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Rezeptive und expressive Sprachentwicklung bei Kindern mit CI-Versorgung Receptive and Expressive Speech Development in Children with Cochlear Implant

Institute

Schlüsselwörter ▶ Cochlea Implantat ● ▶ Sprachentwicklung ● ▶ auditives Gedächtnis ● ▶ sensorineurale ● ­Schwerhörigkeit ▶ rezeptive und expressive ● Sprachentwicklung Key words ▶ early cochlear implantation ● ▶ language development ● ▶ sensorineural hearing loss ●

B. Streicher1, K. Kral1, M. Hahn2, R. Lang-Roth1, 3 1

 Cochlear-Implant-Zentrum Köln, Uniklinik Köln, Köln  Institut für medizinische Statistik, Epidemiologie, Uniklinik Köln, Köln 3  HNO-Uniklinik, Phoniatrie & Pädaudiologie, Köln 2

Zusammenfassung



Hintergrund:  Der Verlauf der frühen Hör- und Sprachentwicklung von an Taubheit grenzend schwerhörigen Kindern, die mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt wurden, stellt den Inhalt dieser Untersuchung dar. Hierbei stehen die rezeptive und expressive Sprache sowie das auditive Gedächtnis im Vordergrund der Untersuchung. Material und Methoden:  Retrospektiv wurden die Datensätze des Sprachentwicklungstest von Grimm (SETK) von 49 Kindern, die innerhalb der ersten 3 Lebensjahre Cochlea implantiert wurden, ausgewertet. Die Testung erfolgte 3 Jahre nach Cochlea Implantation der ersten Seite. Die Untersuchungsgruppen wurden in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Versorgung in 3 Untergruppen aufgeteilt: CI-Implantation der ersten Seite in den ersten 12 Lebensmonaten (Gruppe 1), zwischen dem 13. und 24. Lebensmonat (Gruppe 2) und ab dem 25. Lebensmonat Gruppe 3.

Hintergrund

▼ eingereicht 03. Juni 2014 akzeptiert 25. Juni 2014 Bibliografie DOI  http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1384586 Online-Publikation: 25.9.2014 Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: 225–231 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0935-8943 Korrespondenzadresse Dr. Barbara Streicher Lehrerin für Sonderpädagogik Cochlear-Implant-Zentrum Köln Uniklinik Köln Kerpenerstraße 62 50924 Köln [email protected]

Durch das universelle Neugeborenenhörscreening (NHS) ist die strukturelle Voraussetzung geschaffen, einen bei Geburt bestehenden Hörverlust über 35 dB früh zu diagnostizieren und mit Hörgeräten zu versorgen. Die pädaudiologischen Untersuchungsmöglichkeiten erlauben eine sichere Abschätzung des Hörverlusts und können bei hochgradig an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit, wenn dies von Elternseite gewünscht ist, zu einer Cochlea Implantation im 1. Lebensjahr führen [1]. Die daraus resultierende frühzeitige Stimulierung der Hörbahn mit Hörsystemen in der sensiblen Phase des auditiven Reifungsprozesses bildet die Voraussetzung für das Hören lernen und den damit verbundenen (Laut)Spracherwerb [2]. Hochgradig an Taubheit grenzend schwerhörige Kinder, die innerhalb der ersten 3 Lebensjahre mit einem Cochlea Implantat ver-

Ergebnisse:  Die Untertests des SETK 3–5 können bei der Majorität der Probanden (63 %) durchgeführt werden. Ein homogenes Testprofil in 4 Untertests weist auf eine ausgeglichene Entwicklung der rezeptiven und expressiven Sprache hin. Somit verringert sich die Diskrepanz zwischen Hör-/Sprachentwicklungsalter und Lebensalter. Meilensteine der rezeptiven und expressiven Sprachentwicklung sowie das auditive Gedächtnis sind bei Kindern, die das CI vor dem 1. Geburtstag erhielten früher erreicht als bei Kindern, die nach dem 1. Lebensjahr versorgt wurden. Schlussfolgerung:  Der Sprachentwicklungstest für Kinder (SETK 3–5) ist ein Testverfahren, das auch für die Sprachentwicklungsdiagnostik von schwerhörigen Kindern, die mit CI versorgt sind, nach 3 Jahren Höralter eingesetzt werden kann. Hiermit kann die rezeptive und expressive ­Sprache und das auditive Gedächtnis untersucht werden.

sorgt wurden, haben eine gute Prognose gesprochene Sprache zumindest höralters- wenn nicht lebensaltersgemäß zu entwickeln [2–7]. Die Organisation der Sprachlaute (Phonologie), die Wortbildung (Semantik) und der Erwerb der Wort- und Satzbildung (Grammatik) sind die wichtigsten Komponenten auf dem Weg zur Sprache. In der Kommunikationssituation und der Interaktion mit dem Gesprächspartner ­entwickelt das Kind den Einsatz sozial angemessener Sprache (Pragmatik) [8]. In den meisten Kulturen erlernen Kinder die wesentlichen Strukturen ihrer Muttersprache bis zum Alter von 4 Jahren in der postulierten sensiblen Phase für den Spracherwerb [9]. In der präverbalen Phase im 1. Lebensjahr erwirbt das Kind ein für die Muttersprache typisches Lautrepertoire. Darauf baut im 2. Lebensjahr die Wortschatzentwicklung auf und es lernt semantische Relationen in Mehrwortäußerungen

Streicher B et al. Rezeptive und expressive Sprachentwicklung …  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: 225–231

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Autoren

226 Originalie Hypothesen der Untersuchung 1. Der Zeitpunkt der CI-Versorgung beeinflusst die Sprachentwicklung hochgradig an Taubheit grenzend hochgradig schwerhöriger Kinder. 2. Der SETK 3–5, ein Test zur Überprüfung der Sprachentwicklung hörender Kinder, kann bei Kindern nach Cochlea Implantation unter Berücksichtigung des Höralters angewandt werden.

Material und Methoden



Probanden

Eingeschlossen wurden die Datensätze von Kindern, die sich in der regelmäßigen Nachsorge im Cochlear Implant Zentrum befanden und zu definierten Zeitpunkten hinsichtlich ihrer Sprachentwicklung evaluiert wurden. Die Implantation erfolgte vor dem 36. Lebensmonat, die Erziehung war ein- oder mehrsprachig. Die Eltern willigten in die Testung ein. Ausgeschlossen wurden Datensätze von Kindern mit bekannten schweren kognitiven oder körperlichen Beeinträchtigungen (Befunde des Sozialpädiatrischen Zentrums). Die Datenerhebung erfolgte zwischen 2005 und 2012.

Testmaterial

Der Sprachentwicklungstest für Kinder im Alter von 3–5 Jahren (SETK 3–5, Grimm 2001) ist ein standardisiertes Testmaterial zur Beurteilung der rezeptiven und expressiven Sprachentwicklung sowie der Gedächtnisleistungen [10]. Der Test ist für den Altersbereich zwischen 3,5–5,11 Jahren für normal hörende Kinder normiert. In der Normierungsgruppe waren 495 ­Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren (230 Mädchen/265 Jungen aus 8 Städten). ●  ▶  Abb. 1 stellt die Subtests der SETK-Testbatterie dar. Der Subtest „Verstehen von Sätzen“ (VS) prüft die rezeptive Sprache. Die Sprachproduktion wird mit den Subtests „morphologische Regelbildung“ (MR) und in der Version 3,0–3,11 Jahre mit dem Subtest „Enkodierung semantischer Rela­t­ionen“ (ESR) getestet. Das auditive Gedächtnis prüft der Untertest „phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter“ (PGN). Die valide Untersuchung von mehrsprachig aufwachsenden Kindern stellt zwar grundsätzlich eine Problematik dar. Dennoch sind die ­Meilensteine der Sprachentwicklung universell, sodass der Be-

Sprachverstehen

Sprachproduktion

Auditives Gedächtnis

Verhältnis von Denkund Sprachentwicklung Verstehen von Sätzen (VS)

Enkodierung semantischer Relationen (ESR)

Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter (PGN)

Morphologische Regelbildung von Singular und Plural (MR)

Satzgedächtnis – Speicherfähigkeit grammatischer Strukturen im Langzeitgedächtnis (SG)

Modifizierte Einordnung der Subtests aus dem Sprachentwicklungstest für Kinder (SETK 3–5) in Bereiche der Sprachentwicklung

Abb. 1  Modifizierte Einordnung der Subtests aus dem Sprachentwicklungstest für Kinder (SETK 3–5) in Bereiche der Sprachentwicklung.

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zu versprachlichen. Mit 3 Jahren beginnt das Kind, Beziehungen zwischen semantischen Einheiten nach morphologischen und syntaktischen Regeln zu kodieren. Gleichzeitig ist es in der Lage, komplexer werdende Sätze in unterschiedlichen Kontexten zu verstehen. Ab dem 4. Lebensjahr beginnt die internale Repräsentation von Sprache und ein abstraktes sprachliches Regelwissen ist verfügbar [10]. Besondere Bedeutung kommt dem Aufbau auditiver Gedächtnisleistungen zu, indem unterschiedliche Leistungen auf diversen Verarbeitungsebenen involviert sind [8, 10]. Der Vorteil der frühen CI-Implantation (vor dem 2. Lebensjahr) für den Spracherwerb ist im Unterschied zur späteren Versorgung inzwischen vielfältig dokumentiert [7, 11–17]. Die Ergebnisse bestehender Untersuchungen zeigen allerdings unterschiedliche Verläufe der Sprachentwicklung. In einem dänischen Kollektiv erwerben die meisten Kinder 94 (68 %) (mittleres CI-Operationsalter 19,5 Monate) kein altersgerechtes Sprachverstehen (Reynell-Untertest Sprachverstehen). Lediglich die Untergruppe der Kinder, die vor dem 12. Monat CIimplantiert wurden, zuvor mit Hörgeräten versorgt waren und auditiv verbal erzogen wurden, wiesen lebensaltersgerechte Sprachentwicklungswerte auf [18]. Eine andere Arbeitsgruppe kommt in einer Untersuchung an 60 einsprachig aufwachsenden Kindern zu dem Ergebnis, dass die Versorgung unter 12 Monaten einen deutlichen Vorteil für den Erwerb der gesprochenen Sprache in den Bereichen Wortschatz und Grammatikentwicklung hat [19]. In einem Kollektiv von ca. 30 Kindern konnte gezeigt werden, dass die phonologische Entwicklung verzögert und strukturell anders als bei hörenden Kindern verläuft [20]. Im Unterschied hierzu variiert in einer deutschen Untersuchung an 22 Kindern der Verlauf der Sprachentwicklung auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen deutlich [21–23]. Ein signifikanter Zusammenhang besteht zwischen Spracherwerb und dem Faktor „Sprachgebrauch“ im Elternhaus während der sensiblen Phase [23]. Zusammenfassend betrachtet, werden als Ursachen für die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe demografische, medizinische und audiologische Faktoren genannt. Der Zeitpunkt bei Versorgung, sozioökonomischer Hintergrund der Familie, nonverbale Intelligenz und der Gebrauch von gesprochener Sprache beeinflussen den Spracherwerb nach Cochlea Implantation. Jedoch sind die intraindividuellen Verläufe der Sprachentwicklung bei Kindern mit Cochlea Implantat variabel und noch nicht vollständig prognostizierbar [12, 24–26]. Der adäquate Implantationszeitpunkt gehörlos geborener Kinder wird kontrovers diskutiert. Mit der Versorgung innerhalb des 1. Lebensjahrs ist aus neurophysiologischer Sicht die möglichst physiologische Reifung des auditorischen Systems verbunden, die einen großen Einfluss auf die perzeptive Entwicklung und die auditive Diskrimination hat und die Basis für den Spracherwerb bildet. Andererseits befinden sich Eltern eines Säuglings nach der Diagnosestellung Taubheit in einer vulnerablen Lebensphase [27]. Die Operation ist aus Elternsicht ein entscheidender Eingriff in die Unversehrtheit ihres Säuglings und stellt sie vor einen schwierigen Entscheidungsprozess. In der folgenden Untersuchung wird der Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der Cochlea Implantation und dem Sprach­ erwerb unter besonderer Berücksichtigung der expressiven und rezeptiven Sprachentwicklung sowie dem auditiven Gedächtnis ▶  Abb. 1). untersucht ( ●

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Auswertung

Die Testpunktwerte werden mit Referenzwerten für hörende Kinder aus dem Testmanual in der Altersgruppe 3,0–3,5 Jahren ausgewertet. Die Evaluation erfolgte 3 Jahre nach der ersten Cochlea Implantation. Die Untersuchungsgruppe wurde in Abhängigkeit vom Versorgungszeitpunkt in 3 Untergruppen aufgeteilt: CIVersorgung in den ersten 12 Lebensmonaten (Gruppe 1), zwischen dem 13. und 24. Lebensmonat (Gruppe 2) und nach dem 25. Lebensmonat (Gruppe 3). Die Testdurchführung dauert ca. 20–30 min. In dieser Untersuchung wird das „Höralter“ (Zeitpunkt der Versorgung mit einem CI bis zum Testzeitpunkt) synonym zu Sprachentwicklungsalter verwendet.

Statistische Auswertung

Die retrospektive Auswertung der Daten erfolgte deskriptiv. Bedingt durch die Heterogenität des Kollektivs hinsichtlich der Fähigkeiten und dem Alter wurden zunächst die Rohwerte ausgewertet. Verglichen wurden die Mediane der Gruppen und das 1. und 3. Quartil aufgeführt. Anschließend erfolgte die Transformation der Rohdaten mit den im Testmanual angegebenen T-Werten und deren Auswertung [8]. Im Vordergrund der Untersuchung steht der Vergleich zwischen den Gruppen (Zeitpunkt der Versorgung mit dem ersten CI, Herkunft der Probanden). Der Zusammenhang zwischen den genannte Faktoren und der Sprachentwicklung wurde mittels des nichtparametrischen Tests Kruskal-Wallis untersucht. Ein pWert von  ≤ 0,05 gilt dabei als statistisch signifikant.

Die Einhaltung der aktuellen Deklaration von Helsinki wird vom Autor bestätigt.

Demografische Daten

Die Kohorte besteht aus 49 Kindern (25 weiblich/24 männlich). Das mittlere Lebensalter lag in der Kohorte bei 60 Monaten ( ± 13) und das Höralter mit CI bei 34 ( ± 9,9). Die Ursache der Hörschädigung ist in 46,9 % genetisch, in 8,2 % syndromal, in 10,2 % war eine intrauterine Zytomegalie-Virusinfektion oder Meningitis die Ursache der Schwerhörigkeit. Bei einem Kind (4 %) liegt eine auditorische Synaptopathie/Neuropathie vor. In 30,6 % ist die Ursache nicht bekannt. Insgesamt sind 69,4 % der Kinder bilateral mit CI-Systemen versorgt, bimodal (Hörgerät und CI) 22,4 % und unilateral 8,2 %. Einsprachig erzogen in der Familie sind 73,5 % und sequenziell mehrsprachig wachsen 18,4 % der Kinder auf. In 8,2 % der Fälle liegt eine kommunikative Mischform im Sinne des simultanen Zweitspracherwerbs von Lautsprache und die Lautsprache unterstützende Gebärde vor. 53,1 % der getesteten Probanden besuchen einen allgemeinbildenden Kindergarten oder sind bereits in eine allgemeinbildende Schule eingeschult. 46,9 % gehen in eine Förderschuleinrichtung. Einen Überblick über das Lebens- und Höralter in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Versorgung mit einem CI zeigt ●  ▶  Tab. 1.

Ergebnisse



Die komplette Testdurchführung mit 4 Subtests konnte an 31 Probanden (63 %) durchgeführt werden. Bei 27 % konnten aufgrund der Entwicklung des Kindes nicht alle Untertests durchgeführt bzw. beendet werden. Die Mediane der einzelnen Gruppen in den Untertests wurde mit den im Testmanual aufgeführten Rohwerten verglichen.

Tab. 1  Darstellung des Lebens- und Höralters, der Mittelwerte, Mediane und Spannweiten der Gruppen 1–3 bei Testung in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Versorgung. Versorgungszeitpunkt mit CI

Gruppe 1 CI 

[Receptive and expressive speech development in children with cochlear implant].

This study's aim is the assessment of language development of children with Cochlea Implant (CI). It focusses on receptive and expressive language dev...
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