Klinische Wochenschrift

Klin. Wochenschr.57, 1031-1036 (1979)

© Springer-Verlag 1979

Die Rolle des Erythropoietinmangels in der Pathogenese der renalen An~imie K.M. Koch und H.W. Radtke Abteilung fiir Nephrologie (Leiter: Prof. Dr. med. W. Schoeppe), Zentrum der Inneren Medizin der UniversitfitFrankfurt am Main. Theodor-Stern-Kai 7, D-6000 Frankfurt 70, BundesrepublikDeutschland

Summary. A review is given of clinical studies performed by use of a highly sensitive in-vitro erythropoietin assay (fetal mouse livercell culture) in large patients' populations to clarify the controversial role of erythropoietin deficiency in the pathogenesis of renal anemia. Studies involved a.) patients with chronic renal disease and varying degree of renal insufficiency in the predialysis phase b.) non-nephrectomized and anephric patients on regular hemodialysis treatment. The data available demonstrate that the initial phase of renal anemia is accompanied by a compensatory increase of serumerythropoietin concentration and therefore erythropoietin deficiency has to be excluded as a primary cause of the anemia of renal failure; merely a relative lack of erythropoietin seems to exist. In the terminal phase of renal failure, erythropoietin deficiency becomes absolute, such in 50% of the investigated non-nephrectomized hemodialysis patients and in all anephric patients. However in individual patients even in terminal renal failure a sustained regulatory feedback mechanism between serumerythropoietin concentration and hematocrit, probably working at lower hematocrit level, could be demonstrated. Key words: Renal anemia - Pathogenesis - Erythro-

poietin deficiency

Zusammenfassung. Es wird eine f.)bersicht gegeben

fiber klinische Untersuchungen, die mit einem hochsensiblen in-vitro Erythropoietin Assay (foetale M/iuseleberzellkultur) zur Kl~irung der umstrittenen Rolle des Erythropoietinmangels in der Pathogenese der renalen Anfimie an groBen Patientenpopulationen durchgeffihrt wurden. Die Studien betrafen: a.) chronisch Nierenkranke mit variierender Funktionseinschrfinkung in der Vordialysephase b.) nicht nephrek-

tomierte und anephrische chronische Dialysepatienten. Die bisher vorliegenden Ergebnisse belegen, dab die Anfangsphase der renalen An~imie mit einem kompensatorischen Anstieg der Serumerythropoietinkonzentration einhergeht und somit ein Erythropoietinmangel nicht die prim~ire Ursache dieser Angmie sein kann; lediglich ein relativer Erythropoietinmangel ist anzunehmen. Erst in der Terminalphase der Niereninsuffizienz wird der Erythropoietinmangel absolut, so bei 50% der untersuchten chronischen, nichtnephrektomierten Hfimodialysepatienten und bei allen anephrischen Patienten. An einzelnen Patienten lfil3t sich aber selbst in der terminalen Niereninsuffizienz eine Regulierbarkeit der Serumerythropoietinkonzentration fiber den H/imatokrit im Sinne eines negativen feedback nachweisen, der auf einem subnormalen Hfimatokritniveau arbeitet. Schliisselwiirter: Renale An~imie

Pathogenese -

Erythropoietinmangel

Von allen Faktoren, deren Beteiligung an der Pathogenese der renalen Anfimie als gesichert zu betrachten ist [9, 15], spielt nach den bisherigen Vorstellungen der Erythropoietinmangel die wesentliche und entscheidende Rolle [9, 12, 15, 27, 42]. Wichtigstes klinisches Argument ffir dieses Konzept ist die Beobachtung, dab die renale An/imie bei bilateral nephrektomierten Patienten am ausgepr/igtesten ist [17, 41]. Zus/itzliche Stfitze ffir diese Bewertung des Erythropoietinmangles in der Pathogenese der renalen Anfimie sind die Ergebnisse frfiherer Untersuchungen, die bei Anwendung des in vivo-Bioassays an der polyzythfimischen Maus bei urfimischen, anfimischen Patienten nur in Ausnahmef~illen erh6hte Serum-Erythropoie-

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K.M. Kochund H.W. Radtke: Erythropoietinmangelund Pathogeneseder renalenAn/imie

tinspiegel ergaben. [5, 7, 9, 12, 19, 20, 27, 28]. Da in der Regel das Ausmal3 der Anfimie mit dem Schweregrad der Azotfimie korreliert ist [9, 11], wird angenommen, dab der Abfall der exkretorischen Leistung der Niere begleitet wird von einer entsprechenden Verminderung der inkretorischen Funktion, d.h. auch der Erythropoietinproduktion und -freisetzung. Neuere Untersuchungen, die mit Hilfe immunologischer Methoden [24, 25] und moderneren in vivound in vitro-Assays [6, 37, 38] durchgeffihrt wurden, zeigten jedoch, dab die Serum-Erythropoietinspiegel bei der fiberwiegenden Zahl der untersuchten urfimischen, anfimischen Patienten erh6ht waren. Diese Ergebnisse stellen die angenommene primfire Rolle des Erythropoietinmangels in der Pathogenese der renalen Anfimie in Frage. Da jedoch insgesamt nur wenige Patienten untersucht wurden, sahen wir uns veranlal3t, an einer groBen Patientenpopulation durch systematische Studien die Bedeutung des Erythropoietinmangels in der Entwicklung der renalen Anfimie erneut zu fiberprtifen. Dabei bedienten wir uns des yon Wardle et al. [40] und Dunn [8] entwickelten und von uns gering modifizierten [35] in vitro-Erythropoietinassays in foetalen Mfiuseleberzellkulturen, dessert Empfindlichkeit auch die Bestimmung subnormaler Serum-Erythropoietinkonzentrationen erm6glicht. Im folgenden wird ein l~lberblick fiber die wichtigsten von uns in den letzten Jahren erhobenen Befunden gegeben sowie ihre Bedeutung diskutiert.

Renale Aniimie und exkretorische Nierenfunktion In einer Untersuchung [34], die wir zur Definition des Manifestationszeitpunktes der renalen An/imie an 117 Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen und verschiedenem Ausmal3 der Einschrfinkung der Nierenfunktion durchffihrten (Kreatinin-Clearances von 2 bis 90 ml/min/1,73 m 2) lieg sich zeigen, dal3 der Hfimatokrit absinkt, wenn die endogene Kreatinin-Clearance 40 ml/min/1,73 m 2 unterschreitet. Im Bereich von 20-40ml/min/1,73m 2 waren Kreatinin-Clearance und Hfimatokrit signifikant positiv korreliert, wfihrend sich diese Korrelation bei h6heren Werten nicht fand. Die von uns nachgewiesene Beziehung zwischen exkretorischer Nierenfunktion und renaler An~imie stimmt recht gut fiberein mit Angaben von Sieberth [39], der ffir eine grol3e Population chronisch Nierenkranker ein Absinken der Serum-Hfimoglobinkonzentration unter 12g/ 100 ml bei einer endogenen Kreatinin-Clearance von 30 ml/min beschreibt.

Begleitende Veriinderungen der Serum-Erythropoietinkonzentration bei der Entwicklung der renalen Aniimie Die Verfinderungen der Serum-Erythropoietinkonzentration bei Manifestation und weiterem Fortschreiten der An/imie yon Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen sollten darfiber Aufschlug geben, ob ein Erythropoietinmangel die primfire Ursache ftir die Entstehung der Anfimie darstellt. In diesem Falle mfil3ten absinkende Serum-H/imoglobinkonzentrationen von fallenden Serum-Erythropoietinspiegeln begleitet werden. Es ffinde sich eine Umkehr der von nierengesunden, anfimischen Patienten bekannten [2, 30] negativen Korrelation zwischen Ausmal3 der An/imie und H6he der Serum-Eryhtropoietinspiegel. Die Gegenfiberstellung von Hfimatokriten und Serum-Erythropoietinkonzentrationen der 117 Patienten aus oben erw/ihnter Untersuchung [34] ergibt jedoch ein abweichendes Verhalten (Abb. 1). Bei Gruppierung der Patienten entsprechend der Reduktion der Kreatinin-Clearance zeigt sich, dab die mittlere Serum-Erythropoietinkonzentration bei gleichzeitig fallendem mittleren H/imatokrit ansteigt. Erst bei Clearancewerten unter 20ml/min/1,73m 2 sinken die Serum-Erythropoietinspiegel wieder ab, obwohl die Hfimatokriten weiter fallen. In allen Gruppen liegtjedoch die mittlere Serum-Erythropoietinkonzentration signifikant h6her als der mittlere Normalwert. Erh6hte Serum-Erythropoietinspiegel schon bei nur gering verminderten Hfimatokriten sind nicht vereinbar mit dem Konzept einer Anfimisierung durch Erythropoietinmangel per se, sondern weisen auf die ursfichliche Rolle anderer Faktoren hin, wie z.B. die Retention toxischer, die Erythropoiese inhibierender Stoffwechselprodukte bei verminderter renaler Ausscheidungsfunktion [19, 33]. Ein relativer Mangel an Erythropoietin ist offenbar vorhanden, da f/Jr nierengesunde Patienten mit entsprechendem An/imiegrad h6here Serum-Erythropoietinspiegel beschrieben wurden [2]. Dieser relative Erythropoietinmangel wird ausgeprfigter mit fortgeschrittener Niereninsuffizienz i.e. bei Kreatinin-Clearancewerten unter 20 ml/min/1,73 m 2. Serum-Erythropoietinkonzentrationen und Aniimie in der terminalen Niereninsuffizienz Eine Ubertragung der Befunde, die bei Patienten mit einer ffir das Leben ohne Organersatz noch ausreichenden renalen, exkretorischen Restfunktion erhoben wurden, auf die terminale Niereninsuffizienz, in der Organsubstitution notwendig wird, ist nicht ohne weiteres m6glich. In einer Untersuchung einer

K.M. Koch und H.W. Radtke: Erythropoietinmangel und Pathogenese der renalen Anfimie

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1033

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Ccr ( mllminl1.?3 mz } Abb. 1. Minelwerte der Serumerythropoietin (SEp)-Konzentrationen und der Hfimatokriten (Hct) von Patienten mit verschiedenen Graden der Niereninsuffizienz (A-E) und gesunden Kontrollpersonen (F). Die angegebenen Signifikanzen beziehen sich auf den Vergleich mit dem Erythropoietinwert des Normalkollektivs (Ccr = Kreatininclearance). Aus Radtke et al. [34]

Population yon 100, nicht bilateral nephrektomierten Patienten, die chronisch intermittierend h/imodialysiert wurden, konnten wir 2 nahezu gleichgrol3e, im Verhalten auf die Relation zwischen Serum-Erythropoietinkonzentration und Hfimatokrit distinkte Patientenpopulation nachweisen [23]. In der 1. Gruppe lagen die Serum-Erythropoietinkonzentrationen ausnahmslos oberhalb des Normalwertes und waren, wie bei nierengesunden, anfimischen Patienten zu den Hfimatokriten negativ korreliert. In der 2. Gruppe dagegen fand sich bei durchweg subnormalen SerumErythropoietinkonzentrationen eine positive Korrelation zwischen Hfimatokrit und Serum-Erythropoietinspiegel. H6here Hfimatokriten waren h6heren SerumErythropoietinkonzentrationen zugeordnet. Das Verhalten dieser letzten Patientengruppe ist mit der Annahme eines absoluten Erythropoietinmangels vereinbar. Das Ausmag der renalen An~imie wird primfir bestimmt von der Ffihigkeit der Nieren oder extrarenaler Produktionsst/itten, Erythropoietin zu bilden

und freizusetzen. Die Befunde belegen eine zunehmende Rolle des Erythropoietinmangels ftir die Pathogenese der renalen An~imie in der terminalen Niereninsuffizienz, gleichwohl finden sich aber auch hier noch erstaunlich viele Patienten mit einem nur relativen Defizit an Erythropoietin. Es war uns nicht m6glich zu klfiren, welche Faktoren die Patienten des relativ homogenen Kollektivs alle Patienten wurden seit mindestens 6 Monaten unter nahezu identischen Bedingungen chronisch, intermittierend h/imodialysiert - dazu prfidestinierten, zur 1. oder zur 2. Patientengruppe zu geh6ren, also im absoluten oder relativen Erythropoietinmangel zu sein. Eine Beziehung zur Grunderkrankung fand sich ebensowenig wie zur Dauer der Dialysebehandlung, zu Geschlecht und Alter. M6glicherweise spielen Unterschiede im Volumen des noch funktionstt~chtigen Restparenchyms eine Rolle, die sich jedoch nicht durch Vergleich der Kreatinin-Clearances erfassen lieBen.

1034 H~matokrit

( Vol % )

K.M. Koch und H.W. Radtke: Erythropoietinmangel und Pathogenese der renalen An~mie 30 28 o

26 24 22 00

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I

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Abb. 2. Serumerythropoietinkonzentration und H~imatokrit bei anephrischen Hfimodialysepatienten. Aus Radtke et al, [36]

22O

( in vitro - mU/ml )

Extrarenales Erythropoietin und Aniimie im anephrischen Zustand Noch mehr in den Vordergrund als ein das Ausmal3 der An~imie bestimmender Faktor tritt der Erythropoietinmangel bei anephrischen Patienten. Dies ist umso verstfindlicher, als in tierexperimentellen Untersuchungen nachgewiesen werden konnte, dab die extrarenale Erythropoietinproduktion unabhfingig vom Ausmag der Hypoxie nur 10% der renalen Produktion betrfigt [18]. Entsprechend konnte im Serum bilateral nephrektomierter Patienten bisher nur vereinzelt Erythropoietin nachgewiesen werden [3, 10, 14, 27, 29, 31], in der Mehrzahl der Untersuchungen war der Prozentsatz der Seren mit nachweisbarer Erythropoietinproduktivitfit gering [10, 14, 29, 31]. In einer von uns an 13 anephrischen H/imodialysepatienten durchgeffihrten Studie [36] konnten wir zwar mit dem hochsensiblen f6taten M/iuseleberzellAssay bei jedem Patienten Erythropoietin im Serum nachweisen (Abb. 2), mehr als die Hglfte der Proben lag jedoch trotz der ausgeprfigten An/imie unterhalb des von uns an gesunden Kontrollpersonen ermittelten Normalbereiches von 136_+66 (SD) mu/ml. [35]. Darfiberhinaus waren Hfimatokrit und Serumerythropoietinkonzentration signifikant positiv miteinander korreliert, die yore nierengesunden An/imiker bekannte negative Korrelation [2, 30] war umgekehrt; wie ein Teil der von uns untersuchten nicht-nephrektomierten Dialysepatienten [23] zeigten die anephrischen Patienten also das einem absoluten Erythropoietinmangel entsprechende Verhalten. Die An/imie ist bei diesen Patienten ursfichlich durch den Erythropoietinmangel mitbedingt und umso geringer ausgepr/igt, je h6her die Ffihigkeit zur extrarenalen Erythropoietinbildung ist. Uber die Herkunft der im Serum

eines jeden Patienten nachweisbaren erythropoietischen Aktivitfit kann nur spekuliert werden. Ergebnisse aus Tierexperimenten sprechen daftir, dab Leber [16] und Milz [21] die Hauptproduktionsst~tten von extrarenalem Erythropoietin sind. lndividuelle Regulation des Erythropoietins in der terminalen Niereninsuffiuienz Die bisher besprochenen von uns durchgeftihrten Untersuchungen beschr/inken sich auf Beobachtungen an durch verschiedenes AusmaB der Niereninsuffizienz gekennzeichneten Patientengruppen. Die jeweiligen Zusammenh/inge zwischen renaler Anfimie und Erythropoietin wurden aus dem Gruppenverhalten abgeleitet. Die Ergebnisse erlauben nicht unbedingt Schltisse auf die Wechselbeziehungen zwischen Serumerythropoietinkonzentration und Anfimiegrad einzelner Patienten. In der terminalen Phase der Niereninsuffizienz ist regelhaft ein rasches Absinken des Hfimatokrits zu beobachten, erst nach Beginn der Dialysebehandlung kommt es bei den meisten Patienten zu einem Wiederanstieg. In einer Longitudinaluntersuchung registrierten wir an 11 terminal niereninsuffizienten, nichtnephrektomierten Patienten die diese spontanen Hfimatokritschwankungen begleitenden Verfinderungen der Serumerythropoietinkonzentration [22]. Wie auf Tabetle 1 zu sehen, sank bei allen Patienten in den letzten 6 Monaten vor Dialysebeginn der Hfimatokrit ab, bis auf eine Ausnahme kam es nach Beginn der Dialysebehandlung zu einem Wiederanstieg. Das Verhalten der individuellen Serumerythropoietinkonzentration ist spiegelbildlich. Die Ver/inderungen von Hfimatokrit und Serumerythropoietinkonzentration zwischen den einzelnen MeBpunkten sind signifikant (p

[Role of erythropoietin deficiency in the pathogenesis of renal anemia].

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