Originalarbeit

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Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) als therapeutische Option in der Psychiatrie – Stand der Anwendung in Deutschland Repetitive Transcranial Magnetic Stimulation (rTMS) as a Therapeutic Tool in Psychiatry – Current State of Application in Germany Autoren

V. Bürger1, P. Zwanzger2, J. Höppner1

Institute

1

Schlüsselwörter

●▶ rTMS ●▶ Therapie ●▶ Umfrage

Key words

●▶ rTMS ●▶ therapy ●▶ survey

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock kbo-Inn-Salzach-Klinikum gemeinnützige GmbH, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin, Geriatrie und Neurologie

Zusammenfassung

Abstract

Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) eröffnet neue therapeutische Optionen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen. Die Anwendung der rTMS bei Depressionen ist bisher in Studien am besten untersucht worden. In Deutschland wird die rTMS außerhalb klinischer Studien nicht nur bei Depressionen bereits immer häufiger angewendet. Unsere bundesweite Umfrage an psychiatrischen Kliniken diente der Erfassung eines aktuellen Standes der Anwendung der rTMS im klinischen Alltag und soll als Grundlage für die Entwicklung von Qualitätsstandards dienen.

The repetitive transcranial magnetic stimulation (TMS) opens new therapeutic options in neuropsychiatric disorders. The use of rTMS in depressive disorders has been most preferably investigated in clinical trials. In Germany, the application of rTMS outside of clinical trials is already increasingly common, not only for depression. Our nationwide survey in psychiatric hospitals was used to detect the current state of the application of rTMS in clinical practice, and should serve as a basis for the development of quality standards.



Einleitung



Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0042-113952 Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S63–S66 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0940-8584 Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. habil. Jacqueline Höppner Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock Gehlsheimer Str. 20 18147 Rostock [email protected]

Bereits vor 20 Jahren wurde die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) erstmals bei depressiven Patienten angewandt [1], eine erste kontrollierte Studie wurde 1996 veröffentlicht [2]. Seither ist eine Zunahme von Publikationen zum therapeutischen Einsatz nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie z. B. Schizophrenien [3, 4], Angststörungen [5] und Chronischem Tinnitus [6] zu verzeichnen. Aktuelle Übersichtsarbeiten berichten über den Stand der Forschung zum therapeutischen Einsatz der rTMS [7, 8]. Nur für Depressionen ist die Datenlage allerdings annähernd geeignet, Empfehlungen für den klinischen Alltag auszusprechen. 2008 erfolgte in den USA die Zulassung durch die „Food and Drug Administration“ zur Behandlung von Patienten mit Depressionen. Auch in Deutschland gibt es diesbezüglich Entwicklungen. Die S3-Versorgungsleitlinien zur Unipolaren Depression (2015) bewerten die rTMS des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC) bei therapieresistenten Patienten als Therapieoption [9]. Die S3-Behandlungsleitlinien Schizophrenie (2006) äußern sich noch zurückhaltend [10],



aber das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hat auf Grundlage eingegangener Vorschläge, federführend durch die ständige Konferenz der Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie, einen OPS Code für die rTMS definiert. Die rTMS ist jedoch weder Bestandteil der Facharztweiterbildung noch einer anderen Zusatzqualifikation; dennoch wird sie bereits in vielen Kliniken und Praxen eingesetzt. Um eine Vorstellung von der Zahl der Behandlungen, Indikationen, dem technischen Hintergrund sowie der Einstellung zur rTMS an deutschen psychiatrischen Kliniken zu erhalten, wurde von uns eine Onlineumfrage durchgeführt.

Methode



Über die Onlineplattform „easyfeedback“ (www. easy-feedback.de) wurde im Februar 2015 eine anonymisierte und geschlossene Befragung an einen eindeutig abgrenzbaren Personenkreis, die Direktoren der Einrichtungen von 214 Kliniken der Bundesdirektorenkonferenz und 53 Universitätskliniken, verschickt. Über einen Link gelangten

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die Teilnehmer zum Fragebogen, der auf dem Server abgelegt und dort ausgefüllt werden konnte. Dieser umfasste 15 Fragen, u. a. zur Häufigkeit der Anwendung der rTMS in der Einrichtung, zur Indikationsstellung, technischen Durchführung, zu beobachteten Nebenwirkungen, aber auch zur subjektiven Einstellung. Eine Rückantwort konnte innerhalb von 3 Monaten nach Onlineschaltung erfolgen.

Zu den beobachteten Nebenwirkungen gehörten am häufigsten Kopfschmerzen (88 %). Darüber hinaus wurden auch nicht näher bezeichnete Synkopen (13 %) und subjektive Schwindelsymptome ▶ Abb. 2). 72 % der Befragten bewerteten die angegeben (13 %) (● rTMS als ein sicheres und nebenwirkungsarmes Verfahren. Schwerwiegende andere Nebenwirkungen, z. B. Krampfanfälle, wurden nicht berichtet. Ein Wunsch nach Fortbildung wurde von 62 % der Teilnehmer angegeben.

Ergebnisse



Diskussion

Die Umfrage wurde von 42 psychiatrischen Behandlungseinrichtungen beantwortet, was einer Rücklaufquote von 16 % entspricht. 41 % der Einrichtungen nutzten die rTMS zu therapeutischen Zwecken. Dabei war am häufigsten eine therapeutische Anwendung bei Depressionen zu verzeichnen (1462 Patienten mit unipolarer Depression/Jahr; 260 Patienten mit bipolarer Depression), gefolgt vom Einsatz bei Abhängigkeitserkrankungen (710 Patienten/Jahr), Angststörungen (437 Patienten/Jahr), chronisch akustischen Halluzinationen (307 Patienten/Jahr) und schizophrener Negativsymp▶ Abb. 1). tomatik (243 Patienten/Jahr) (● Im Mittel bewerteten 43 % der Anwender die rTMS als therapeutisch hilfreich, bei Abhängigkeitserkrankungen 73 %, bei unipolarer Depression 48 %, bei bipolarer Depression 49 %, bei Angststörungen 45 %, bei schizophrener Negativsymptomatik 38 % und bei chronisch akustischen Halluzinationen 35 %. Indikationen für den Einsatz waren überwiegend therapieresistente, chronifizierte Erkrankungsverläufe und Alternativen zu einer Medikation. 62 % der Befragten gaben an, dass die rTMS in einem neurophysiologischen Labor erfolgt und häufiger von medizinisch-technischen Assistenten (MTA) (47 %) und in 43 % von Ärzten übernommen wird. Mehr als die Hälfte der Befragten verwendete Schmetterlingsspulen (54 %). Die Positionierung der Spule erfolgte am häufigsten über die Orientierung am 10 – 20-EEG-System (61 %) und die manuelle Vermessung z. B. des dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC) anhand des motorischen kortikalen Handareals (30 %). Nur in 9 % wurde ein Neuronavigationssystem verwendet.



Die anonymisierte Onlineumfrage erfolgte zur Erfassung der Häufigkeit der therapeutischen Anwendung der rTMS an stationären psychiatrischen Einrichtungen. Zusätzlich sollten Indikationsstellungen, die technische Durchführung, die subjektive Einschätzung zur rTMS und der Fortbildungsbedarf eingeschätzt werden. Wir nutzten eine internetbasierte Befragung, da eine hohe Erreichbarkeit der Zielgruppe (psychiatrische Krankenhäuser) resultieren sollte. Die Vorteile lagen in der orts- und zeitunabhängigen Bearbeitung, die auch unterbrochen werden konnte [11]. Die Rücklaufquote von 16 % ist als gering zu bewerten, so dass die Ergebnisse nur einen Eindruck der bisherigen therapeutischen Anwendung der rTMS in Deutschland vermitteln können. Die Repräsentativität stellt ein grundlegendes Problem von Onlinebefragungen dar [12]. Einige Autoren berichten über Ausschöpfungsquoten von bis zu 70 % [13], andere nennen deutlich geringere. Unsere Quote ist für eine Onlinebefragung als niedrig einzustufen und liegt darüber hinaus unter der aus vorherigen postalischen Befragungen bekannten [12]. Dies könnte am Befragungsinhalt liegen, der möglicherweise als zu speziell eingestuft wurde, und am Bearbeitungsaufwand, der trotz der dafür vorgesehenen max. 20 Minuten möglicherweise immer noch als zu hoch eingeschätzt wurde. Das Ergebnis zeigt jedoch, dass die rTMS, obwohl sie momentan weder Bestandteil der Facharztweiterbildung noch einer anderen Zusatzqualifikation ist, jährlich bei ca. 3400 Patienten mit psychischen Störungen angewendet wird. Zwei Drittel der Befragten

1462

Unipolare Depression Bipolare Depression

260

Schizophrenie Negativsymptomatik

243

Akustische Halluzinazion

307

Angsterkrankungen

437

Chronischer Tinnitus

13

Abhängigkeitserkrankung

710

Morbus Alzheimer

140

Andere*

612 0

400

800 1200 Anzahl der jährlich behandelten Patienten

*Anpassungsstörungen, dissoziative Lähmung, Persönlichkeitsstörungen, andere neurodegenerative Erkrankungen, ADHS, Zwangsstörungen Abb. 1

Häufigkeit der Anwendung der rTMS bei verschiedenen psychischen Erkrankungen im Ergebnis der Onlineumfrage.

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Welche Nebenwirkung beobachten Sie bei der rTMS Behandlung: Kopfschmerz

88 %

ja

12 %

nein Tinnitus

13 %

87 %

Kognitive Nebenwirkung

0%

100 %

Synkopen

7%

93 %

13 %

87 %

Andere*

38 %

62 % 0

25

50

75

100

*Wärme-, Druckgefühl an der Stimulationsstelle, Schmerzen während und nach der Stimulation an der Stimulationsstelle, Kontraktion der Gesichtsmuskulatur, Kopfdruck, Kribbeln, Ziehen, Übelkeit, Nackenverspannungen, 1 × Auslösung einer manischen Episode Abb. 2

Häufigkeit der Nebenwirkungen. In 62 % wurden andere Nebenwirkungen als in der Auswahl angegeben und spezifiziert (*).

halten die Methode für sicher und unbedenklich. Schwerwiegende Nebenwirkungen wurden nicht berichtet, am häufigsten Kopfschmerzen. Damit weichen die Angaben nicht von den in der Literatur beschriebenen Nebenwirkungen ab [14]. Die Methode wurde zu 62 % in einem neurophysiologischen Labor und häufiger von MTA als von Ärzten durchgeführt. Für die Positionierungsverfahren wurde sich überwiegend herkömmlich orientiert am 10 – 20-EEG-System. Der DLPFC wurde oftmals vom motorischen Kortex aus mittels manueller Vermessung (5 cm anterior zum optimalen kortikalen Stimulationsort der distalen Handmuskulatur) bestimmt. Zu vernachlässigen war die Nutzung von Neuronavigationssystemen, zu deren Vorteilen nur wenige Daten existieren [15, 16]. Darüber hinaus ist bisher nicht klar, welchen Einfluss die Genauigkeit der Spulenpositionierung auf Therapieeffekt und Nebenwirkungen hat [14]. Neuronavigationssysteme erfordern hohe Investitionskosten und sind im klinischen Alltag oftmals nicht praktikabel genug. Somit könnten die an das 10 – 20-International-EEG-System gebundenen Positionierungsverfahren einen guten Kompromiss darstellen. Über die Hälfte der Teilnehmer sprach den Wunsch nach Fortbildung zur Anwendung der rTMS aus. Diesem Ergebnis wurde die Deutsche Gesellschaft für Hirnstimulation in der Psychiatrie (DGHP e. V.; http://www.dghp-online.de/) gerecht, indem sie ein zertifiziertes Fortbildungsprogramm zu nichtinvasiven Hirnstimulationsverfahren in der Psychiatrie herausgab. Vor dem Hintergrund der häufigen Applikation der rTMS durch MTA ist der Fortbildungsbedarf auch für diese Berufsgruppe künftig zu beachten und in die Zertifizierung mit aufzunehmen. Zusätzlich erscheint es sinnvoll, Erfassungen der Anwendung der Methode in Deutschland auch im Bereich von Praxen und Niederlassungen durchzuführen. Die DGHP wird hierzu in einem weiteren Projekt eine Möglichkeit der Registrierung der anwendenden Einrichtungen über ihre Homepage anbieten.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur 01 Höflich G, Kasper S, Hufnagel A et al. Application of transcranial magnetic stimulation in treatment of drug-resistant major depression – a report of two cases. Human Psychopharmacol 1993; 8: 361 – 365 02 Pascual-Leone A, Rubio B, Pallardo F et al. Rapid-rate transcranial magnetic stimulation of left dorsolateral prefrontal cortex in drug-resistant depression. Lancet 1996; 348: 233 – 237 03 Slotema CW, Blom JD, de Weijer AD et al. Can low-frequency repetitive transcranial magnetic stimulation really relieve medication-resistant auditory verbal hallucinations? Negative results from a large randomized controlled trial. Biol Psychiatry 2011; 69: 450 – 456 04 Shi C, Yu X, Cheung EF et al. Revisiting the therapeutic effect of rTMS on negative symptoms in schizophrenia: a meta-analysis. Psychiatry Res 2014; 215: 505 – 513 05 Vennewald N, Diemer J, Zwanzger P. Repetitive transcranial magnetic stimulation (rTMS) for anxiety disorders–a possible therapeutic option? Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81: 550 – 560 06 Langguth B, Eichhammer P, Zowe M et al. Low frequency repetitive transcranial magnetic stimulation (rTMS) for the treatment of chronic tinnitus–are there long-term effects? Psychiatr Prax 2004; 31 (Suppl 1): S52 – S54 07 Lefaucheur JP, Andre-Obadia N, Antal A et al. Evidence-based guidelines on the therapeutic use of repetitive transcranial magnetic stimulation (rTMS). Clin Neurophysiol 2014; 125: 2150 – 2206 08 Kreuzer PM, Lefaucheur JP, Höppner J et al. rTMS in der Therapie psychiatrischer Erkrankungen: Grundlagen und Methodik. Nervenheilkunde 2015; 34: 965 – 975 09 DGPPN., Hrsg. S3-Behandlungsleitlinie Schizophrenie; 2006 10 DGPPN, BÄK, KBV., Hrsg. S3-Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression; 2015 11 Fischer M., Hrsg. Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Surveys im Internet. Hefte zur Bildungs- und Hochschulforschung; 2005 12 Batinic B., Hrsg. Fragebogenuntersuchungen im Internet; Questionnaire studies on the Internet. Aachen: Shaker; 2001 13 Maurer M, Jandura O. Masse statt Klasse? Einige kritische Anmerkungen zu Repräsentativität und Validität von Online-Befragungen. In: Jakob N, Schoen H, Zerback T, Hrsg. Sozialforschung im Internet Methodologie und Praxis der Online-Befragung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden; 2009: 61 – 73

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Neurologische Ausfälle

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14 Rossi S, Hallett M, Rossini PM et al. Safety, ethical considerations, and application guidelines for the use of transcranial magnetic stimulation in clinical practice and research. Clin Neurophysiol 2009; 120: 2008 – 2039 15 Fitzgerald PB, Maller JJ, Hoy KE et al. Exploring the optimal site for the localization of dorsolateral prefrontal cortex in brain stimulation experiments. Brain stimulation 2009; 2: 234 – 237

16 Hoffman RE, Hampson M, Wu K et al. Probing the pathophysiology of auditory/verbal hallucinations by combining functional magnetic resonance imaging and transcranial magnetic stimulation. Cereb Cortex 2007; 17: 2733 – 2743

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[Repetitive Transcranial Magnetic Stimulation (rTMS) as a Therapeutic Tool in Psychiatry - Current State of Application in Germany].

The repetitive transcranial magnetic stimulation (TMS) opens new therapeutic options in neuropsychiatric disorders. The use of rTMS in depressive diso...
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