Gynäkol Geburtsh Rundsch 1992;32:11-16

I. Universitäts-Frauenklinik Wien. Österreich

Problematik klinischer Forschung

Zusammenfassung In den letzten Jahren hat der Anspruch der Gesellschaft an die Qualität der Forschung deut­ lich zugenommen. Vor allem im Zusammenhang mit der Integration Europas ist cs ange­ bracht. Überlegungen über konzeptionelle und ethische Probleme klinischer Forschung anzu­ stellen. Nährböden für die klinische Forschung sind die technische Entwicklung sowie Ergeb­ nisse der Grundlagen- und pharmakologischen Forschung. Motor für die Weiterentwicklung ist die Verpflichtung, stets den neuesten Stand des Wissens in die gängige Therapie umzuset­ zen. Klinische Forschung beinhaltet vielfältige Risiken, vor allem das Risiko des in eine klini­ sche Prüfung eingebundenen Patienten, ausserdem doch die Risiken, falsche Schlussfolge­ rungen aus schlechten Studien zu ziehen. Daher müssen höchste Qualitätsansprüche an die Organisation klinischer Forschungen gestellt werden. Die prospektiv randomisierte Doppel­ blinduntersuchung stellt zweifelsohne das beste Design dar. Dabei entstehen unter anderem schwierige Probleme bei der Aufklärung des Patienten. Im Zusammenhang mit Publikatio­ nen kann es zu einer Verzerrung des objektiven Bildes kommen. Deshalb ist eine umfassende Publikation aller durchgeführten Studien erstrebenswert. Klinische Forschung stellt somit eine grosse intellektuelle, aber auch ethische Herausforderung dar.

Reflexions on Clinical Research In recent years, the requirements of society towards the quality of research have increased. Especially in the perspective of European integration, ethical and conceptual problems have to be revisited. Clinical research is alimented by technical development and the results of fundamental and pharmacological research. The obligation of converting the most recent knowledge into conventional treatment is the driving force of development. Clinical research is fraught with multiple risks, mainly the risks incurred by patients enrolled in clinical studies, and the risks of drawing erroneous conclusions from badly designed studies. This is the rea­ son why the organization of clinical studies must satisfy the highest quality standards. Pro­ spective randomized double-blind studies are doubtless the best design although they usually involve the difficult problem of patient information. As concerns publications, the picture may be distorted. Thus all the studies should be published exhaustively. Clinical research is thus a great challenge from both the intellectual and the ethical points of view.

Les problèmes de la recherche clinique Ces dernières années, les exigences de la société à l’endroit de la qualité de la recherche ont nettement augmenté. Il convient de réfléchir, en particulier dans l’optique d'une harmonisa­ tion européenne, aux problèmes conceptuels et éthiques. La recherche clinique est alimentée par les développements technologiques et les résultats de la recherche fondamentale et phar­ macologique: l’obligation de convertir les connaissances les plus récentes en des traitements conventionnels est le principe moteur du progrès. La recherche clinique comporte des risques multiples: les risques encourus par les patients participant à des essais cliniques et les risques de tirer des conclusions erronées d’une étude mal conçue, C’est pourquoi les exigences quali­ tatives en ce qui concerne la conception des recherches cliniques doivent être extrêmement rigoureuses. Les études prospectives randomisées en double aveugle sont indéniablement le meilleur type d’étude, cela dit, elles posent des problèmes délicats en ce qui concerne l'infor­ mation du patient. En relation avec les publications, cela peut nuire à l’objectivité. Dans ces conditions, il faut viser à une publication exhaustive de toutes les études. La recherche clini­ que constitue donc un défi à la fois intellectuel et éthique.

Univ.-Doz. Dr. P. Husslein I. Universitäts-Frauenklinik Spitalgasse 23, A-1090 Wien (Österreich)

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den. Dieser intellektuelle Impuls hat eine Vielzahl von «Folgepublikationen» nach sich gezogen, die zum Teil in kürzester Zeit Standardtherapien umgeworfen oder zu­ mindest differenziert haben. So wird z.B. von Pfleiderer [2] empfohlen, die operative Vorgangsweise beim Endometriumkarzinom vom Vaginalsonographiebefund, im speziellen von der Invasionstiefe des Karzinoms im Myo­ metrium, abhängig zu machen. Wenn die Invasionstiefe mit dem Ausmass des pelvinen Lymphknotenbefalls kor­ reliert, sollte nach Ansicht dieses Authors bei «Low-risk»Fällen lediglich eine Hysterektomie mit Adnexektomie durchgeführt werden, während bei «High-risk»-Fällen eine pelvine, eventuell sogar paraaortale Lymphnodektomie zwingend notwendig erscheint [2], Gerade die Sono­ graphie hat gezeigt, welche Revolution in Diagnostik und Therapie innerhalb kürzester Zeit durch technischen Fortschritt erzielt werden kann. Häufig ist auch die Erweiterung unseres theoretischen Wissens ein Anlass für neue klinische Überlegungen. Durch den Nachweis, dass bestimmte Bakterien in der Lage sind, die Arachidonsäurekaskade in Gang zu setzen und auf diese Weise über Prostaglandine Wehen auszulö­ sen [3], hat sich z.B. ein neuer Gesichtspunkt zur Verhin­ derung der Frühgeburt ergeben. Derzeit wird in ausge­ dehnten Studien die Frage überprüft, ob ein Screening auf Chlamydien und andere Infektionserreger in der Schwan­ gerschaft imstande wäre, die konstant hohe Frühgebur­ tenrate - das wahrscheinlich grösste Problem der moder­ nen Geburtshilfe - zu senken. Ob dies gelingt, ist heute noch nicht abzusehen, klar ist aber, dass ein Ergebnis theoretischer Forschung klinisches Denken in kürzester Zeit verändert hat. Heute wird die Frühgeburt im hohen Masse als eine Infektionsfolge angesehen [4, 5], mit allen daraus sich ergebenden Implikationen. Zum ersten Mal hat man auch eine gute Erklärung für die epidemiologi­ sche Beobachtung, dass vorzeitige Wehen in niederen sozioökonomischen Schichten, in denen die Inzidenz von Infektionen erhöht ist, häufiger auftreten. Dass die pharmakologische Forschung durch die Ent­ wicklung neuer Substanzen einen ständigen Nährboden für klinische Forschung darstellt, bedarf kaum spezieller Erwähnung. Dass gerade bei der Erprobung neuer Medi­ kamente besonders verantwortungsvoll und umsichtig vorgegangen werden muss, ist einleuchtend, weil die da­ bei auftretenden Risiken offenkundig sind, soll aber ganz klar und unmissverständlich hervorgehoben werden. Stagnation ist in unserer schnellebigen und hochgradig vernetzten Zeit also gar nicht möglich und wäre, schon aus ethischen Gründen, nicht zu verantworten. Wie könnte man rechtfertigen, den rundum stattfindenden Fortschritt nicht auch im eigenen Fach zum Nutzen der Patienten umzusetzen? Klinische Forschung bedeutet da­ her in erster Linie Herausforderung, einen intellektuellen, aber durchaus auch praktischen Anreiz für die Medizin,

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Der enorme Fortschritt in Wissenschaft und Technik hat auch in der Medizin zu immer rascherer Entwicklung neuer Medikamente bzw. Techniken geführt. In einer Zeit gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen ist es sinnvoll, Überlegungen über die Weiterentwicklung der Medizin durch klinische Forschung anzustellen und diese Überlegungen mit einem möglichst breiten Forum zu dis­ kutieren, auch im Hinblick auf eine Angleichung der Denk- und Vorgangsweisen in immer grösseren politi­ schen Räumen. Zweifelsohne wird nämlich neben einer Vielzahl anderer Bereiche auch die klinische Forschung in Zukunft im europäischen Wirtschaftsraum nach einheitli­ chen Denkmodellen, vor allem aber nach möglichst gleichförmigen gesetzlichen Regelungen ausgerichtet wer­ den. Zu Recht erachten wir heute den Schutz des Individu­ ums als ein hohes, wenn nicht höchstes Gut in unserer pluralistischen Gesellschaft. Dass dem vieles, ja fast alles untergeordnet werden soll, ist vom Gedanken her richtig, aber auch manchmal über Umwege zum Nachteil des ein­ zelnen. Gerade in der klinischen Forschung wird ständig das Wohl des einzelnen gegen das Wohl der Allgemeinheit - also wieder des einzelnen, aber diesmal aus einem ande­ ren Blickwinkel, vielleicht auch etwas zukunftsorientier­ ter betrachtet - abgewogen werden. Dass dabei ethische Probleme unterschiedlichster Natur angesprochen sind, soll die folgende Aneinanderreihung von Gedanken de­ monstrieren. Unter klinischer Forschung versteht man nicht nur die Erprobung neuer Medikamente, sondern auch die Über­ prüfung neuer Techniken - und im weitesten Sinne auch von Ideen, die eine Verbesserung der Medizin mit sich bringen könnten. Durch die enge Verflechtung zwischen den einzelnen medizinischen Disziplinen, aber auch zwi­ schen Medizin und Technik, ist unsere klinische Tätigkeit heute - wie kaum jemals zuvor - einer ungeheuren Dyna­ mik unterworfen, die uns permanent zwingt, festgefah­ rene - auch liebgewordene - Anschauungen in Frage zu stellen. Nährböden für neue klinische Fragestellungen sind vor allem technische Verbesserungen, Entwicklungen in der Grundlagenforschung und - wichtig für die pharmakolo­ gische Forschung - die Entwicklung neuer chemischer Substanzen, sei es an den Universitäten, aber durchaus auch in der pharmazeutischen Industrie. Wenn Osmers et al. [1] beispielsweise zeigen konnten, dass bei einer Endometriumdicke unter 4 mm im vagina­ len Ultraschall nie eine ernste Pathologie im Kürettage­ material nachweisbar war, so muss dies zur Überprüfung bisher unumstösslich geltender Regeln der Gynäkologie führen, nämlich dass jede postmenopausale Blutung durch Kürettage abgeklärt werden muss. Ohne Ultra­ schall, ja sogar ohne Verfeinerung der Vaginalsonogra­ phietechnik wäre hier die Fragestellung gar nicht entstan­

pien erfüllt sein, wenn man Vorgehensweisen als «wissen­ schaftlich» ansehen will: Originalität, Distanziertheit, Universalität, Skepsis, öffentliche Zugänglichkeit, um nur einige wichtige zu nennen [9], Für die klinische For­ schung bedeuted dies konkret etwa folgendes: 1. Die Basis für die Studie muss ausreichend überprüft sein. 2. Die Durchführung muss nach anerkannten Methoden erfolgen. 3. Die Studienleitung muss dafür eine entsprechende Qualifikation besitzen. 4. Die Überwachung der Studie muss streng sein. 5. Der Zeitpunkt muss gut gewählt sein. Einerseits müssen ausreichend Vorinformationen vor­ liegen, anderseits darf die neue Methode noch nicht als etabliert erscheinen. Ein gutes Beispiel dafür, welche Probleme entstehen, wenn der optimale Zeitpunkt für eine Studie versäumt wird, war die Einführung der elektronischen Geburts­ überwachung. Nach der Entwicklung der Hon-Kopfschwartenelektrodc, die eine kontinuierliche Registrie­ rung der fetalen Herzfrequenz unter der Geburt ermög­ lichte, gewannen zahlreiche Zentren den Eindruck, dass dies zu einer deutlichen Zunahme der Sicherheit unter der Geburt führte. Methodisch einwandfrei war jedoch der Vorzug dieser neuen Methode nie nachgewiesen wor­ den. Dies ermöglichte in den achtziger Jahren der soge­ nannten «alternativen Geburtshilfe» - die zweifelsohne in anderen Bereichen positive Impulse gesetzt hat -. die Notwendigkeit der elektronischen Geburtsüberwachung - durchaus polemisch - in Frage zu stellen [10]. Die mei­ sten Universitätszentren, vor allem die mit entsprechen­ der Überwachungserfahrung, waren aber zu diesem Zeit­ punkt nicht mehr gewillt, eine Vergleichsgruppe ohne Kardiotokographie in eine Studie einzubeziehen, wo­ durch eine lange Phase der Unsicherheit entstand. Es bedurfte erst des Dublin-Trials mit knapp 13000 Gebä­ renden, fast 20 Jahre später, der den Vorzug der kontinu­ ierlichen Überwachung eindeutig untermauern konnte [11], um dieser Diskussion ein Ende zu setzen. Fast wäre aber auch der Dublin-Trial gescheitert, ganz einfach des­ halb, weil die Interpretation der Herzfrequenzaufzeich­ nungen durch die an der Studie beteiligten Geburtshelfer aufgrund deren diesbezüglicher Unerfahrenheit äusserst mangelhaft war. Wäre die richtige Studie zur richtigen Zeit im richtigen Zentrum durchgeführt worden, hätten zahlreiche durch mangelnde Geburtsüberwachung verur­ sachte subpartale kindliche Todesfälle in diesen 20 Jah­ ren vermieden werden können. Auch bei der Entwicklung des Ultraschalls als Scree­ ning-Untersuchung in der Schwangerschaft ist eine ähn­ lich prekäre Situation entstanden: während Eik-Nes et al. [12] folgerten, dass Screening mittels Ultraschalls un­ nötige Einleitungen verhindere und die perinatale Morta­

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um so weite Bereiche unseres Lebens zu verbessern. Kli­ nische Forschung beinhaltet aber zwangsläufig auch Risi­ ken: Zunächst einmal das individuelle Risiko des in eine klinische Prüfung eingebundenen Patienten. Wer garan­ tiert ihm. dass die an ihm erprobte neue Vorgehensweise nicht schlechter und mit mehr Nebenwirkungen oder Gefahren verbunden ist. als die bisherige Standardthera­ pie? Wie gut auch immer klinische Prüfungen vorbereitet sind, ein Restrisiko bleibt. Schliesslich wird die klinische Prüfung zum Zwecke des Nachweises eines Vorzugs einer neuen Behandlung durchgeführt und beinhaltet daher naturgemäss das Risiko, dass dieser Vorzug gar nicht exi­ stiert. Vor jeder klinischen Prüfung muss daher das persönli­ che Patientenrisiko gegen den individuellen - aber auch den kollektiven - Nutzen abgewogen werden, nämlich den Nutzen der Gesellschaft auf dem Weg zu medizini­ schem Fortschritt. Dieses individuelle Risiko durch opti­ male Studienvorbereitung und -durchführung möglichst gering zu halten, stellt eine der grossen ethischen Heraus­ forderungen klinischer Forschung dar. Ein weiteres, sehr bedeutendes Risiko ist nicht ganz so offenkundig, dass nämlich durch schlechte Studien entweder wirksame Vor­ gehensweisen nicht als solche erkannt werden, oder - man fragt sich, was schlimmer ist - unwirksame als wertvoll eingestuft werden. Im ersten Fall enthält man allen auf die Studie folgenden Patienten eine bessere Behandlung vor, im anderen unterwirft man dieselben einer in Wahrheit unwirksamen Therapie. Wäre die Überlegenheit von Pe­ nizillin nach seiner Entdeckung nicht so überwältigend gewesen, die Studie von Abraham [6] hätte aufgrund der Schwäche des Designs ein weniger wirksames Medika­ ment in seiner Qualität niemals bestätigen können. Kleine Verbesserungen können zwangsläufig nur durch strikte Einhaltung einer klaren Methodik nachgewiesen werden [7], Irgendwie sind wir also gefangen: Hinter uns der Zwang zum Fortschritt - vor uns vielfältige individu­ elle und kollektive Risiken. Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: Höchste Ansprüche an die Qualität kli­ nischer Forschung zu stellen. Einen Eckpfeiler meiner Überlegungen möchte ich folgcndermassen formulieren: Jede schlecht geplante oder unkorrekt durchgeführte kli­ nische Studie ist in höchstem Mass unethisch: Individu­ ell, weil unnötige Risiken für den Patienten in Kauf genommen werden, und kollektiv, weil ein falsches Ergeb­ nis weitreichende Konsequenzen für die weitere medizi­ nische Vorgehensweise haben könnte. Was sind nun die Kriterien guter Forschung? Zunächst einmal die Akzeptanz der rationalen Denkweise. Wenn ich auch nicht behaupten möchte, dass damit alle Aspekte unseres Lebens erfassbar sind, so steht doch ausser Zwei­ fel. dass für Wissenschaft und Forschung dies die einzige Form von Erkenntnisgewinnung darstellt [8]. Ohne auf Details eingehen zu können, müssen bestimmte Prinzi­

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selbst, aber auch die anderen nicht, ob und dass Störfakto­ ren ausgeschlossen sind.» Dies wird in zunehmendem Masse von aktiven Wissenschaftlern erfasst [7], Um die Bedeutung der Randomisierung zu illustrie­ ren. stellen wir uns eine Studie zur Geburtseinleitung vor: Der Zustand der Cervix Uteri - etwas vereinfacht: ob diese hart und geschlossen oder weich und schon etwas geöffnet ist - hat einen ungeheuren Einfluss auf die Bereitschaft, auf ein Wehenmittel zu reagieren. Wenn jetzt der Studienleiter zuerst die Patientin untersucht und dann die Form der Geburtseinleitung festlegt, kann er gar nicht verhindern, dass seine Einschätzung der Situation unbewusst in die Studie eingeht, was zweifellos eine Ver­ fälschung der Ergebnisse mit sich bringt [20], Ein anderes Beispiel zur Illustration des Vorzuges des DoppelblindDesigns: Im Verlauf einer nichtkodierten Vergleichsstu­ die zur medikamentösen Behandlung der Eileiterschwan­ gerschaft mit Prostaglandinen bzw. Plazebos wird der verantwortliche Arzt bei Schmerzen und ansteigendem Verlauf des Schwangerschaftshormons, also bei Zeichen eines möglichen Scheiterns der Behandlung, diese eher abbrechen und die Patientin operieren, wenn er weiss, dass sie Plazebo erhalten hat. Hingegen wird er geneigt sein, noch etwas zuzuwarten, wenn sie in der Behand­ lungsgruppe war, weil er ja noch auf den Effekt der Wirk­ substanz hoffen kann - wieder eine krass unstatthafte Beeinflussung der Ergebnisse [21], Noch ein kurzer Kommentar zur Statistik: Es ist von eminenter Bedeutung, vor Beginn einer Studie zu klären, wieviele Patienten untersucht werden müssen, um die aufgeworfene Frage zu beantworten [22], Erinnern wir uns an die Kontroverse um die Geburtsüberwachung. Die damals von den Gegnern der Kardiotokographie ständig zitierte Studie von Haverkamp et al. [23] umfasste in jeder Gruppe nur jeweils 240 Patientinnen - eine viel zu geringe Zahl, um aus dieser Fragestellung auch nur irgend einen Rückschluss ziehen zu können. Die Einbeziehung zuweniger Patienten stellt einen der häufigsten Fehler kli­ nischer Studien dar. Solche Studien sind nicht nur un­ ethisch. weil sie falsche Ergebnisse erbringen, sondern auch, weil darin einbezogene Patienten damit für konkur­ rierende. korrekt geplante Untersuchungen fehlen. Auch diese Überlegung unterstreicht die Forderung, nur weni­ ge, dafür aber gut konzipierte Studien durchzuführen, also auch im Rahmen klinischer Forschung Qualität auf Kosten von Quantität anzustreben. Ausserdem ist natür­ lich jede unnötige Duplizierung aus naheliegenden Grün­ den zu vermeiden. Die umfassende Veröffentlichung von Untersuchungs­ ergebnissen ist ein wichtiger Teil der Forschung. Dass dabei jede Manipulation im höchsten Masse unkorrekt ist, versteht sich von selbst. Aber auch die Publikation einer qualitativ schlechten Untersuchung ist wegen der Verbreitung von Desinformation bis zu einem gewissen

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lität und Morbidität reduziere, haben andere Studien, wie die von Bennett et al. [ 13], Bakketeig et al. [ 14] und Neilson et al. [15], keinen nennenswerten Vorteil einer Ultra­ schalluntersuchung in der Schwangerschaft ergeben. Die Studie von Waldenström et al. [16] berichtete zwar, dass das durchschnittliche Geburtsgewicht in der ScreeningGruppe um 42 g höher liege als in der Kontrollgruppe. Ob ein solcher Unterschied allerdings klinisch relevant ist, sei dahingestellt. Neben rein methodologischen Problemen liegt in diesem Fragenkomplex die grösste Schwierigkeit sicherlich in der Qualität der Ultraschalluntersuchung an sich. d.h. ob der Untersucher mit dem ihm zur Verfügung stehenden Gerät auch in der Lage ist, entsprechende Pro­ blemfälle oder Pathologien zu entdecken. Um die beson­ dere Schwierigkeit für die klinische Umsetzung solcher Forschungsergebnisse zu unterstreichen, sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Ultraschall-Screening in Deutschland zur Routine gehört, in den USA allerdings heftig abgelehnt wird. Das Problem entsteht letztlich im­ mer auf dieselbe Weise. Entwickler bzw. Befürworter einer neuen Methode führen diese ein und begeistern sich an ihr, ohne zur rechten Zeit den Beweis ihrer Wirksam­ keit anzutreten. Gegner - oft genau so unkritisch wie die Befürworter, nur in entgegengesetzter Richtung - führen dann methodisch scheinbar richtige Studien durch, kon­ frontieren die Öffentlichkeit mit ihren negativen Resulta­ ten - und das Dilemma ist perfekt. Man muss sich diese negativen Studien aber immer genau ansehen, bevor fal­ sche Schlüsse gezogen werden. Beim Ultraschall lag das Problem zum Beispiel zum Teil in der fehlenden Ausbil­ dung der Untersucher, so dass der Wert des Ultraschalls in der Studiengruppe im Gegensatz zur Kontrollgruppe nicht ausreichend zur Geltung kommen konnte [17], Natürlich sind auch die kritischen «Nein-Sager» wich­ tig. Die klinische Forschung hat nämlich die Tendenz, in drei Phasen abzulaufen: Zunächst die Phase der Eupho­ rie, zumeist gekennzeichnet durch unkontrollierte Stu­ dien, in der jede Neuentwicklung als ein Meilenstein der Medizingeschichte bezeichnet wird. Darauf folgt dann eine oftmals durch die Kritiker initiierte Phase der De­ pression, in der die Methode nicht nur als wertlos, son­ dern sogar als potentiell gefährlich eingestuft wird. Zu­ letzt flacht die Amplitude der Einschätzung deutlich ab und mündet in eine Phase der positiven oder negativen aber eben realistischen - Einschätzung. Welches sind nun die anerkannten Methoden, von denen ich gesprochen habe? Die beste Form des wissen­ schaftlichen Designs stellt zweifellos die prospektiv randomisierte Doppelblinduntersuchung dar [18]. Wo im­ mer diese durchführbar ist, ist ihr der Vorzug zu geben, weil damit weitgehend nicht nur eine bewusste, sondern auch eine unbewusste Beeinflussung durch den Studien­ leiter ausgeschlossen werden kann. Wie Peto [19] es klar formuliert: «Wenn man nicht randomisiert, weiss man

Grad als unethisch anzusehen. Ja, sogar das Vorenthalten der Publikation einer korrekt durchgeführten Studie ist nicht unproblematisch [24. 25]. Chalmers et al. [26] haben beispielsweise 1989 versucht, alle prospektiv randomisierten Vergleichsstudien der Geburtshilfe zusam­ menzufassen. Sie waren dabei unter anderem bemüht, durch persönliche Kontakte auch Informationen über nicht publizierte Ergebnisse zu gewinnen, weil sie mit Recht argumentiert haben, dass negative Resultate von Vergleichsstudien - weil weniger attraktiv - oft von einer Veröffentlichung ausgeschlossen sind, dies aber zwangs­ läufig zu einer Verbesserung der Situation führt, wenn man dazu nur publizierte Resultate analysiert [26]. Ein wichtiger Aspekt ethischer Überlegungen im Zu­ sammenhang mit klinischen Prüfungen ist das Einholen einer Einverständniserklärung des Patienten [27], Dabei ist es unter anderem erforderlich, die scheinbare Diskre­ panz aufzuklären, wenn man dem Patienten einerseits die bestmögliche individualisierte Therapie zukommen las­ sen will, ihn aber gleichzeitig in eine Studie einbezieht, in der sein persönliches therapeutisches Schicksal durch eine Randomisierungsliste, also gewissermassen durch Zufall, entschieden wird. Dies Patienten, die in ihrem intellektuellen und sozialen Umfeld stark variieren, auseinanderzusetzen, ist zweifelsohne ausserordentlich schwierig. Die Deklaration von Helsinki - eine allgemein anerkannte Zusammenstellung ethischer Überlegungen bei der Durchführung klinischer Studien - sagt dazu fol­ gendes [28]: Der Patient solte nach entsprechender Infor­ mation seine freiwillige Zusage, möglichst in schriftlicher Form, abgeben; ist aber der Arzt der Auffassung, dass es notwendig ist, keine Zustimmung einzuholen, so muss dies im Protokoll festgehalten und begründet werden also ein Hinweis auf den Wunsch nach Aufklärung, aber das Eingeständnis, dass beim Einholen einer umfassen­ den Einverständniserklärung Schwierigkeiten auftauchen

könnten: Bedenken wir, dass z.B. bei onkologischen Stu­ dien noch zusätzlich Probleme mit der Aufklärung über die Grunderkrankung dazukommen. So kommt Brevin [29] zu folgender Schlussfolgerung: «Die beste Vorgangs­ weise - nicht perfekt, aber besser als alle Alternativen für den verantwortlich vorgehenden Artz ist es, flexibel, einfühlsam und aufmerksam auf die individuellen Wün­ sche und Hoffnungen des Patienten zu reagieren und nicht in jedem Fall unnotwendigerweise eine vollständig informierte Zustimmung zu erzwingen. Klinische For­ scher sollten jederzeit bereit sein, mit betroffenen Patien­ ten all das zu diskutieren, was diese wollen, diese aber nie­ mals bevormunden und sich immer die Würde des einzel­ nen Patienten vor Augen halten.» Eine solche individuali­ sierte Vorgehensweise wird den ethischen Überlegungen hinter der Deklaration von Helsinki viel besser gerecht als ein standardisiertes Vorgehen mit schriftlicher Zustim­ mung. Ich habe versucht, zu demonstrieren, dass klinische Forschung nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ethische Herausforderung darstellt, der wir nur durch aus­ serordentlich verantwortungsvolles Vorgehen gerecht werden können: Verantwortungsvolles Vorgehen gegen­ über dem Geist der Wissenschaft, vor allem aber unseren Patienten gegenüber.

1 Osmers R. Volksen M. Schauer A: Vaginosonography for early detection of endometrial carcinoma. Lancet 1990;iii: 1569—1571. 2 Pfleiderer A: Die Therapie des Endometrium­ karzinoms. Geburtshilfe Fraucnheilkd 1991: 51:787-805. 3 Lamont RF. Rose M. Eider MG: Effect of bac­ terial products on prostaglandin E production by amnion cells. Lancet 1985;iii:133l—1333. 4 Martius J: Die aufsteigende Infektion in der Schwangerschaft als eine Ursache der Frühge­ burt. Z Geburtshilfe Perinatol 1989:193:1-7. 5 Lopez-Bemal A. Hanssei DJ. Canete-Soler R. Keeling JW, Turnbull AC: Prostaglandins, chorioamnionitis and preterm labour. Br J Obstet Gynaecol 1987:94:1156-1158.

6 Abraham EP: Further observations on penicil­ lin. Lancet 1941 ;ii: 177-188. 7 Chalmers I: Evaluating the effects of care dur­ ing pregnancy and childbirth: in Chalmers I. Enkin M. Keirse MJNC (eds): Effective Care in Pregnancy and Childbirth. Oxford. University Press. 1989. pp 3-38. 8 McIntyre N, Popper K: The critical attitude in medicine: The need for a new ethics. Br Med J 1983:287:1919-1923. 9 Merton RK: The Sociology of Science. Chica­ go, University Press, 1973. 10 Leboyer F: Geburt ohne Gewalt. Kôsel. 1981.

11 MacDonald D, Grant A, Sheridan Peireira M. Boylan P, Chalmers I: The Dublin randomized controlled trial of intrapartum fetal heart rate monitoring. Am J Obstet Gynecol 1985:152: 524-539. 12 Eik-Nees SH, Okland O, Aure JC, Ulstein M: Ultrasound screening in pregnancy: A random­ ized controlled trial. Lancet I984;ii:347. 13 Bennett LS. Little G. Dewhurst J. Chamberlain G: Predictive value o f ultrasound measure­ ment in early pregnancy: A randomized con­ trolled trial. Br J Obstet Gynaecol 1982:89: 338-341. 14 Bakketeig ES, Eik-Nes SH. Jacobsen G, et al: Randomized controlled trial of ultrasono­ graphic screening in pregnancy. Lancet 1984;ii: 207-211.

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Literatur

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24 Begg CB. Berlin JA: Publication bias: A prob­ lem in interpreting medical data. J R Stat Soc (Series A) 1988:151:419-463. 25 Simes RJ: Publication bias: The case for an international registry of clinical trials. J Clin Oncol 1986:4:1529-1541. 26 Chalmers I. Enkin N. Keirse M: Effective Care in Pregnancy and Childbirth. Oxford. Univer­ sity Press. 1989. pp 1-791. 27 Baum M: Do we need informed consent? Lan­ cet I986:ii:9l 1-912. 28 Deklaration von Helsinki. Issued by the World Medical Association 1960: rev 1975. 29 Brevin TB: Consent to randomized treatment. Lancet 1982:ii:919—921.

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15 Neilson JP, Munjanja JP. Whitfield CR: Screening for the small-for-datcs fetus: A con­ trolled trial. Br Med J 1984:289:1179-1182. 16 Waldenstrom U, Axelsson O. Staffan N. et al: Effects of routine one stage ultrasound screen­ ing in pregnancy: A randomized controlled trial. Lancet 1988:ii:585—588. 17 Thacker StB: Quality of controlled clinical trials. The ease of imaging ultrasound in obstet­ rics: A review. Br J Obstct Gynaecol 1985:92: 437-444. 18 Freiman JA. Chalmers TC. Smith H. Kuebler RR: The importance of beta, the type II error and sample size in the design and interpreta­ tion of the randomized control trial. New Engl Med J 1978:299:690-694.

[Problems in clinical research].

In recent years, the requirements of society towards the quality of research have increased. Especially in the perspective of European integration, et...
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