Editorial

S59

Psychiatrie zwischen Neuro- und Sozialwissenschaften

E. Kumbier, R. Wandschneider, J. Thome

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/10.1055/ s-0042-113949 Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S59–S60 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0940-8584 Korrespondenzadresse PD Dr. med. habil. Ekkehardt Kumbier Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock D-18147 Rostock Gehlsheimer Straße 20 [email protected]

Am 25. Februar 2016 beging der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Rostock, Prof. em. Dr. med. habil. Klaus Ernst, seinen 80. Geburtstag. Einstige Wegbegleiter und Mitstreiter fanden sich aus diesem Anlass in Rostock zusammen und richteten zu seinen Ehren ein wissenschaftliches Symposium aus. Das gewählte Thema „Psychiatrie zwischen Neuro- und Sozialwissenschaften“ reflektiert die Spannbreite seines Wirkens als Kliniker, Wissenschaftler und Lehrer. Der Jubilar hat mit kurzer Unterbrechung in seiner Heimatstadt Rostock gewirkt, seine Ausbildung und den größten Teil seines Berufslebens hier verbracht, vom Studium bis zu seiner Emeritierung. Nach seiner Habilitation im Bereich der Neurologie und Ernennung zum Hochschuldozenten für Neurologie und Psychiatrie wechselte Ernst in die Psychiatrie und erhielt 1978 den Ruf auf eine Dozentur an die Psychiatrische Klinik der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort wurde er 1979 zum ordentlichen Professor für Psychiatrie ernannt. 1983 folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Rostock. Hier blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2003 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Der wissenschaftliche Schwerpunkt von Klaus Ernst lag in erster Linie auf der Untersuchung von neurophysiologischen Verfahren für die Diagnostik neurologischer Erkrankungen, später vor allem in der neurophysiologischen Erforschung von Ursachen bei psychischen Erkrankungen und der Anwendung von entsprechenden Untersuchungs- und Therapieverfahren. Diese Tradition lebt bis heute in der Klinik fort [1]. Im Bereich der Psychiatrie setzte sich Ernst aber auch mit einer Problematik auseinander, die zuvor weltweit Beachtung gefunden hatte: Die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen mit Hilfe von Detoxikationsverfahren [2]. Ernst gehörte einer Arbeitsgruppe an, die insbesondere die Hämofiltration und Hämodialyse als Therapiemethode bei Schizophrenie untersuchten [3]. Sein Interesse für die Psychopathologie liegt sicherlich in der Begegnung mit dem von ihm sehr geschätzten ▶ Abb. 1). Deshalb Karl Leonhard begründet (● wird die sogenannte differenzierte Psychopathologie einer kritischen Analyse unterzogen und dabei insbesondere Leonhards Einteilung der endogenen Psychosen berücksichtigt. Dass Psychiatrie heute ohne das Wissen um ihre Historie nicht auskommt, hat Klaus Ernst frühzeitig erkannt und entsprechende Projekte initiiert und gefördert [4]. Dass Psychiatriegeschichte zugleich als Kultur- und Sozialgeschichte aufgefasst wer-

den muss, zeigt sich beispielhaft in dem vorliegenden Beitrag über die Psychopathie. Die in diesem Zeitschriftenband vorhandenen Beiträge reichen von psychiatriehistorischen Themen bis zu aktuellen Ergebnissen der Grundlagenwissenschaften und Therapieforschung. Sie zeigen die Interdisziplinarität des Fachgebiets. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich in der Psychiatrie unter dem Aufschwung der Neurowissenschaften eine vorwiegend naturwissenschaftlich geprägte Sichtweise durchgesetzt. Sie versteht sich heute als angewandte Neurowissenschaft, die aufgrund der Komplexität der für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen erforderlichen Bedingungen aber auch psychologische, soziale und kulturelle Einflüsse berücksichtigen muss. Die Psychiatrie hat sowohl eine starke geistes- wie auch neurowissenschaftliche Tradition. Der enorme Erkenntnisgewinn der Neurowissenschaften wird das bisherige Verständnis von psychischen Störungen verändern. Deswegen sollten wir uns in unserem Fachgebiet mit Blick auf die Versorgung psychisch kranker Menschen auf beide Traditionslinien besinnen [5]. In diesem Zusammenhang wurde auf die großen Verdienste der Sozialpsychiatrie hingewiesen, die vor allem ab den 1960er Jahren zu fundamentalen Veränderungen in der Versorgung psychisch Kranker geführt haben [6]. Dagegen droht heutzutage in der Sozialpsychiatrie in Theorie und Versorgung ein Stillstand, der die Zukunft dieser gefährden könnte. Die erwähnte Dominanz der sogenannten biologischen Psychiatrie spielt dabei eine Rolle. Sie als die eigentliche Ursache zu sehen, greift aber zu kurz. Vielmehr muss sich die Sozialpsychiatrie verstärkt mit den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Dazu gehört ein intensiver Diskurs mit der Reflexion der aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnisse, der nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch geisteswissenschaftliche Disziplinen einbeziehen muss. Die bis in die 1980er Jahre noch vorherrschende Konfrontation psychosozialer und neurobiologischer Ansätze in der Psychiatrie ist einer sinnvollen Verbindung beider Perspektiven gewichen. Gleichwohl gibt es warnende Stimmen, die im mittlerweile etablierten biopsychosozialen Erklärungsmodell psychischer Störungen die Gefahr sehen, vorhandene Gegensätze zu überdecken und notwendige Auseinandersetzungen zu verhindern und damit fruchtbare Spannungen aufzulösen [7]. Die Frage nach der neurobiologischen Fundierung psychosozialer Erfahrungen rückt zunehmend in den Fokus der Forschung. Neurowissenschaftliche Studien wenden sich mit den heute verfügbaren Technologien komplexen psychischen und sozialen

Kumbier E et al. Psychiatrie zwischen Neuro- … Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S59–S60

Heruntergeladen von: Georgetown University Medical Center. Urheberrechtlich geschützt.

Psychiatry Between Neurosciences and Social Sciences

Editorial

in die diagnostische Praxis und den wissenschaftlichen Diskurs zu tragen [10]. Gleichzeitig kann Psychopathologie als Ort der methodenkritischen Diskussion und Metareflexion verstanden werden [9]. Eine Trennung der Psychiatrie in eine neurowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche, in eine biologisch und sozial orientierte, ist problematisch und engt unser Sichtfeld auf jeweils einen dieser Aspekte ein. Dabei laufen wir Gefahr, uns im Detail zu verlieren, uns selbst zu begrenzen und das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Die Psychiatrie unterliegt heute neurowissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Einflüssen. Es gilt, dieses Spannungsfeld als Herausforderung anzunehmen und aktiv mitzugestalten. Das erfordert den Einsatz sowohl naturwissenschaftlicher als auch sozialwissenschaftlicher Methoden im Sinne einer integrativen, am biopsychosozialen Modell orientierten Forschungsstrategie auf mehreren Ebenen. Dass Psychiatrie in der Anwendung immer auch als eine soziale zu verstehen ist, die in der Lebensumwelt und in den vielfältigen sozialen Bezügen stattfindet, hat Ernst vielleicht explizit so nicht formuliert, aber in der mitmenschlichen Begegnung selbstverständlich vorgelebt.

Abb. 1 Klaus Ernst zusammen mit Karl Leonhard am 21.3.1984 zu dessen 80. Geburtstag in Berlin (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Klaus Ernst).

Phänomenen zu. Ziel ist es, die neurobiologischen Grundlagen gesunder sowie pathologischer Prozesse und letztlich psychischer Erkrankungen besser verstehen zu können, um neue Präventionsstrategien, diagnostische Ansätze und Therapieoptionen zu entwickeln. Das trägt dazu bei, den lange Zeit bestehenden Gegensatz zwischen neurowissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Arbeitsrichtungen in der Psychiatrie aufzulösen und eröffnet zugleich Chancen für eine interdisziplinäre Forschung mit der Integration sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse [8]. Dem heutigen Nebeneinander von biologischen, psychotherapeutischen und sozialpsychiatrischen Forschungsrichtungen in der Psychiatrie fehlt manchmal aber das Miteinander, um sich einander ergänzen und jeweils Impulse für die Entwicklung unseres Fachgebiets setzen zu können. Die Rolle der Psychopathologie in einer von den Neurowissenschaften dominierten Psychiatrie wird hierbei kontrovers diskutiert [9]. Zukünftig wird sich prinzipiell die Frage stellen, ob sich neurobiologische Parameter vielleicht besser eignen, um valide diagnostische Entitäten zu definieren. In diesem Zusammenhang wird aber auch die Frage nach der zukünftigen Rolle der Psychopathologie zu beantworten sein. Kann die Psychopathologie ihrem Anspruch, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie zu sein überhaupt noch gerecht werden, oder wird sie ganz durch neurobiologisch fundierte Konzepte ersetzt? Die Aufgabe der Psychopathologie könnte künftig u. a. darin bestehen, eine kritische und gleichwohl konstruktive Grundhaltung gegenüber den scheinbar einfachen Gesamterklärungen

Interessenkonflikte: Die Autoren Ekkehardt Kumbier und Roland Wandschneider geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Johannes Thome hat finanzielle Unterstützung (z. B. Vortragshonorare, Stipendien für Forschungsprojekte und wissenschaftliche Veranstaltung, Mitgliedschaft in Beratungsgremien) erhalten von Actelion, AstraZeneca, Bristol-Meyers Squibb, Ever Neuro Pharma, Janssen-Cilag, Lilly, Lundbeck, Medice Arzneimittel Pütter, Merz Pharmaceuticals, Novartis Pharma, Pfizer Pharma, Roche, Servier und Shire.

Literatur 01 Höppner J, Kunesch E, Grossmann A et al. Dysfunction of transcallosally mediated motor inhibition and callosal morphology in patients with schizophrenia. Acta Psychiatr Scand 2001; 104: 227 – 235 02 Ernst K, Seidel K., Hrsg. Detoxikationsverfahren bei neuropsychiatrischen Erkrankungen. Berlin: Verlag Volk und Gesundheit; 1982 03 Ernst K, Börner I, Herbst A et al. Erfahrungen mit der Hämofiltration/ Hämodialyse bei Schizophrenien. Samml Zwangl Abh Geb Psychiatr Neurol 1982; 50: 114 – 123 04 Miesch I. Die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim – Von den Anfängen bis 1946. Rostock: Universität Rostock, Medizinische Fakultät, Zentrum für Nervenheilkunde; 1996 05 Müller-Spahn F. Seelenheilkunde und Neurowissenschaften. Die Psychiatrie 2004; 1: 25 – 35 06 Salize HJ. Sozialpsychiatrie–wohin? Psychiatr Prax 2012; 39: 199 – 201 07 Finzen A. Die Dimension des Sozialen in der Psychiatrie. In: Folkerts H, Schonauer K, Tölle R., Hrsg. Dimensionen der Psychiatrie: Wegweisungen zur Orientierung in einem unübersichtlichen Gebiet. Stuttgart: Thieme; 1999: 42 – 48 08 Schneider F, Falkai P, Maier W. Psychiatrie 2020: Perspektiven, Chancen und Herausforderungen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2011 09 Thome J. Zur Rolle der Psychopathologie im Zeitalter der Molekularen Psychiatrie. In: Höppner J, Schläfke D, Thome J, Hrsg. Impulse für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in der Lebensspanne: Festschrift zum 75 Geburtstag von Herrn Prof Dr Klaus Ernst, Rostock. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2011: 19 – 29 10 Förstl H, Hoff P. Theoriefreie Klassifikation psychischer Störungen. Psychiatr Prax 2009; 36: 55 – 57

Kumbier E et al. Psychiatrie zwischen Neuro- … Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S59–S60

Heruntergeladen von: Georgetown University Medical Center. Urheberrechtlich geschützt.

S60

[Psychiatry Between Neurosciences and Social Sciences].

[Psychiatry Between Neurosciences and Social Sciences]. - PDF Download Free
1KB Sizes 1 Downloads 11 Views