Schweiz. Ophthal. Ges., 67. Vers., Interlaken 1974 Ophthalmologica. Basel 172: 175 180 (1976)

Stäbchen- und Zapfenaktivität im klinischen Elektroretinogramm G ü n t e r N iem eyer

Die Netzhaut der meisten Vertebraten, einschliesslich des Menschen, weist in Struktur und Funktion eine zweifache Organisation auf [Dupli­ zitätstheorie, v o n K r ies , 1904], Stäbchen und Zapfen sind, zumindest teilweise, getrennt mit nachfolgenden Neuronen synaptisch verschaltet und funktionieren unter entsprechenden Beleuchtungsvcrhältnisssen un­ abhängig voneinander. Ein bemerkenswerter Unterschied dieser beiden retinalen Systeme ist ihre spektrale Empfindlichkeit. Deren Verschie­ bung (Purkinje-Shift) kann beim Wechsel von heller zu dunkler Um­ gebung als Verlagerung des Empfindlichkeitsmaximums um etwa 50 nm zum kurzwelligen Bereich beobachtet und elektrophysiologisch nachge­ wiesen werden. Ein weiterer Unterschied liegt in der Fiimmervcrschmelzungsgrenze, die je nach Untersuchungsbedingungen für das Stäbchen­ system unter 20 Hz und für das Zapfensystem etwa bei 60 Hz liegt [G o uras und G u n k e e , 1964], Dunkel- und Helladaptation in Verbin­ dung mit Lichtstimulation durch abgeglichene Farbfilter erlaubt selektive Untersuchung des Stäbchen- und des Zapfensystems der Retina. Eine Stimulationsmethode für Elektroretinographie (ERG), die die ge­ nannten Charakteristika der beiden Perzeptionsmechanismen ausnützt, wurde von B erso n et al. [1968] und G ouras [ 1970] angegeben und in unseren Untersuchungen verwendet [N iem eyer und M a r q u a r d t , 1972; W ild ber g er und N iem ey er , 1974], Abbildung 1 zeigt die Apparatur schematisch. Die Untersuchungs­ person befindet sich in einem Faraday-Käfig und blickt auf ein Fixier­ lämpchen in einer Halbkugel. Lichtblitze eines Grass-Photostimulators werden in dieser weiss reflektierenden Halbkugel gleichmässig verteilt und erregen so die gesamte Netzhaut zur gleichen Zeit (Ganzfeldstimula-

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Universitäts-Augenklinik (Direktor: Prof. R. W itmer), Zürich

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tor). Das Reizlicht wird durch breitbandige Farbfilter in der Wellenlänge begrenzt und durch Neutralfilter abgeschwächt. Für Helladaptation wird der Ganzfeldstimulator ständig mit 23 phot. Troland ausgeleuchtet. Henkes-low-vacuum-Hornhautelektroden und eine Referenz-Haut­ elektrode über der Nasenwurzel verbinden die Versuchsperson mit einem RC-gekoppelten Vorverstärker (Frequenzband 0,2-1000 Hz), von wo aus die Signale einem Kathodenstrahloszillographen zugeführt und dann mit einer Polaroidkamera photographiert werden. Der Routineuntersuchungsgang sei anhand einer typischen Sequenz normaler ERG dargestellt (Abb. 2). Nach 15 min Dunkeladaptation werden Blitze über ein Filter für langwelliges Licht (rot) und über ein Filter für kurzwelliges Licht (blau) appliziert. Die Intensität dieser Biltze wurde zur Kalibration des Gerätes psychophysisch für gleiche Schwellen­ empfindung abgeglichen und ergab dann elektrophysiologisch, bei einer Intensität von etwa 6 log Einheiten oberhalb der Schwellenintensität, für das Stäbchensystem charakteristische ERG mit b-Wellen gleicher Ampli­ tuden. Der langwellige Reiz löst zusätzlich eine frühe, oszillatorische bWelle aus (Abb. 2, Pfeil), die von miterregter Zapfensystemaktivität herrührt [G o u r a s , 1967]. In Helladaptation können auf ähnliche Weise mit abgeglichenen Farbfiltern des kurzwelligen und des langwelligen Spektralbereiches b-Wellen von gleicher Amplitude ausgelöst werden. Diese entsprechen der Aktivität des Zapfensystems, sind durch kleinere

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Abb. I . Schematische Darstellung des ERG-Stimulators und der Ableitungs­ methode. A = Adaptionsleuchte; B = Blitzröhre eines Grass-Photostimulators; C = Kontaktlinsenelektrode; F = Faraday-Käfig; G = Ganzfeldstimulator; KO = Ka­ thodenstrahloszillograph: P = Photozelle; R = Referenzelektrode, hier symbolisch der Sklera anliegend dargestellt; S - Steuergerät, bestehend aus Pulsgenerator und Pho­ tostimulator; V = Vorverstärker (x 1000).

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Amplituden der b-Wellcn sowie durch kurze Latenz- und Gipfelzeichen gekennzeichnet (Abb. 2, O und BG). Flicker-ERG werden ebenfalls bei Adaptationsbeleuchtung, aber mit weissen Lichtblitzen bei einer Fre­ quenz von 30 Hz ausgelöst (Abb. 2, WF). Derartige Gruppen lichtevozierter elektrischer Antworten werden re­ produzierbar von gesunden menschlichen Augen mit tolerierbarcr Streu­ ung der Amplituden und sehr geringer Variabilität der zeitlichen Cha­ rakteristik abgeleitet [H a tt und N iem ey er , unveröffentlichte Resultate 1974], Abbildung 3 zeigt ERG von 2 Patienten (1 und 2) in Gegenüberstel­ lung zu denen einer gesunden Versuchsperson (K). Fall 1 zeigt die Ablei­ tungen eines einseitig an Siderosis erkrankten Patienten (G.P., ERG

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Abb.2. ERG einer 25jährigen gesunden Versuchsperson. Von oben nach unten: In Dunkcladaptation (DA) wurden Blitze über ein blaues (B) und über ein rotes (R) Farbfilter appliziert, um ERG des Stäbchensystems (obere zwei Signale) auszulösen. In Helladaption (HA) wurden mit einem blaugrünen (BG) und orangefarbenen (O) Bandfilter Einzelblitze und dann ohne Filter weisse Flimmerreize (WF) bei 30 Hz zur Auslösung von ERG des Zapfensystems der Netzhaut verwendet. Bei den Einzelblitzen wurden jeweils 2-3 elektrische Antworten superponiert, um deren Reproduzierbarkeit deutlich zu machen. Die Blitze waren von einer Dauer von etwa 10 //sec und wurden genau mit Beginn jedes Strahlendurchgangs ausgelöst. Kalibra­ tionen: 100/(V vertikal (positiv aufwärts), 40 msec horizontal; beachte schnellere Strahlgcschwindigkeit bei «O» und bei «BG».

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1326). Ein metallischer Fremdkörper lag während 4 Jahren in der mittleren Peripherie vor der Retina; eine Gesichtsfeldeinschränkung und eine Anhebung der Stäbchenschwelle in der Dunkeladaptation blieben auch nach der Extraktion des Fremdkörpers unverändert. Das ERG zeigt kaum erkennbare Antworten des Stäbchensystems (Abb. 3, Reihe B und R). Die ERG des Zapfensystems (Reihen BG, O und WF) sind durch kleine Amplituden und verlängerte Gipfelzeiten gekennzeichnet. Im Gegensatz hierzu steht das ERG-Muster des Falles 2 (Abb. 3, J.L., ERG 1412). Der 27jährige Patient litt zunehmend unter Abnahme der Sehschärfe, schlechtem Erkennen von Farben und Blendungsgefühl in heller Umgebung. Fundusbefunde und fluoreszenzangiographische Bilder waren unauffällig. Das ERG zeigte ausgeprägte Reduktion der Amplitu­ den der Zapfensystemsignale (BG, O, WF) bei gut erhaltener Aktivität des Stäbchensystems (B, R). Als Diagnose ergab sich eine progressive Zapfendegeneralion.

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A bb.3. ERG von Fall 1 und 2 (s. Text) im Vergleich zu denen einer Kontrollperson (K). Farbfiltersymbole am linken Rande und Kalibrationen wie in Abb. 2.

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Das ERG eines Falles von Periphlebitis retinae bei einem 18jährigen Patienten (R.C., ERG 1728) ist in Abbildung 4 (Säule 3) dargestellt. Zum Vergleich ist ein KontrolI-ERG (K) gezeigt. Ophthalmoskopisch fanden sich bei diesem Patienten Einscheidungen der Venen, unregelmässig ver­ teilte Fluorescinanfärbungen der Gefässwände sowie viele intra- bis präretinale alte und frische Blutungen. Das ERG zeigte allgemeine Re­ duktion der Amplituden der b-Wellen mit ähnlichem Befall der Antwor­ ten des Stäbchen- (B, R) und des Zapfensystems (BG, O, WF). Die zeit­ lichen Parameter der elektrischen Antworten waren nicht signifikant ver­ ändert. Dieser Typus von ERG-Veränderungen findet sich auch bei von uns untersuchten Fällen von Uveitis Behget und Chorioretinitis Harada. Tapetoretinale Degenerationen sind schon in Frühstadien durch patho­ logische ERG-Befunde gekennzeichnet, während späte Phasen der Er­ krankung je nach Vererbungsmodus und Verlaufstyp meistens keine messbaren ERG-Signale mehr erkennen lassen. Die ERG eines 16jährigen

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A bb.4. ERG von Fall 3 und 4 (s. Text) im Vergleich zu denen einer gesunden Kontrollperson (K). Farbfiltersymbole am linken Rande und Kalibrationen wie in Abb. 2.

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Jungen (J.S., ERG 1581) sind als Fall 4 in Abbildung 4 gezeigt. Be­ ginnende konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung, ungenügende Emp­ findlichkeitssteigerung während der Dunkeladaptation und verengte Gefässe in Kombination mit abnormer Pigmentierung der Fundi wiesen auf eine tapetoretinale Degeneration hin. Das ERG bestätigte die Diagnose, indem Antworten des Zapfensystems (BG, O, WF) und besonders die­ jenigen des Stäbchensystems (B, R) stark reduzierte Amplituden und ver­ längerte Latenzzeiten aufwiesen. Diese Beispiele weisen darauf hin, dass die ERG-Methode der Ganz­ feldstimulation des Zapfen- und des Stäbchensystems in unseren Unter­ suchungen eine verfeinerte Differentialdiagnose und eine objektive Ver­ laufskontrolle bei Erkrankungen der Netzhaut ermöglicht.

Dank Dr. M. H att und Schwester L. Bernet sei für ihre stete Mitarbeit bestens gedankt. Herrn R. von der H eydt, Neurologische Klinik, Kantonsspital Zürich, danke ich für anregende Diskussionen während der Vorbereitung des Manuskripts. Frau M. M ärklin und Frl. O. Bisig halfen bei der Kalibration des Stimulators. Diese Arbeit wurde durch den Schweizerischen Nationalfonds (Kredit Nr. 3.0200.73) unterstützt.

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Dr. G. N iemeyer, Universitäts-Augenklinik, Kantonsspital, CH-8091 Zürich (Schweiz)

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