Originalarbeit

387

Bedeutung der Luftrettung bei der präklinischen Traumaversorgung Significance of Helicopter Emergency Medical Service in Prehospital Trauma Care

Autoren

U. Schweigkofler 1, J. Braun 2, T. Schlechtriemen 3, R. Hoffmann 1, R. Lefering 4, C. Reimertz 1

Institute

1

3 4

Schlüsselwörter " Polytraumaversorgung l " Luftrettung l " Traumazentren l " HEMS l Key words " care of polytraumatised l patients " helicopter rescue l " trauma centres l " HEMS l

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0035-1545801 Online-publiziert 30.04.2015 Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 1864‑6697 Korrespondenzadresse Dr. Uwe Schweigkofler, MD Notfall- und Rettungszentrum Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Frankfurt am Main Friedberger Landstraße 430 60389 Frankfurt am Main Tel.: 0 69/47 50 Fax: 0 69/4 75 22 23 uwe.schweigkofler@ bgu-frankfurt.de

Notfall- und Rettungszentrum, BGU Frankfurt am Main Luftrettung, DRF, Filderstadt Luftrettung, ADAC, Saarbrücken Operative Medizin, IFOM, Köln

Zusammenfassung

Abstract

!

!

Hintergrund: In den späten 1960er-Jahren wurde die Luftrettung eingeführt, um bei zunehmender Anzahl Schwerverletzter im Straßenverkehr den Arzt schnell zum Verletzten bringen zu können. Heute stellen Rettungshubschrauber einen wichtigen Teil in der notärztlichen Versorgung dar und die Einsatzindikationen umfassen das gesamte Spektrum der Notfallmedizin. Material und Methode: Durch eine Analyse der Datenbanken der großen Luftrettungsorganisationen (2005–2011) soll der Anteil von traumatologischen Einsätzen in der Luftrettung bewertet und die Rolle der Luftrettung bei der präklinischen Polytraumaversorgung in Deutschland analysiert werden. Ergebnisse: Traumatologische Einsätze zeigen, bei großen regionalen Unterschieden, einen Anteil von 35% am Einsatzspektrum der Luftrettung. Schlussfolgerung: Gerade bei der Polytraumaversorgung findet sich in über 40% eine gemeinsame Patientenversorgung durch luft- und bodengebundene Notarztsysteme. Die Luftrettung übernimmt dann vor allem den raschen, ggf. auch überregionalen Transport in spezialisierte Traumazentren.

Background: In the late 1960s, the helicopter emergency medical service (HEMS) was established in Germany because of an increasing number of severe injuries in traffic accidents. To get a doctor quickly on scene was the initial intention, rather than transporting the patient. Today, rescue helicopters cover the entire field of emergency medicine and are an important transportation device for polytrauma patients. Material and Methods: The importance of the HEMS for the treatment of severely injured patients was examined by an analysis of the databases of the leading air rescue organisations ADAC and DRF Luftrettung (2005–2011). Results: Traumatological cases, albeit with large regional differences, make up 35 % of all uses of the helicopter emergency services. Conclusions: For the multiply injured patient in particular, in over 40 % of the cases there is a joint patient care involving both helicopter- and ambulance-based emergency services. The HEMS undertakes especially the rapid, if necessary, even transregional transport to specialised trauma centres.

Einleitung

letzten Jahren begann sich, u. a. durch die Problematik des zunehmenden Arztmangels vor allem in den strukturschwachen und dünn besiedelten und entlegenen Regionen, die Rolle der Luftrettung hin zur Sicherstellung der notärztlichen Versorgung zu wandeln. Dies könnte in Zukunft zu einer weiteren Angleichung des Einsatzspektrums von boden- und luftgebundenem Notarztdienst führen. Durch die Analyse von Datenbanken der großen Luftrettungsorganisationen soll die Rolle der Luftrettung in der präklinischen Traumaversorgung in den letzten Jahren untersucht werden. Dem raschen Transport von schwer

!

Die Zunahme an Verkehrsunfällen und damit auch das vermehrte Aufkommen von schwer verletzten Patienten gaben in den 60er-Jahren den Impuls zur Entwicklung und Etablierung eines flächendeckenden Luftrettungssystems. Folgerichtig lag in der Anfangsphase der Schwerpunkt bei den chirurgischen Einsatzindikationen. Im Rahmen der Weiterentwicklung des boden- und luftgebundenen Notarztdiensts wurden die Einsatzindikationen schrittweise auf das gesamte Spektrum der Notfallmedizin ausgedehnt. In den

Schweigkofler U et al. Bedeutung der Luftrettung …

Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391

Heruntergeladen von: WEST VIRGINIA UNIVERSITY. Urheberrechtlich geschützt.

2

Originalarbeit

Abb. 1 Prozentualer Anteil an Traumaeinsätzen am Einsatzaufkommen von 75% der Luftrettungszentren in Deutschland zwischen 2005 und 2011.

39%

Traumaanteil in der Lurettung

38% 37% 36% 35% 34% 33% 32%

31% 2005

2006

2007

2008

2009

traumatisierten Patienten, i. d. R. in Kliniken höherer Versorgungsstufe, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu [1–5].

Methodik !

Es werden repräsentative Daten aus den Dokumentationssystemen der Luftrettung herangezogen, die Basisdaten des 2003 veröffentlichten Mindestdatensatzes MIND2 [6, 7] enthalten. In der Luftrettung wird, anders als im bodengebunden Notarztdienst, die präklinische notärztliche Versorgung nahezu umfassend in elektronischen Systemen dokumentiert. In der medizinischen Datenbank Medat® der DRF Stiftung Luftrettung gemeinnützige AG (DRF Luftrettung) und im System LIKS® der ADAC-Luftrettung GmbH sind 60 in Deutschland stationierte Rettungshubschrauber abgebildet und repräsentieren somit etwa 75 % der Luftrettung [8]. Betrachtet wurden die Jahre 2005 bis einschließlich 2011. Auf Basis des originären Notarzteinsatzprotokolls werden neben Strukturdaten (z. B. Einsatzort, Einsatzzeit, ersteintreffendes Rettungsmittel, Erstversorgung oder Rettungshubschraubertransport [RTH-Transport]) medizinisch relevante Daten (z. B. internistischer/chirurgischer Einsatz, Unfallmechanismus und seit 2006 eine differenzierte Verletzungsaufschlüsselung) nach Abschluss des Einsatzes verpflichtend in elektronischer Form in o. g. Dokumentationssysteme eingegeben. Es wurden die „Daten-Items“ „Primäreinsatz“ und „Trauma“ ausgelesen. Zur weiteren Differenzierung erfolgte ab 12/2006 die Zuteilung zu Verletzungsregionen und die „subjektive“ Kategorisierung durch den Notarzt als „Polytrauma“ in der Definition nach Tscherne et al. [9]. Die Patienten mit einem NACA-Score = 7, also erfolglos reanimierte bzw. primär schon tote Patienten wurden nicht erfasst. An Strukturdaten wurden das ersteintreffende Rettungsmittel und die dann erfolgte Transportart (Rettungshubschrauber [RTH], Rettungswagen [RTW] + Notarzt [NA] RTH, kein Transport etc.), die Anflug- und Transportdistanzen sowie die durchschnittliche Verweildauer vor Ort und die zeitliche Verteilung (Monat, Tageszeit) ausgelesen. Um eine näherungsweise Beschreibung der Patienten unter medizinischen Aspekten zu ermöglichen, wurden der NACA-Score, der GCS und als Maß für die „Invasivität“ notärztlicher Maßnahmen die Intubationsrate und das Legen von Thoraxdrainagen retrospektiv ausgewertet. Messwerte und stetige Variablen wurden als Mittelwert mit Standardabweichung (SD) dargestellt, für kategoriale Variablen wurden Anzahl und relative Angaben in Prozent ermittelt.

Schweigkofler U et al. Bedeutung der Luftrettung …

2010

2011

Ergebnisse !

Zwischen 2005 und 2011 wurden in den beiden größten Datenbanken der Luftrettung in Deutschland 115 495 Rettungshubschraubereinsätze unter dem Schlagwort „Trauma“ dokumentiert. Dies entspricht einem Anteil von 35 %, bezogen auf alle in diesem " Abb. 1). Der Zeitraum dokumentierten Luftrettungseinsätze (l Anteil traumatologischer Einsätze variiert regional in den einzelnen Luftrettungsstationen zwischen 15,8 % und 55,3 %. Diesen Daten werden Zuweisungsdaten aus dem TraumaRegister der deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie aus demselben Beobachtungszeitraum gegenübergestellt [10]. Ein patientenbezogenes Matching ist bei fehlender durchgängiger Patientenkennzeichnung, u. a. aus Datenschutzgründen nicht möglich. In einem Viertel aller traumatologischen Einsätze war bei Eintreffen des RTH bereits ein bodengebundener Notarzt an der Einsatzstelle, bei Einsätzen mit polytraumatisierten Patienten bis zu 40 %. Die Anflugdistanzen lagen zu 12 % bis 10 km, in 45 % zwischen 20 und 30 km und in 26% im Einsatzradius bis 50 km. Die Transportdistanzen zu den aufnehmenden Kliniken wurden in 22 % im Nahbereich bis 20 km, in 36% zwischen 20 und 50 km und zu 15 % in einem Radius von über 50 km dokumentiert. Die Einsatzstellen wurden nach einer mittleren Anflugzeit von 13 min erreicht, die aufnehmenden Zielkliniken wiederum im Mittel nach 10 min Flugzeit. In 86% erfolgte bei polytraumatisierten Patienten der Patiententransport in die Klinik per RTH, in 10 % wurde durch den Notarzt des RTH ein bodengebundener Transport durch Begleitung im RTW vorgenommen. Von den Notärzten wurden 10% der traumatologischen Patienten als polytraumatisiert klassifiziert, wobei der subjektiven Einschätzung die Definition nach Tscherne et al. [9] zugrunde gelegt wurde. Die häufigste präklinische Verdachtsdiagnose bei diesem Kollektiv stellte das Schädel-Hirn-Trauma mit 71 % dar, ein Thoraxtrauma lag in 65% und ein Abdominaltrauma in 41 % vor. Verletzungen der oberen/unteren Extremität wurden in 40/ 50 % und des Beckens in 28 % vermutet. Diesen wurden wiederum die nachgewiesenen Diagnosen des Beobachtungszeitraums aus dem TraumaRegister als Vergleichsgröße gegenübergestellt. " Abb. 2). (l Der Anteil polytraumatisierter Patienten war in den Monaten April bis August mit 10–13% am monatlichen Einsatzaufkommen am höchsten, während er im Herbst (September, Oktober) zwischen 8 und 10 % lag und in den Wintermonaten bei nur 3,4– 4,9 %. Zwischen 8:00 Uhr und 15:00 Uhr kam es zu einem kontinuierlichen Anstieg der polytraumatisierten Patienten im Einsatzspektrum der Luftrettung (von 4 auf 9 %). Bis 21:00 Uhr sank

Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391

Heruntergeladen von: WEST VIRGINIA UNIVERSITY. Urheberrechtlich geschützt.

388

Originalarbeit

80

Gesicherte Diagnose des Traumaregisters

70

Verdachtsdiagnose Lureung

389

Abb. 2 Verteilung der Verletzungsregionen (klinische Verdachtsdiagnosen) bei Polytraumata in der Luftrettung nach Medat®-/LIKS®-Dokumentation (Mehrfachnennung möglich) sowie die im TraumaRegister dokumentierten gesicherten Diagnosen.

60 50 40 30 20 10

der Anteil dann auf 2% und zwischen 23:00 Uhr und 5:00 Uhr sogar auf 0,5–1 %. Betrachtet man die demografischen Daten, fanden sich bei den Polytraumatisierten vor allem junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren mit einem 2. Gipfel zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Bei allen in den Dokumentationssystemen der Luftrettung erfassten polytraumatisierten Patienten lag die mittlere Verweildauer des RTH an der Einsatzstelle bei 36 min (SD ± 9 min). Bei Kombinationseinsätzen, d. h. bodengebundener Notarzt vor dem RTH an der Einsatzstelle, war die On-Scene Time des RTH im Mittel 8 min kürzer. 72 % der Patienten wurden vor Ort intubiert. 2 % der Patienten benötigten eine alternative Atemwegssicherung. In 15 % aller Polytraumaversorgungen wurde präklinisch eine Thoraxdrainage angelegt.

Diskussion !

Die Luftrettung hat sich in den letzten 40 Jahren zu einem flächendeckenden Notarztsystem in Deutschland entwickelt. Das Spektrum der Rettungshubschraubereinsätze in der Notfallmedizin hat sich deutlich gewandelt. Kardiovaskuläre oder neurologische Notfallsituationen sind mittlerweile, wie im bodengebunden Notarztdienst, die häufigsten Einsatzindikationen und haben das Trauma als Haupteinsatzgebiet der Luftrettung an beinahe allen RTH-Standorten abgelöst. Zwischen 2005 und 2011 betrug der Anteil der traumatologischen Einsätze im Mittel 35 % und ist " Abb. 1). in diesem Beobachtungszeitraum um 3% gesunken (l Aktuell werden etwa 40 % der traumatologischen Einsätze mit polytraumatisierten Patienten gemeinsam von Luft- und Bodenrettung abgewickelt. Derzeit bleibt jedoch noch offen, nach welchem Algorithmus (Parallelalarm, Nachforderung durch Rettungsdienst etc.) die unterschiedlichen arztbesetzten Einsatzmittel durch die Leitstellen disponiert werden [11]. Es liegen keine landesspezifischen oder gar nationalen Regelungen bzw. Empfehlungen vor. Aufgrund seiner Organisationsstruktur und nicht permanent garantierter Einsatzfähigkeit (z. B. witterungsbedingt) gilt aber im-

mer noch rechtlich der ergänzende Charakter zur Bodenrettung. In dünn besiedelten und entlegenen Regionen könnte die Luftrettung bei der notärztlichen Versorgung der Bevölkerung an Bedeutung gewinnen, wissenschaftliche Studien zur Versorgungsforschung stehen jedoch aus. In diesem Zusammenhang sei auf das Projekt PrimAIR verwiesen, bei dem die Möglichkeiten, Grenzen und grundlegenden Anforderungen eines zeitlich nicht limitierten luftgestützten Primärrettungssystems definiert werden sollen. Der rückläufige Anteil der traumatologischen Einsätze in der Luftrettung ist sowohl in den Daten der Luftrettung als auch des TraumaRegisters der deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (TR‑DGU®) erkennbar [10]. Innerhalb der luftrettungsspezifischen Dokumentationssysteme zeigt sich ein uneinheitliches Bild bez. der traumatologischen Einsätze. Nach Gries et al. ist 2006 für 34 Luftrettungszentren ein Anteil von 44% traumatologischen Notfällen zu finden [12]. Wir fanden in Medat® für die Jahre 2005 bis 2011 einen Anteil von knapp 40 % traumatologischen Einsatzindikationen. Im Dokumentationssystem LIKS® der ADAC-Luftrettung wurde hingegen ein durchschnittlicher Traumaanteil von 32,25% dokumentiert. Eine schlüssige Erklärung für den Rückgang des Traumaanteils in der Luftrettung ist schwer anhand der zur Verfügung stehenden Daten zu führen. Die insgesamt geringere Anzahl von polytraumatisierten Verkehrsteilnehmern durch eine bessere Fahrzeugsicherheit müsste sich eigentlich gleich auf die Boden- und Luftrettung verteilen, doch für die Luftrettung ist ein überproportionaler Rückgang in absoluten und relativen Zahlen erkennbar. Insgesamt fanden sich erhebliche regionale Unterschiede. Der Anteil der traumatologischen Einsätze reichte, je nach RTH-Standort, von 13 bis 56 %. Erklärungen für den unterschiedlichen Traumaanteil sind wahrscheinlich im Einzugsgebiet des Luftrettungszentrums zu sehen, so haben RTHs, die in weitläufigen ländlichen bzw. dünn besiedelten Regionen den größten Anteil ihrer Einsätze haben, tendenziell einen höheren Traumaanteil. Ein einheitliches Erklärungsmuster (Großstadtlage, fehlende Traumanetzwerkstrukturen etc.) ist nicht durchgehend erkennbar.

Schweigkofler U et al. Bedeutung der Luftrettung …

Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391

Heruntergeladen von: WEST VIRGINIA UNIVERSITY. Urheberrechtlich geschützt.

0

Originalarbeit

100

Abb. 3 Prozentuale Anteile der Zuweisung von Schwerverletzen im TraumaRegister der DGU durch die Boden- und Luftrettung [10].

Boden NA Lureung

90 80 70 60

%

50 40 30 20 10 0 2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Jahr

Die bundesweite Analyse zeigt, trotz dieser regionalen Schwankungen, dass ein RTH bei jedem 5. „chirurgischen“ Einsatz (19,1 %) und in knapp 40% bei Polytraumen zusätzlich zu einem bodengebundenen Notarztsystem alarmiert wird. Die Datendokumentation im Untersuchungszeitraum ermöglichte leider keine differenzierte Zeitanalyse. Gries et al. [12] konnten in ihrer Arbeit von 2008 aufzeigen, dass die Verweildauer des RTH vor Ort bei Kombinationseinsätzen (bodengebundener NA+RTH) zwar um 4,5 min gegenüber alleinigen Luftrettungsversorgungen verkürzt wurde, die Gesamtversorgungszeit des Patienten wurde bei Kombinationseinsätzen aber im Vergleich zu alleinigen Luftrettungseinsätzen um durchschnittlich 12 min (± 8 min) verlängert. Wir konnten aktuell für die Jahre 2012–2014 bei 3979 polytraumatisierten Patienten eine On-Scene Time des RTH im Mittelwert 28 min (± 15 min) finden, wenn bereits ein bodengebundener Notarzt vor Ort war. In den Fällen, in denen das Polytrauma ausschließlich durch die Luftrettung versorgt wurde, hingegen 36 min (± 18 min). In Daten aus dem TraumaRegister der DGU lässt sich erkennen, dass die Luftrettung im Vergleich zum bodengebundenen Notarztsystem bei der Polytraumaversorgung umfangreichere Maßnahmen vor Ort initiiert [10], was zu einer längeren Versorgungszeit führen muss. Bei den Kombinationseinsätzen können diese Maßnahmen letztendlich von 2 Notärzten vorgenommen werden, was wiederum zu einer Verkürzung der On-Scene Time des RTH um ca. 8 min führt. Die gesamte präklinische Zeit ist jedoch zumeist länger, wie die Daten der multizentrischen systemübergreifenden Schnittstellenanalyse zur Zusammenarbeit von boden- und luftgestütztem Notarztdienst in Hessen (BOLUS Studie) aufzeigt. Es fanden sich bei einer eskalierenden Nachforderung RTW > NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) > RTH eine Verlängerung der präklinischen Gesamtversorgungszeit (Versorgungs- und Transportzeit) im Mittel um knapp 20 min [13]. Hauptursache für die längeren präklinischen Versorgungszeiten bei Kombinationseinsätzen ist somit weniger in der notärztlichen Versorgungsstrategie, sondern im Dispositionsverhalten zu suchen. In vielen Fällen handelt es sich um eine (verzögerte) Nachalarmierung des Luftrettungsmittels. Eine primäre Parallelalarmierung eines NEF und RTH bei spezifischen Einsatzschlagworten ist bisher in den Leitstellen bzw. Dispositionsalgorithmen eher selten. Diese verlängerten präklinischen Gesamtversorgungszeiten beim Einsatz der Luftrettung bedürfen einer wei-

Schweigkofler U et al. Bedeutung der Luftrettung …

teren kritischen Analyse, auch wenn eine Auswertung von Kleber et al. [1] für Deutschland keinen relevanten Einfluss der präklinischen Rettungszeit auf das Überleben finden konnte, sobald vor Ort notärztliche Maßnahmen durchgeführt wurden. Die präklinischen von der Luftrettung angewendeten Dokumentation in den Systemen Medat® bzw. LIKS® erlaubt, z. B. aufgrund der Dokumentationsqualität des Parameters Atemfrequenz, keine auswertbare „Zustandsbeschreibung“ mit dem MEES (MainzEmergency-Evaluation-Score bzw. Delta-MEES) und ist damit nicht mit den Einstufungen über den ISS (Injury Serverity Score) im TraumaRegister vergleichbar. Anhand der präklinischen Verdachtsdiagnosen lassen sich Verletzungsmuster und ‑schwere nur schwer einschätzen. Indirekt lässt sich durch die benötigte Versorgungszeit und das Ausmaß an durchgeführten Maßnahmen eine Zustandsbeschreibung des Patienten versuchen. Die mäßige Validität der präklinischen Einschätzung der Verletzungsschwere z. B. durch den NACA-Score wurde andernorts nachgewiesen [14]. Vergleicht man orientierend – da ein direktes patientenbezogenes Matching der Registerdaten nicht möglich ist – die präklinischen Verdachtsdiagnosen mit den gesicherten Diagnosen des TraumaRegisters zeigt sich, dass die Notärzte für die Regionen Kopf, Thorax, Becken und obere Extremität ca. 10 % häufiger Verletzungen vermuten als dann innerklinisch nachzuweisen sind. Im Bereich des Abdomens wurde in 43 % präklinisch eine Verletzung vermutet, wohingegen nur in 23 % im TraumaRegister Abdominalverletzungen dokumentiert sind. Im Gegensatz dazu werden Wirbelsäulenverletzungen beim Schwerverletzten durch den Rettungsdienst seltener vermutet als deren wirkliche Inzi" Abb. 2). denz (31 vs. 34%; l Die fehlende direkte bzw. patientenbezogene Verknüpfbarkeit der Datenbanken der Luftrettung mit dem TR‑DGU ist als Schwachstelle der Datengrundlage dieser Analyse zu nennen. In der Gesamtbetrachtung besteht für schwer verletzte Patienten ein Vorteil, wenn die Versorgung durch die Luftrettung erfolgt. Als Gründe sind die Erfahrung des in der Luftrettung eingesetzten Personals bei der Traumaversorgung und das Zuweisungsverhalten zu diskutieren. Das bessere Outcome von Schwerverletzten in spezialisierten Zentren konnte in diversen Untersuchungen nachgewiesen werden [2, 3, 13, 15]. Von den Notärzten der erfassten Luftrettungszentren wurden in dem Beobachtungszeitraum von den 115 495 traumatologischen

Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391

Heruntergeladen von: WEST VIRGINIA UNIVERSITY. Urheberrechtlich geschützt.

390

Originalarbeit

Zusammenfassung !

Der Anteil der traumatologischen Luftrettungseinsätze ist in den letzten Jahren rückläufig und hat sich im bundesweiten Durchschnitt auf rund 35 % einpendelt. Das Einsatzspektrum ist heutzutage breiter gefächert als zu Beginn der Luftrettung und hat sich dem bodengebundenen Notarztdienst angeglichen. Die Versorgung von Traumapatienten, insbesondere von Polytraumata, wird in bis zu 40 % gemeinsam von boden- und luftgebundenen Notärzten durchgeführt. Durch einen raschen und ggf. überregionalen Transport in überregionale Traumazentren nimmt die Luftrettung bei der Versorgung von Schwerverletzten nach wie vor eine wichtige Rolle ein. Die hohe Effizienz und Qualität der medizinischen Versorgung, insbesondere bei der Kombination des Transports durch die Luftrettung in überregionale Traumazentren, wird im TraumaRegister der DGU dokumentiert. Optimierungspotenzial besteht hinsichtlich der einsatztaktischen Dispositionsmöglichkeiten, um die präklinische Zeit zu reduzieren.

Literatur 1 Kleber C, Lefering R, Kleber AJ et al. Rettungszeit und Überleben von Schwerverletzten in Deutschland. Unfallchirurg 2013; 116: 345–350 2 Biewener A, Aschenbrenner U, Sauerland S et al. Impact of rescue method and the destination clinic on mortality in polytrauma. A status report. Unfallchirurg 2005; 108: 370–377 3 Biewener A, Aschenbrenner U, Rammelt S et al. Impact of helicopter transport and hospital level on mortality of polytrauma patients. J Trauma 2004; 56: 94–98 4 Mommsen P, Bradt N, Zeckey C et al. Comparison of helicopter and ground emergency medical service: a retrospective analysis of a German rescue helicopter base. Technol Health Care 2012; 20: 49–56 5 Frink M, Probst C, Hildebrand F et al. Einfluß des Transportmittels auf die Letalität bei polytraumatisierten Patienten. Unfallchirurg 2007; 110: 334–340 6 Messelken M, Schlechtriemen T. Der minimale Notarztdatensatz MIND2. Notfall & Rettungsmedizin 2003; 6: 189–192 7 Schlechtriemen T, Bradschetl G, Stolpe E et al. Entwicklung eines erweiterten Mindestdatensatz Notfallmedizin für die Luftrettung. Notfall & Rettungsmedizin 2001; 4: 76–89 8 ADAC-Luftrettung GmbH, Hrsg. Stationsatlas 2011/2012. 6. überarbeitete Aufl. München: Werner Wolfsfellner Medizin Verlag; 2011 9 Tscherne H, Regel G, Sturm JA et al. Schweregrad und Prioritäten bei Mehrfachverletzungen. Chirurg 1987; 58: 631–640 10 Schweigkofler U, Reimertz C, Lefering R et al. Bedeutung der Luftrettung für die Schwerverletztenversorgung. Unfallchirurg 2014 [Epub ahead of print] 11 Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM); Klinikum der Universität München. Bayerisches Staatsministerium des Innern für Bau Und Verkehr (2014) Luftrettung. Im Internet: https://www.innenministerium.bayern.de/sus/rettungswesen/luftrettung/index.php, Stand: 20.04.2015 12 Gries A, Sikinger M, Hainer C et al. Versorgungszeiten bei Traumapatienten im Luftrettungsdienst. Anaesthesist 2008; 57: 562–570 13 Gries A, Lenz W, Stahl P et al. Dispositionsstrategie der Rettungsleitstelle beeinflusst präklinische Versorgungszeiten bei Einsätzen der Luftrettung. Anaesthesist 2014; 63: 555–562 14 Schlechtriemen T, Burghofer K, Lackner CK et al. Validierung des NACAScore anhand objektivierbarer Parameter. Untersuchung von 104.962 Primäreinsätzen der Jahre 1999–2003 aus der Luftrettung. Notfall & Rettungsmedizin 2005; 8: 96–108 15 Probst C, Pape HC, Hildebrand F et al. 30 years of polytrauma care: An analysis of the change in strategies and results of 4849 cases treated at a single institution. Injury 2009; 40: 77–83 16 Nast-Kolb D, Ruchholtz S. Quality management of early clinical treatment of severely injured patients. Unfallchirurg 1999; 102: 338–346 17 Lefering R, Paffrath T. Versorgungsrealität auf der Basis der Daten des TraumaRegister DGU®. Unfallchirurg 2012; 115: 30–32 18 Beck A, Gebhard F, Kinzl L. Notärztliche Versorgung des Traumapatienten. Notfall & Rettungsmedizin 2002; 5: 57–71 19 Zimmermann M, Arlt M, Drescher J et al. Luftrettung in der Nacht Teil 1: Untersuchung von nächtlichen Primäreinsätzen in der Luftrettung. Notfall & Rettungsmedizin 2008; 11: 37–45

Interessenkonflikt: Dr. Braun: ärztlicher Leiter DRF Luftrettung; Dr. Schlechtriemen: verantwortlich für med. Qualitätsmanagement bei der ADAC Luftrettung

Schweigkofler U et al. Bedeutung der Luftrettung …

Z Orthop Unfall 2015; 153: 387–391

Heruntergeladen von: WEST VIRGINIA UNIVERSITY. Urheberrechtlich geschützt.

Patienten 11 755 (10%) als polytraumatisiert eingestuft. Einzelbetrachtungen der Einsatzstatistiken der Luftrettungsstandorte zeigen bei einem Traumaanteil von 13–56 % jedoch auch ganz erhebliche quantitative Unterschiede. Die Auswertung des TraumaRegisters DGU [16] zeigt für die Luftrettung einen Anteil von 33 % an der Zuweisung von Schwerver" Abb. 3). Es letzten (ISS≥9) in Kliniken aller Versorgungsstufen (l wurde hierbei bewusst ein Wert von ISS≥9 gewählt, da dieser der subjektiven Einschätzung eines Verletzten als polytraumatisiert durch einen Notarzt näher kommt als die auf nachgewiesenen Diagnosen basierende Polytraumadefinition der DGU mit einem ISS von > 16. Bei Betrachtung der Jahre 2005 bis 2011 zeigte sich insgesamt ein deutlicher Rückgang von 43% (2005) auf 27 % (2011) [10]. Weiterführende Studien zur Versorgungsforschung z. B. zur Darstellung der quantitativen Entwicklung von frühsekundären interklinischen Weiterverlegungen innerhalb eines Traumanetzwerks stehen noch aus. Möglicherweise kann der rasche Transport in das nächstgelegene regionale oder überregionale Traumazentrum durch einen zielgerichteten Einsatz der Luftrettung gesichert werden. Sollte sich v. a. während der „fliegerischen Nachtstunden“ ein quantitativ relevanter Anteil an Verlegungen von lokalen oder regionalen Traumazentren in überregionale Traumazentren zeigen, ist zu diskutieren, ob die Vorhaltezeiten der Luftrettung angepasst werden müssen [18, 19].

391

[Significance of Helicopter Emergency Medical Service in Prehospital Trauma Care].

In the late 1960s, the helicopter emergency medical service (HEMS) was established in Germany because of an increasing number of severe injuries in tr...
250KB Sizes 4 Downloads 8 Views