöhtem Cholesterin (Tab. I). Die Lipidelektrophorese zeigte initial ein Verteilungsmuster entsprechend Phänotyp V mit Nachweis einer Chylomikronenbande und einer verstärkten Prä-beta-Bande. Das HDL-Cho!. war mit 8 mg/dl erniedrigt. Die quantitative Bestimmung von LDL-Cholesterin und VLDL-Cholesterin gelang nicht, da die Polyanionenpräzipitation der Lipoproteine keinen klaren Überstand ergab.
Die Lipoproteinlipase, ein membrangebundenes lipolytisches Enzym des Kapillarendothels vor allem des Fett- und Muskelgewebes wird durch Heparin freigesetzt ("postheparin-lipolytische Aktivität "). Bei der H LP Typ I ist die Aktivität dieses Enzyms stark vermindert. Ein weiteres Enzym, das im "Postheparin-Plasma" nachgewiesen wird, ist die hepatische Triglyceridlipase, die bei der HLP Typ I nicht betroffen ist. Beide Enzyme können mit Hilfe spezifischer Enzym-Antikörperpräzipitation selektiv gemessen werden (5, 20, 2). Sowohl bei der Patient in als auch bei den Eltern ließen wir die Enzymaktivitäten der LPL und der HTGL nach Injektion von 100 IE. Heparin/kg Körpergewicht i.v. durchführen. 2 Durch den Nachweis der stark verminderten LPL-Aktivität wurde die Diagnose der HLP Typ I gesichert (Tab. 2). Bei den Eltern wurde jeweils eine au f 50070 herabgesetzte Aktivität der LPL gefunden, so daß sie als Heterozygote identifiziert werden konnten (2).
Therapie und Verlauf Tab. 1
Lipiddiagnostik bei Patientin, Geschwistern und Eltern Weitere Befunde
Patientin
Serum lipämisch HOL-Chol.
Vater
170
198
Normal
NormalgewIchtig Serum klar
Mutter
141
218
Normal
Normalgewichtig Serum klar
Bruder
84
173
Gesund Serum klar
Schwester
69
130
Gesund Serum klar
Tab. 2
EnzymaktivItäten nach intravenöser Heparingabe
Enzym
lIpoproteInlipase
Hepatische Triglyceridlipase
Normal
ca 10 !lmol Fettsäuren! ml Plasma/min
ca. 20 !lmol Fettsäuren/ ml Plasma/min
Patientin
0.98
27,21
Vater
4,57
17,62
Mutter
5.53
22,00
Nach Feststellung der massiven Hyperlipidämie erfolgte die Therapie zunächst in Form von Nahrungskarenz und Infusionstherapie mit Glucose/ElektroIytlösung. Bis dahin war das Kind mit Aletemil I (Tab. 3) ernährt worden und hatte zuletzt 500 mI/Tag in 5 Mahlzeiten getrunken. Dies entsprach 16 g Fett/Tag (5,4 g Fett/kg Körpergewicht/Tag; Tab. 4). Bei Nahrungskarenz kam es im Laufe von 3 Tagen zu einem Rückgang der TG von 3674 mg/dl auf 480 mg/d!. Das initial erhöhte Cholesterin war normalisiert. Die Ernährung erfolgte ab dem 10. Lebenstag mit Humana Heilnahrung mit MCT (Humana Milchwerke Westfalen eG, Tab. 3). Das Kind trank in der Regel 550 mg/Tag in 5 Mahlzeiten, entsprechend 7 g/Tag, wobei 78070 des Fettes in Form mittelkettiger Triglyceride vorlag (2,4 g Fett/kg Körpergewicht/Tag, Tab. 4). Bis zur Entlassung aus stationärer Behandlung am 33. Lebenstag lagen die TG bei dieser fettarmen Ernährung mit hohem Relativanteil von MCT in einem tolerablen Bereich von 238 bis 582 mg/d!. Die Cholesterinwerte waren bis auf Werte von 50 mg/dl zurückgegangen. Es war zu einer Gewichtszunahme um 290 g in 4 Wochen gekommen. Im Alter von 2 1/ 2 Monaten (78. Lebenstag) wurde das Kind ambulant wieder vorgestellt. Bei Ad-libitum-Fütterung war die Nahrungsmenge inzwischen auf I000 mI/Tag Humana-Heilnahrung mit MCT gesteigert worden, entsprechend 14 g Fett/Tag (78% MCT) oder 2,9 g Fett/kg Körpergewicht/Tag (Tab. Die Enzymdiagnostik erfolgte dankenswerterweise im Institut für Herzinfarktforschung, Labor Dr. August in, Ilcrghci mC!" Straße 58, 6900 Heidelberg I
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
356
Primäre Hyperlipoproteinämie Typ I im Neugeborenenalter
Eiweiß (g) Kohlenhydrate (gi Fett (g)
HumanaHeilnahrung mit MCT
1,9 8,6 3,2 143% d. kcall
2,4 9,0 1,4 123% d. kcal) 1,1
1,6 1,26 0,34
1,15 0,07 0,18
A,D,E+B
A, E, B
71
58
davon als MCT Ig) Fettsäurezusammensetzung gesättigte Fettsäuren (g) einfach ungesätt. F. S. (g) mehrfach ungesätt. F. S (g) Vitamine kcal
4). Mit einem Gewicht von 4800 g lag das Kind auf der 25. Perzentile der Norm. Die TG betrugen 592 mg/dl, das Cholesterin lag mit 60 mg/dl niedrig. Mit 4 Monaten erfolgte wiederum eine ambulante Vorstellung. Das Gewicht lag mit 5480 g oberhalb der 10. Perzentile der Norm. Da die Trinkmenge inzwischen auf 1200 ml Humana Heilnahrung mit MCT pro Tag gesteigert worden war, empfahlen wir, eine Flaschenmahlzeit durch einen Brei aus Humana Heilnahrung mit MCT und eine weitere Flaschenmahlzeit durch 1 Gläschen Früchtezubereitung (0,2-1,1 g Fett/Portion) bzw. Gemüsezubereitung (2,5-3,2 g Fett/Portion) im Wechsel zu ersetzen (Tab. 4). Im Alter von 5 Monaten (149. Lebenstag) wurde die Patientin mit einer Otitis media stationär aufgenommen, weil es im Rahmen des Infektes zu Nahrungsverweigerung mit Erbrechen gekommen war. Die TG lagen mit 214 mg/dl niedriger als bei den vorherigen Kontrollen. Auch das Cholesterin lag mit 50 mg/dl auffällig niedrig. Der Infekt heilte komplikationslos aus. Im Alter von 7 Monaten (204. Lebenstag) wurde bei einer ambulanten Vorstellung ein TG von 711 mg/dl und ein Cholesterin von 102 mg/dl gemessen. Das Gewicht lag mit 6450 g auf der 10. Perzentile der Norm. Die Ernährung erfolgte mit 800 ml Humana-Heilnahrung mit MCT, einem Brei aus Humana-Heilnahrung mit MCT und einem Früchte- bzw. Gemüsegläschen (Tab. 4).
Tab. 4
Im Obduktionsbefund wurde der Ernährungszustand als gut beschrieben, das Gewicht aber mit 6300 g angegeben (unterhalb der 3. Perzentile der Norm, 150 g Gewichtsabnahme gegenüber der Messung im Alter von 7 Monaten). Hingegen betrug die Länge 67 cm (10. Perzentile der Norm, 3 cm Wachstum gegenüber der Messung im Alter von 7 Monaten). Makroskopisch fanden sich bei der Obduktion dystelektatische Lungen, ein mäßiggradiges Lungenödem, eine mäßiggradige Tracheobronchitis, eine Erweiterung der Herzhöhlen, flüssiges Blut im Herzen und in den Gefäßen sowie reichlich petechiale Blutungen unter dem Herzaußenfell und dem Lungenfell sowie unter der Thymuskapsel und im Thymusgewebe. Der histologische Befund bestätigte das Vorliegen einer Entzündung im Bereich der Luftwege mit beginnender interstitieller Pneumonie. Zusammenfassend wurde als Todesursache eine pulmonale Infektion angegeben.)
Diskussion Durch Bürger und Grütz erfolgte 1932 die Erstbeschreibung der primären Hyperlipoproteinämie Typ I als "hepatomegale Lipoidose mit xanthomatäsen Veränderungen in Haut und Schleimhäuten". Als ursächlicher Enzymdefekt wurde später der Mangel an Lipoproteinlipase nachgewiesen (5, 20, 22, 23). Aufgrund von Familienuntersuchungen ist der autosomal rezessive Erbgang bekannt (10, 11, 12,25,33). Die eigenen Befunde bei der Patientin, den Geschwistern und den Eltern sind mit einem autosomal rezessiven Erbgang vereinbar (Abb. 2). Die Eltern wurden durch die auf etwa 50% der Norm herabgesetzte LPL-Aktivität als Heterozygote identifiziert (2). Über die Häufigkeit von Heterozygoten in einer Population liegen unseres Wissens bisher keine Untersuchungen vor.
3
Die Obduktion wurde im Institut für Rechtsmedizin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführt
Ernährung der Patientm (7)
Alter
Nahrungsmenge/Tag
kcal/kg KG/Tag
9 Fett/kg KG/Tag
6 Tage
500 ml Aletemil 1
120
5,4
2 Wochen
500 ml Humana-Heilnahrung mit MCT
97
2,3
1 Monat
550 ml Humana-Heilnahrung mit MCT
98
2,4
2 ' /2 Monate
1000 ml Humana-Heilnahrung mit MCT
121
2,9
4 Monate
1200 ml Humana-Heilnahrung mit MTC
127
3,1
7 Monate
800 ml Humana-Hellnahrung mit MCT + 1 Brei 1180 g) aus Humana-Heilnahrung mit MTC
113-126
2,4-2,8
+ 1 Hipp-Gläschen IGemüse- bzw. Früchtezubereitung für Säuglinge ab 3. Monat)
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
Danach erfolgten keine weiteren ambulanten Vorstellungen. Erst mehrere Monate später erfuhren wir, daß das Kind im Alter von 8 Monaten plötzlich verstorben war. Es war morgens von den Eltern tot im Bettchen aufgefunden worden, nachdem es am Vorabend nach der letzten Mahlzeit gegen 21.00 Uhr anscheinend gesund zum Schlafen gelegt worden war.
Tab. 3 Zusammensetzung der verwendeten Nahrung bezogen auf 100 ml verzehrfertige Zubereitung (7) Aletemill
Klin. Pädiatr. 202 (1990) 357
Klin. Pädialr. 202 (/990) Das Vollbild der Erkrankung umfaßt folgende fakultative Symptome: milchig-trübes, grau-weißes Serum, Lipaemia retinalis, Hepatosplenomegalie, eruptive Xanthome, vorwiegend an den Streckseiten der Extremitäten sowie Bauchschmerzen und eine Pankreatitis (6, 10, 16, 24, 25, 32). Eine Lipidurie wird gelegentlich beobachtet (25). Erstes Symptom kann eine dramatische Schmerzattacke sein, verbunden mit Dyspnoe, Schweißausbruch, Hautblässe, Temperaturerhöhung und Erbrechen (16). Dabei können Abdominalschmerzen, Thoraxschmerzen oder auch Kopfschmerzen im Vordergrund stehen (16). Bei unserer Patientin war anläßlich einer routinemäßigen Blutentnahme am 6. Lebenstag zufällig ein milchig-trübes Serum aufgefallen; andere auf die Erkrankung hinweisende Symptome bestanden nicht. Die primäre HLP Typ I stellt mit weniger als )ll7o aller Hyperlipoproteinämien die seltenste Form dar. Fredriekson und Lees (14) nahmen 1965 die Einteilung der HLP in die Phänotypen I bis V vor. Die Phänotypen stellen keine nosologischen Einheiten dar, sondern beschreiben charakteristische Konstellationen von Laborbefunden (Cholesterin, TG, Bandenmuster der Lipidelektrophorese). Hinter identischen Phänotypen verbergen sich im Einzelfall primäre oder sekundäre Hyperlipoproteinämien unterschiedlichster Ätiologie (8, 13, 27, 35, 36). Tab. 5 zeigt die typische Befundkonstellation des Phänotyp I (14, 29, 33). Außer beim Lipoproteinlipasemangel kann ein Phänotyp I auch bei dekompensiertem Diabetes mellitus gefunden werden (18, 38). Beim malignen Lymphom und beim Lupus erythematodes kann ein Phänotyp I durch heparin bindende Immunglobuline hervorgerufen werden (17). Bei Mangel an Apolipoprotein C-II, einem Kofaktor der LPL, resultiert ebenfalls ein Phänotyp I (17, 23, 31, 34). Anhand des Phänotyps ist die Differenzierung zwischen der primären Hyperlipoproteinämie Typ 1 und der primären HLP Typ V oft nicht sicher vorzunehmen (26,37,38). Auch bei der HLP Typ I kann initial ein Lipidmuster entsprechend Phänotyp V gefunden werden (2). Die Hyperlipoproteinämie Typ V manifestiert sich jenseits des Kindesalters (20, 30). Im Gegensatz zur HLP Typ I ist die HLP Typ V mit gestörter Glucosetoleranz und vermehrter Atherogenität vergesellschaftet, ferner ist die HLP Typ V durch Kohlenhydratinduzierbarkeit charakterisiert (14, 37, 38).
Tab. 5
Charakteristische Befundkonstellation bei Phänotyp I
Triglyceride Cholesterin Chol!TG-Ouotient Chylomlkrünen VLDL LDL HDL PHLA Glukose- TolerarlZ
stark erhöht 11.000-20.000 mg/dl) mäßig erhöht bzw. normal. 0,2 oder kleiner. Im Nüchternserum vorhanden. normal oder leicht erhöht, Jedoch nicht über 400 mg/dl VLDL-Trlglyceride. meist erniedrigt. erniedrigt. vermindert normal.
B. Selllüter el al. Das frühe Manifestationsalter und die extreme Hypertriglyceridämie, die sich innerhalb weniger Tage exogener Fettbelastung entwickelt hatte, sprachen bei unserer Patientin in erster Linie für das Vorliegen einer Hyperlipoproteinämie Typ I. Allerdings war anfangs auch das Gesamtcholesterin erhöht und die Lipidelektrophorese zeigte ein Bandenmuster entsprechend Phänotyp V. Grundkrankheiten, die mit sekundären Hyperlipoproteinämien einhergehen können, konnten ausgeschlossen werden. Im weiteren Verlauf (Abb. I) zeigten die Serumtriglyceride bei der Patientin eine deutliche Abhängigkeit von der Nahrungsfettzufuhr, wie dies für Patienten mit HLP Typ I charakteristisch ist. Eine Kohlenhydratinduzierbarkeit war nicht zu erkennen. Die Diagnose der primären HLP Typ I wurde schließlich durch den Nachweis der extremen Aktivitätsverminderung der Lipoproteinlipase gesichert. Die Behandlung der H LP Typ I ist diätetisch (3, 15, 29). Die bekannten lipidsenkenden Medikamente sind nicht wirksam (21). Das Prinzip der Diät besteht darin, die Bildung von Chylomikronen gering zu halten. Dies wird durch eine starke Einschränkung der tägliche Nahrungsfettaufnahme (0,5 g Fett/kg Körpergewicht/Tag) erreicht (3). Beim Kind sollte die Fettzufuhr 20 g/Tag, beim Erwachsenen 30 g/Tag nicht übersteigen (29). Wichtig ist die Zusammensetzung des Nahrungsfettes. Ein hoher Gehalt des Nahrungsfettes an mittelkettigen Triglyceriden (MCT) verringert die Chylomikronenbildung, da MCT im Blut als freie Fettsäuren, an Albumin gebunden, direkt zur Leber transportiert werden (3, 15). Die Diät unserer Patientin enthielt 2-3 g Fett/kg Körpergewicht/Tag, wobei 78% des Fettes als MCT vorlagen. Es zeigte sich ein dauerhafter Effekt auf die Blutlipide (Abb. I). Die TG konnten deutlich unterhalb 1000 mg/dl gehalten werden. Das initial erhöhte Cholesterin wurde unter der Diät meist deutlich erniedrigt gefunden. Längenwachstum und Körpergewicht verliefen in den ersten 7 Lebensmonaten entlang der 10. Perzentile der Norm, das Kopfumfangswachstum folgte der 50. Perzentile der Norm. Bis auf eine Otitis media im Alter von 5 Monaten traten keine interkurrenten Erkrankungen auf. Im Vergleich zu einer üblichen teiladaptierten Säuglingsmilch wies die Diätmilch einen etwa um 20ll7o geringeren Energiegehalt auf (Tab. 3). Bei Ad-libitum-Fütterung wurde dies durch eine erhöhte Trinkmenge ausgeglichen. Die Energiezufuhr lag im Verlauf der ersten 7 Monate bei 97 bis 127 kcallkg Körpergewicht/Tag (Tab. 4). Diese Zahlen lassen eine quantitative oder qualitative Mangelversorgung durch die fettreduzierte Diät unwahrscheinlich erscheinen. Daß es unter diätetischer Behandlung der HLP Typ I zu einem Wandel des Phänotyps kommt, ist ein bekanntes Phänomen (4, 25, 30). Bei unserer Patientin ergab die Lipidelektrophorese am 7. Tag nach Beginn der Diät ein Bandenmuster entsprechend Phänotyp IV, also Vermehrung der Prä-beta-Lipoproteinbande (VLDL). Bei Zuständen mit Vermehrung TG-reicher Lipoproteine (Chylomikronen, VLDL) wird oft ein niedriges HDL-Chol. gefunden (19, 23). Dies war auch bei unserer Patientin der Fall. Die im Verlauf meist erniedrigt gefundenen Gesamtcholesterinwerte waren durch das gleichzeitige Vorliegen einer HDL-Chol.-Verminderung und einer LDLChol.-Verminderung bedingt. Beim Phänotyp I kann eine normale oder erniedrigte LDL-Konzentration gefunden
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
358
Primäre Hyperlipoproteinämie Typ I im Neugeborenenalter
Klin. Pädiatr. 202 (/990) 359
kcal/dl.
800
~
700
~ Kcal Fett/die
600
•
800
Kcal /die (gesamt)
700
Kcal MeT/die
600
500
500 400
Gesamt
300
300
200 100 0 Tag
6
4000 '174
TG (mg/dU
9
13
!!:.16
30
78
200 100 0 149
204
.TG
Triglyceride (mg/dl)
m
3000
Chol. Cholesterin (mg/dl) Chol (mg/dll
400
2000
300 200
1000
0 Tag
6
9
•• 13
100 0 30
16
o ()
,
149
78
gesund
0
hetero- ( ) [ ] zygot
homo- •
•
zygot
E3
unter-
nicht sucht
e
Patientin
Abb. 2 Aus den Laborurgcbnlssen Cibgeleiteter Stammbaum der betroffenen Familie
204
werden (Tab. 5). Unter cholesterinarmer und fettarmer Diät ist ein erniedrigtes LDL-Chol. zu erwarten, da LDLChol. wesentlich stärker als HDL-Chol. durch die Ernährung beeinflußt wird (19). So fand sich bei unserer Patientin zum Zeitpunkt eines Infektes mit Nahrungsverweigerung ein besonders niedriger Gesamtcholesterinspiegel (Abb. I, Tag 149). Letztlich nicht geklärt erscheint der plötzliche Tod der Patientin, der nach dem bisher geschilderten Verlauf nicht zu erwarten war. Für einen Zusammenhang mit der Fettstoffwechselstörung wurden bei der Obduktion keine Hinweise gefunden. Im allgemeinen scheint die HLP Typ I im Kindesalter symptomarm zu verlaufen (4,12,30). Wohl kann die Prognose durch rezidivierende Pankreatitiden getrübt sein (14). Im Gegensatz zu anderen Hyperlipoproteinämien wird ein frühzeitiges Auftreten von Arteriosklerose nicht beobachtet (2). Autoptisch wurden bei unserer Patientin Zeichen eines Atemwegsinfektes mit Tracheobronchitis und beginnender interstitieller Pneumonie gefunden. Einen Zusammenhang zwischen der im Verlauf
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
400
Abb. 1 Einfluß einer fettreduzierten Diät mit hohem Gehalt mittelkettlger Tnglyceride auf den Lipidstatus der Patientin.
Klin. Pädiatr. 202 (1990)
B. Schlüter et al.: Primäre Hyperlipoproteinämie Typ I im Neugeborenenalter
mehrfach gefundenen HypochoIesterinämie und möglicherweise dadurch bedingter erhöhter Infektanfälligkeit und verminderter Infektabwehr herzustellen, muß spekulativ bleiben. Der Todesfall könnte auch im Sinne einer erweiterten Definition des Sudden-infant-death-Syndroms (SIDS) aufgefaßt werden, da das Kind vor dem Tod "relativ gesund" erschien und bei der Obduktion eine den Tod erklärende Ursache nicht gefunden wurde (9). Beim SIDS werden autoptisch nicht selten Befunde eines Atemwegsinfektes sowie petechiale Blutungen in der Thymuskapsel im Perikard und in der Pleura, ähnlich wie bei unserer Patientin, gefunden (1). Plötzliche Todesfälle sind bei verschiedenen angeborenen Stoffwechselstörungen beschrieben worden (28), unseres Wissens bisher jedoch nicht im Zusammenhang mit einer Hyperlipoproteinämie Typ I.
Literatur I
.1
4
,
•
7
,
"
10
11
"
1.1
14
"
AItJlOff, H.: Ergebnisse und Erkenntnisse 25jähriger Kindstodforschung. In: Andler, W., M. E. Schläfke, E. Trowitzsch (Hrsg). Der Plötzliche Kindstod: Ergebnisse eines interdisziplinären Symposiums, Bochum, Datteln, 2. bis 4. Juni 1988. Acron Verlag, Berlin, New York, 1989, S. 29-38 Assmann, G.: Lipidstoffwechsel und Atherosklerose. Schattauer Verlag, Stuttgart, New York, 1982, S. 120-123 Bach, A. C, V. K. Babayan: Medium-chain triglycerides: an update. Am. J. Clin. Nutr. 36 (1982) 950-962 Berdel, D.: Ein Fall mit einer Hyperlipoproteinämie Typ I. Klin. Pädiat. 191 (1979) 335-338 Berger, G. M. B.: An Incomplete Form 01' Familial Lipoprotein Lipase Deficiency Presenting with Type I Hyperlipoproteinemia. Am. J. Clin. Pathol. 88 (1987) 369-373 Brehmer, W., P. Liibbers: Über eine generalisierte Xanthomatose mit Knochenbefall und diffuser Plasmazellwucherung im Knochenmark bei essentieller Hyperlipämie. Virchows Archiv 318 (1950) 394-431 Bundesverband der diätetischen Lebensmittelindustrie e. V. (Hrsg.): Grüne Liste 1983, Verzeichnis diätetischer und diätgeeigneter Lebensmittel. 01denbourg Verlag, München, 1983 Colloridi, v., O. Giardini, G. Ballati, M. Antonelli, A. Ceccamea: Carbohydrale-induced hyperlipemia in an infant. Helv. paediat. Acta 26 (1971) 437-447 Consensus Statement: National Institutes 01' Health Consensus Development Conference on Infantile Apnea and Horne Monitoring, Sept. 29 to OC! I, 1986. Pediatrics 110 (1987) 292-299 De Gennes, J.-L., J.-J. Menage, J. Truffert: Hyperglyceridemie exogene (hyperchylomicronemie) essentielle de type I. Etude clinique et evolutive de cinq observations. Nouv. Presse med. 27 (1972) 1835-1840 Ditschuneit, H., H. J. Bremer, M. Eckart, J.-D. Faulhaber, G. Hiller, U. Klär, A. D. Rakow, H. J. Thun: Familienuntersuchungen bei Hyperlipoproteinämie vom Typ I. Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 78 (1972) 1339-1341 Düchting, M., H Haupt, W. Scherz: Essentielle Hyperlipoproteinämie Typ I (Bürger-Grütz) bei einem 4 Wochen alten Säugling. Z. Kinderheilkunde 116 (1974) 213-222 Eaton, R. P., W. H. R. Nye: The relationship between insulin secretion and triglyceride concentration in endogenous lipemia. J. Lab. Clin. Med. 81 (1973) 682-695 Frederickson, D. S., R. S. Lees: A System For Phenotyping Hyperlipoproteinemia. Circulation 31 (1965) 321-327 Furman, R. H., R. P. Howard, O. J. Brusco, P. Alaupovic: Effects of medium chain length triglycerides (MCT) on serum lipids and lipoproteins in familial hyperchylomicronemia (dietary fat-induced lipemia) and dietary carbohydrate-accentuated lipemia. J. Lab. Clin. Med. 66 (1965) 912-926
I. Gailitis, R. J., W. Schreiber: Idiopathic Hyperlipemia. Special Referen17
"
'" Oll
" --
"
,. .,
,. "
"
'" 10
11
" " .14
"
10
"
"
ce to Abdominal and Coronary Symptoms. Arch. Surg. 79 (1959) 40-44 Glueck, C J., A. P. Kaplan, R. J. Levv, H Greten, H Gralnick, D. S. Fredrickson: A New Mechanism of Exogenous Hyperglyceridemia. Ann. 1nt. Med. 71 (1969) 1051-1062 Glueck, C J., R. J. Levy, D. S. Fredrickson: Immunoreactive Insulin, Glucose Tolerance and Carbohydrate Inducibility in Types 11, 111, IV, and V Hyperlipoproteinemia. Diabetes 18 (1969) 739-747 Granot, E., R. J. Deckelbaum: Hypocholeslerolemia in childhood. J. Pediatr. 115 (1989) 171-185 Greten, H: Über die Spezifität des genetisch bedingten Enzymmangels bei Patienten mit familiärer Hyperlipoproteinämie Typ I. Hoppe-Seylers Z. physiol. Chem. II (1970) 1304-1305 Gries, F. A.: Medikamentöse Behandlung der Hypertriglyzeridämien. Münch. med. Wschr. 122 (1980) 471-473 Havel, R. J., D. S. Fredrickson: The Metabolism of Chylomicra. I. The Removal 01' Palmitic Acid-I-C I4 Labeled Chylomicra From Dog Plasma. J. Clin. Invest. 35 (1956) 1025-1032 Havel, R. J., J. P. Kane, M. L. Kashyap: Imerchange of Apolipoproteins between chylomikrons and High Density Lipoproteins during Alimentary Lipemia in Man. J. Clin. Invest. 52 (1973) 32-38 Holt jr., L. E., F. X. Aylward, H G. Timhres: Idiopathic Familial Lipemia. Bull. Johns Hopkins Hosp. 64 (1939) 279-314 lrsigler, K., E. Pichier, E. Zweymliller: Fettinduzierte Hyperlipoproteinämie und Lipidurie bei einem Kleinkind. Z. Kinderheilk. 111 (1971) 95-108 Jacobsen, B. B.: Type V Hyperlipoproteinaemia Atherosclerosis 17 (1973) 471-481 Jakovcic, S., W. Fuhrmann, D. Y.- Y. Hsia: Essential Familial Hyperlipidemia In Childhood. I. Carbohydrate-Induced Hyperlipidemia. Pediatrics 34 (1964) 822-830 Lehnert, w., H. M. Strassburg: Angeborene Stoffwechselslörungen beim Plötzlichen Kindstod. In: Andler, W., M. E. Schläfke, E. Trowitzsch (Hrsg.) Der Plötzliche Kindstod: Ergebnisse eines interdisziplinären Symposiums, Bochum, Datteln, 2. bis 4. Juni 1988. Acron Verlag, Berlin, New York, 1989, 180-186 Levy, R. J., B. M. RiJkind: Diagnosis and Management of Hyperlipoproieinemia in Infants and Children. Am. J. Cardiol. 31 (1973) 547-556 Müller, W. D., G. M. Kostner: Einfluß von fett- bzw. kohlenhydratreicher Nahrung auf das Serumlipoproteinmuster bei primärer Hypertriglyceridämie im Kindesalter. Wiener klin. Wschr. 86 (1974) 757-762 Nikkilä, E. A., M.-R. Taskinen, M. Kekki: Relation 01' Plasma HighDensity Lipoprotein Cholesterol To Lipoprotein-Lipase Activity In Adipose Tissue And Skeletal Muscle 01' Man. Atherosclerosis 29 (1978) 497-501 Opitz: Hochgradige Lipämie unklarer Genese bei einem 12jährigen Knaben. DMW 61 (1935) 88-89 Roberts, W. C, R. J. Levy, D. S. Fredrickson: Hyperlipoproteinemia. AReviel" 01' the Five Types. Arch. Path. 90 (1970) 47-56 SchaeJer, E. J., S. Eisenberg, R. J. Levy: Lipoprotein apoprotein metabolism. J. Lipid Res. 19 (1978) 667-687 SchonJeld, G.: Changes in the composilion 01' very 101" density lipoprotein during carbohydrate induclion in man. J. Lab. Clin. Med. 75 (1970) 206-211 Segall, M. M., A. S. Fosbrooke, J. K. Lloyd. O. H WolJI Carbohydrate-induced Hypertriglyceridaemia in a Child. Arch. Dis. Child. 45 (1970) 73-79 Steiner, G., A. G. Adelman, M. D. Silver: Early coronary atherosclerosis in primary type V hyperlipoprotcinemia. C. M. A. Journal 105 (1971) 1172-1174 Wilson, D. E., P. H Schreibman, R. A. Arkv: Post-Heparin Lipolytic Activity in Diabetic Patients with a History of Mixed Hyperlipemia. Diabetes 18 (1969) 562-566
Dr. med. Bernhard Schlüter Vestische Kinderklinik Lloydstraße 5 4354 Datteln
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
360