Originalien Nervenarzt 2015 · 86:1148–1156 DOI 10.1007/s00115-015-4303-z Online publiziert: 17. Juni 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

T. Pollmächer Zentrum für psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt

Moral oder Doppelmoral? Das Berufsethos des Psychiaters im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, Rechten Dritter und Zwangsbehandlung

In den letzten Jahren ist eine intensive öffentliche Diskussion zur Behandlung psychiatrischer Patienten gegen ihren Willen in Gang gekommen. Ausgangspunkt war die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 [1]. Die Konvention legt in § 14 fest, dass das Vorliegen einer Behinderung per se (Anmerkung des Verfassers) in keinem Fall eine Freiheitsentziehung oder Zwangsbehandlung rechtfertigt. Die Bestimmungen dieser Konvention sowie ein Bericht des Sonderberichterstatters der UN über Folter, Juan E. Mendéz, vom Januar 2013 [2], sind z. B. seitens des Deutsches Institut für Menschenrechte [3] so interpretiert worden, dass jede Unterbringung und Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne Einwilligung des Betroffenen als rechtswidrig oder gar als Folter zu betrachten sei, wobei dieser Ansicht zurecht widersprochen worden ist, z. B. seitens der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN; [4, 5]). Zusätzlich hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Zwangsbehandlung nach den Unterbringungs- bzw. Maßregelvollzugsgesetzen einiger Bundesländer verneint und in der Folge hat der Bundesgerichtshof die betreuungsrechtlichen Bestimmungen zur Zwangsbehandlung für nicht verfassungskonform erklärt [6]. Hintergrund dieser Entscheidungen waren aber nicht grundsätzliche Bedenken gegen jede Art von Zwangsbehandlung, sondern die Ansicht, dass die aktuellen rechtlichen Bestimmungen die schutzwürdigen Grund-

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rechte der Betroffenen zu wenig beachten. Von Juni 2012 bis Februar 2013, als eine Neufassung der entsprechenden betreuungsrechtlichen Bestimmungen in Kraft trat, war deshalb eine rechtskonforme Zwangsbehandlung nicht oder nur in lebensbedrohlichen Akutsituationen möglich. Dieser „rechtsfreie“ Raum hat kontroverse Reaktionen ausgelöst. Es war davon die Rede, dass Psychiater in Gefahr gerieten, sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen [7], aber auch davon, dass diese Gesetzeslücke den Weg in eine völlig gewaltfreie Psychiatrie weise [8]. Diese Diskussion ist keineswegs abgeschlossen, genauso wenig wie die Diskussion um weitere Anpassungen des Rechtsrahmens. Im Folgenden soll aber nicht die Frage beleuchtet werden, was aktuell rechtens ist oder in Kürze rechtens sein wird, sondern es soll eine moralische Position formuliert werden, die psychiatrisches Handeln in den Grenzgebieten von Patientenautonomie, Rechten Dritter und Zwangsbehandlung berufsethisch verortet. Ausgangspunkt ist die immer wieder diskutierte Ansicht, Psychiatern käme eine Doppelrolle zu, die sie nicht nur dem Wohl des Patienten, sondern im Sinne einer ordnungspolitischen Funktion auch der Gesellschaft verpflichte, wenn der Patient krankheitsbedingt Interessen oder Rechte Dritter gefährdet [9]. Ich habe schon andernorts argumentiert, dass der Psychiatrie eine solche Rolle nicht zukommen kann, da sie dem ärztlichen Berufsethos zuwider läuft [10] und deshalb eine ordnungspolitische Funktion

den Psychiater in ein moralisches Dilemma brächte. Ich werde im Folgenden darlegen, dass der Psychiater in Ausübung seines ärztlichen Berufs als Behandelnder – wie alle anderen Ärzte – aus ethischer Perspektive immer dem Wohl und dem Selbstbestimmungsrecht seiner Patienten verpflichtet sein muss, wenn auch nicht immer nur dem des einzelnen Patienten. Ich werde ferner argumentieren, dass der Begriff der Behandlung alle und nur diejenigen medizinischen Maßnahmen umfasst, die dem Wohl des Patienten dienen und sein Selbstbestimmungsrecht respektieren. Dies bedeutet umgekehrt, dass medizinische Maßnahmen, die nicht dem Wohl des Patienten dienen und nicht sein Selbstbestimmungsrecht respektieren, auch nicht als Behandlung bezeichnet werden können. Hieraus folgt schließlich, dass eine Zwangsbehandlung sowohl gegen den freien Willen des Patienten als auch zum ausschließlichen Wohl Dritter schon begrifflich ausgeschlossen ist, also eine contradictio in adjectu darstellt. Diese berufsethische Position führt zu einer Reihe von Konsequenzen, die am Ende dieser Arbeit diskutiert werden.

Grundlegende medizinethische Prinzipien Allen medizinischen Fachdisziplinen sind ethische Grundprinzipien gemeinsam, die Grundlage der Berufsordnung, des Genfer Ärztegelöbnisses und ethischer Deklarationen z. B. des Weltärztebundes sind. Eine sehr einflussreiche Klassifikation solcher Prinzipien geht auf Arbeiten von

Zusammenfassung · Summary Beauchamps und Childress aus den 1970er Jahren zurück [11], die vier Grundprinzipien formulierten: F der Respekt vor der Autonomie des Patienten, F Fürsorge und F das Prinzip des Nichtschadens sowie F Gleichheit und Gerechtigkeit.

Nervenarzt 2015 · 86:1148–1156  DOI 10.1007/s00115-015-4303-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 T. Pollmächer

Moral oder Doppelmoral? Das Berufsethos des Psychiaters im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, Rechten Dritter und Zwangsbehandlung Zusammenfassung Die aktuelle intensive Diskussion von rechtlichen und moralischen Aspekten der Behandlung psychiatrischer Patienten gegen ihren Willen wirft grundlegende berufsethische Fragen auf. Ärzte sind eindeutig und ausschließlich dem Patienten, seinem Wohl und seiner Autonomie verpflichtet. Für den Psychiater können durch krankheitsbedingte Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit der Patienten und Verhaltensweisen, welche die Rechte Dritter gefährden, moralische Konflikte entstehen, die diese Eindeutigkeit gefährden. Nicht selten ist deshalb von einer Doppelfunktion der Psychiatrie die Rede, welche ordnungspolitisch auch die Rechte Dritter zu schützen habe. Die Akzeptanz einer

Da diese Prinzipien in ihrem Verhältnis zueinander nicht widerspruchsfrei sind, können sie miteinander in Konflikt geraten, wodurch bestimmte medizinische Entscheidungen moralisch problematisch werden. Besonders bekannte Konflikte dieser Art beziehen sich auf Widersprüchlichkeiten zwischen dem Prinzip der Fürsorge für den einzelnen Patienten und dem Prinzip der Gerechtigkeit, z. B. dann, wenn es um die Zuteilung von Spenderorganen in der Transplantationsmedizin geht oder um die Abwägung zwischen dem Wohl der Mutter und dem des ungeborenen Kindes. Zentral für die Systematik von Beauchamps und Childress ist das Wohl des Patienten: Dies gilt für die Verpflichtung seine Autonomie zu achten, sein Wohlergehen aktiv zu befördern, ihm nicht zu Schaden und ihn gleich und gerecht zu behandeln. In der deutschen Musterberufsordnung ist das in § 2 Abs. 2 folgendermaßen formuliert: Ärztinnen und Ärzte haben ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihnen bei ihrer Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Sie haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen. [12] Dabei geht es zwar nicht immer ausschließlich um den einzelnen Patienten, denn das Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit erfordert eine Abwägung, wenn Ressourcen nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Es geht aber immer ausschließlich um Patienten; deren Wohl ist entscheidend und nicht das Wohl, die Wünsche und die Bedürfnisse der Ange-

solchen Doppelfunktion birgt aber die Gefahr einer Doppelmoral, die den Psychiater außerhalb der restlichen Ärzteschaft und sein unbedingtes Eintreten für seine Patienten infrage stellt. Der vorliegende Artikel formuliert eine moralische Position, die den Psychiater – wie alle anderen Ärzte – berufsethisch ausschließlich an die Seite der Patienten stellt und diskutiert die sich hieraus ergebenden praktischen Probleme. Schlüsselwörter Psychiatrische Patienten · Autonomie ·   Selbstbestimmungsfähigkeit · Moralischer Standard · Medizinethik

Single or double moral standards? Professional ethics of psychiatrists regarding self-determination, rights of third parties and involuntary treatment Summary The current intensive discussion on the legal and moral aspects of involuntary treatment of psychiatric patients raises a number of ethical issues. Physicians are unambiguously obligated to protect patient welfare and autonomy; however, in psychiatric patients diseaserelated restrictions in the capacity of self-determination and behaviors endangering the rights of third parties can seriously challenge this unambiguity. Therefore, psychiatry is assumed to have a double function and is also obligated to third parties and to society in general. Acceptance of such a kind of double obligation carries the risk of double mor-

hörigen1 oder der Gesellschaft. Diese unbedingte Verbundenheit des Arztes mit dem Patienten kommt auch in den Prinzipien und berufsrechtlichen Regeln zum Ausdruck, die freiwillige Zustimmung des Patienten zur Kardinalvoraussetzung für ärztlichen Handeln machen und solchen, 1

Eine besondere Konstellation entsteht bei medizinischen Eingriffen an Gesunden, die freiwillig zu Patienten werden, um Dritten zu helfen, z. B. bei einer Lebendorganspende unter Verwandten. Hier stellt der Angehörige selbst, aber eben nicht der Arzt, das Wohl Dritter vor sein eigenes.

al standards, placing the psychiatrist ethically outside the community of physicians and questioning the unrestricted obligation towards the patient. The present article formulates a moral position, which places the psychiatrist, like all other physicians, exclusively on the side of the patient in terms of professional ethics and discusses the practical problems arising from this moral position. Keywords Psychiatric patients · Autonomy · Capacity of self-determination · Moral standards ·   Medical ethics

die den Arzt zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten verpflichten. Dieser mittlerweile weltweit akzeptierte und zentral an der Autonomie2 und am Wohl des Patienten orientierte medizinethische Ansatz kann medizingeschichtlich am besten als Reaktion auf die problematischen Exzesse paternalistischer Medizin verstanden werden, die in den umfangreichen Sterilisationsprogrammen, 2

Dennoch wird das Primat der Autonomie in der Medizin in verschiedener Hinsicht auch weiterhin kritisch diskutiert, z. B. [13]. Der Nervenarzt 9 · 2015 

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Originalien Unfreiwillige Behandlung

Freiwillige Behandlung

Substituierte Willensbildung mit behandlungsbejahendem Ergebnis Zustimmung

Natürlicher Wille

Ablehnung

Zustimmung Vorschlag einer medizinisch indizierten Behandlung

Freier Wille

Ablehnung

Substituierte Willensbildung mit behandlungsbejahendem Ergebnis

Behandlung gegen den Willen des Patienten

Maßnahmen gegen den Willen des Patienten

Zwangsbehandlung

Zwangsmaßnahmen

Abb. 1 8 Ausgehend von einer medizinisch indizierten Behandlung entscheidet der Wille des Patienten im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung über deren Durchführung. Dabei entstehen unterschiedliche Entscheidungspfade in Abhängigkeit davon, ob der Patient zu einer freien oder nur zu einer natürlichen Willensbildung fähig ist

grausamen medizinischen Versuchen an Schutzbefohlenen und schließlich in der Tötung abertausender Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Krankheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gipfelten [14].

Das Berufsethos des Psychiaters Die Psychiatrie einschließlich der forensischen Psychiatrie ist Teil der Humanmedizin. Deshalb gelten für Psychiater dieselben medizinethischen Grundprinzipien und berufsständischen Regeln wie für alle anderen Fachgebiete. Diese auf den ersten Blick triviale Feststellung erweist sich bei näherer Betrachtung als kompliziert: Zum einen können psychiatrische Erkrankungen die Patientenautonomie beeinträchtigen und damit die Fähigkeit, selbstbestimmt über die eigene Behandlung zu entscheiden, und zum anderen können sie zu Verhaltensweisen führen, die Dritte in unterschiedlicher Weise beeinträchtigen oder in ihren Rechten verletzen. Beides kommt auch in der somatischen Medizin vor, ist aber in der Psychiatrie deshalb von herausragender Bedeutung, weil die Interaktion zwischen Be-

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einträchtigungen der Autonomie des Patienten und krankheitsbedingter Verhaltensweisen zum Nachteil Dritter zu spezifischen medizinethischen Konflikten führt. Zunächst soll auf autonomiebezogene ethische Konflikte eingegangen werden.

Patientenautonomie und klinische Psychiatrie Eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Patientenautonomie kommt bei einer Vielzahl von Erkrankungen vor und kann den Patienten daran hindern, frei über bestimmte Aspekte seiner ärztlichen Behandlung zu entscheiden. Er kann somit u. U. nicht in Behandlungsmaßnahmen einwilligen, die aus medizinischer Sicht zu seinem Wohl notwendig sind, er kann diese Maßnahmen aber auch nicht selbstbestimmt ablehnen. Um in einer solchen Situation eine moralisch tragfähige Entscheidung zu erreichen, die dem Wohl des Patienten und seiner Autonomie gleichermaßen gerecht wird, muss ein Substitut für seine freie Willensentscheidung gefunden werden. Dies kann z. B. ein vorausverfügter Wille sein, der in einer Pa-

tientenverfügung niedergelegt ist, es können andere Hinweise aus dem Leben des Patienten sein, die vermuten lassen, dass er die infrage stehende Entscheidung in die eine oder andere Richtung fällen würde, oder es muss versucht werden, den mutmaßlichen Willen zu eruieren. Die Aufgabe, eine solche Entscheidung substitutiv zu treffen, kann – außer in akuten Notfallsituationen – nicht dem behandelnden Arzt zufallen, da er als befangen gelten muss. Die Aufgabe des Arztes besteht darin, festzustellen, ob der Patient einwilligungsunfähig ist und ob frühere Willensäußerungen für die aktuelle Entscheidungssituation einschlägig sind, und darin, dem Vertreter des Patienten als Fachmann zur Seite zu stehen, der die entscheidungsrelevanten medizinischen Informationen bereit hält. Wenn Patienten bewusstlos oder so stark in ihrem Bewusstsein eingeschränkt sind, dass sie nicht mehr zu kommunizieren in der Lage sind, ist die Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit offensichtlich. Diese Art der Beeinträchtigung ist in der somatischen Medizin bei schwersten Erkrankungen oder Verletzungen insgesamt sogar wesentlich häufiger als bei psychiatrischen Patienten. Typisch für psychiatrische Krankheitsbilder ist hingegen eine partielle Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit der Patienten, die meist zur Kommunikation und zu Willensäußerungen durchaus fähig sind. Dabei können bestimmte Willensäußerungen weiterhin autonomen Charakter haben, also den freien Willen des Patienten repräsentieren, während dies für andere Willensäußerungen nicht zutrifft.3 Solche nicht freien Willensäußerungen repräsentieren in Anlehnung an die Rechtsphilosophie Hegels den natür-

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Der komplexen Beziehung zwischen der infrage stehenden Behandlungsmaßnahme und der Einwilligungsfähigkeit kann durch eine sog. „sliding-scale-strategy“ Rechnung getragen werden. Siehe Hierzu [16], S. 101 ff.

lichen Willen des Patienten [15].4 Der natürliche Wille, der verbal oder nonverbal geäußert werden kann, ist durchaus von Belang. Natürliche Willensäußerungen können aber die freie Willensentscheidung im Rahmen eines medizinischen Entscheidungsprozesses nicht ersetzen, weil sie nicht das Resultat einer vernünftigen, realitätsbezogenen Abwägung sind. Deshalb ist es essenziell, freie und natürliche Willensäußerungen zu unterscheiden, was in der Praxis allerdings erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann [16]. Besonders komplexe, für die klinische Psychiatrie typische moralische Konfliktsituationen entstehen dann, wenn aktuelle natürliche Willensäußerungen eines Patienten früheren selbstbestimmten Willensäußerungen widersprechen (z. B. vorausverfügt in einer Patientenverfügung) oder der aktuelle natürliche Wille einer Behandlung entgegensteht, die Durchführung der Behandlung aber zum Wohle des Patienten wäre und seinem mutmaßlichen freien Willen entspricht. In . Abb. 1 wird die Rolle des freien bzw. natürlichen Willens in der Entscheidungsfindung über eine Behandlungsmaßnahme verdeutlicht. Während eine selbstbestimmte Willensentscheidung direkt die Einwilligung (oder Ablehnung) in eine Maßnahme begründet, ist eine zustimmende (nur) natürliche Willensäußerung hierzu nicht hinreichend. Es bedarf darüber hinaus eines Substituts der freien Willensbildung, einer Person, die soweit möglich den tatsächlichen Willen des Patienten oder zumindest seine Wünsche und Interessen eruiert, um an seiner Stelle eine Entscheidung zu treffen, die der möglichst nahe kommt, die der Patient

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Juristisch wird heute jede Willensäußerung als „natürlich“ bezeichnet, die keine freie Willensäußerung ist, insofern ist der natürliche Wille ex negativo definiert. Diese Art der Definition soll hier übernommen werden, obwohl sie wahrscheinlich nicht ganz der Intention Hegels entspricht, der unter dem natürlichen Willen die direkte, nicht durch rationale Überlegung modifizierte Repräsentanz von Bedürfnissen, Trieben und Neigungen verstand.

selbst treffen würde, wäre er zu einer freien Willensbildung fähig.5 Selbst der zustimmende natürliche Wille des Patienten wird also nur zusammen mit einer substituierten freien Entscheidung dem Prinzip der Achtung der Autonomie des Patienten gerecht. Analoges gilt erst recht dann, wenn der natürliche Wille eines einwilligungsunfähigen Patienten der Durchführung einer medizinischen Maßnahme entgegensteht. Auch dann bedarf es einer substituierenden Entscheidungsfindung, die, falls sie mit dem ablehnenden natürlichen Willen des Patienten kongruent ist, dazu führt, dass die Maßnahme nicht durchgeführt wird. Falls die substituierte Entscheidungsfindung aber zum Ergebnis führt, dass die Behandlung dem vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht, so stellt sich die medizinethisch äußerst sensible Frage, ob die Behandlung dann gegen den natürlichen Willen des Patienten durchgesetzt werden soll oder gar muss. Eine sol-

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In den letzten Jahren wird zunehmend gefordert, bei einwilligungsunfähigen Patienten assistierte anstelle substituierter Entscheidungen zu setzen (z. B. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Information_der_Monitoring_Stelle_anlaesslich_der_deutschen_Uebersetzung_des_ Berichts_des_Sonderberichterstatters_ueber_ Folter_und_andere_grausame_unmenschliche_oder_erniedrigende_Behandlung_oder_ Strafe_Juan_E_Mendez.pdf). Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass Assistenz bei einer Entscheidung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie letztlich zu einer freien Entscheidung führt. Ist in einer konkreten Situation aber auch mit noch so intensiver Unterstützung eine freie Entscheidung nicht möglich, bleibt nur die Substitution dieser Entscheidung als Lösungsmöglichkeit. Das Konzept der assistierten Entscheidung betont damit zurecht, wie wichtig es ist Patienten bei ihrer Entscheidungsfindung so intensiv wie möglich zu unterstützen, das Konzept löst aber das Problem der Entscheidungsfindung im Falle der tatsächlichen Unfähigkeit zur freien Willensbildung nicht.

che Art der Behandlung wird als Zwangsbehandlung bezeichnet.6

Zwangsbehandlung in der klinischen Psychiatrie Der Begriff der Zwangsbehandlung ist aus verständlichen Gründen extrem negativ besetzt. Die Frage, ob Menschen gegen ihren natürlichen oder gar gegen ihren freien Willen medizinisch behandelt werden dürfen und sollen, wird in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen (z. B. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer [17]) heftig und kontrovers diskutiert. Zusätzlich haben Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof kürzlich Entscheidungen zur Frage der Zwangsbehandlung gefällt [6]. Hierin ist nicht nur erörtert worden, ob und unter welchen Umständen sich eine Zwangsbehandlung zum Wohle des Patienten rechtfertigen lässt, sondern auch, ob und wann eine Zwangsbehandlung gefährlicher Patienten oder psychisch kranker Rechtsbrecher zum Schutze Dritter durchgeführt werden kann. Nach allem bisher in dieser Arbeit Ausgeführten stellt allerdings der Begriff einer Zwangsbehandlung zumindest zum alleinigen Schutz (oder Wohl) Dritter eine contradictio in adjecto dar, weil aus medizinethischer Sicht jede Behandlung dem Wohle des Patienten dienen muss. Um die Diskussion dieses Widerspruches angemessen führen zu können, bedarf es zunächst der Definition einer Behandlung. Diese ist unter anderem deshalb bedeutsam, weil rechtlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und weitere freiheitsentziehende Maßnahmen einerseits und die Behandlung andererseits als jeweils eigenständige Vorgänge gesehen werden, die unterschiedliche materielle und formale 6

Als Zwang wird gemeinhin die Einwirkung von außen auf jemanden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt bezeichnet. Hierunter ist auch die Überwindung des natürlichen Willens einer Person zu verstehen, auch wenn eingewendet werden könnte, es sei nicht ausreichend präzise, sowohl die Überwindung des freien als auch des natürlichen Willens gleichermaßen als Zwang zu bezeichnen. Jedenfalls unterscheidet der allgemeine Sprachgebrauch hier nicht. Der Nervenarzt 9 · 2015 

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Rechtsgrundlagen haben. Dabei ist eine Unterbringung auch gegen den freien Willen des Patienten möglich, nicht aber seine Behandlung. Diese Trennung von Unterbringung und Behandlung wirft zum einen eine Vielzahl arzt- und patientenrechtlicher Fragen auf, die nicht Gegenstand dieses Artikels sind,7 und hat zum anderen erhebliche Bedeutung für das Berufsethos des Psychiaters. Die begriffliche Trennung der Behandlung von Unterbringung und anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen scheint zunächst mit den ethischen Grundprinzipien ärztlichen Handels vereinbar. Denn zumindest gegen den freien Willen des Patienten kann eine freiheitsentziehende Maßnahme keine ärztliche Behandlung sein, selbst wenn sie dem Wohl des Patienten dient, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten fundamental missachtet und deshalb weder medizinethisch noch berufsrechtlich zu rechtfertigen ist. Andererseits können freiheitsentziehende Maßnahmen sehr wohl mit medizinethischen Grundsätzen vereinbar sein, nämlich dann, wenn sie zum Schutz 7

Das Verhältnis von Arzt und Patient bestimmt sich nach § 630a ff. BGB durch den Behandlungsvertrag. Der Arzt bzw. das Krankenhaus schuldet die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Wenn also Maßnahmen im Krankenhaus, z. B. die mechanische Beschränkung eines bürgerlich-rechtlich untergebrachten Patienten zur Vermeidung selbstschädigenden Verhaltens nicht als Behandlung gewertet werden können, weil diese Maßnahmen gegen den freien Willen des Patienten durchgeführt werden, dann unterliegen diese Maßnahmen nicht dem Behandlungsvertrag. Ist ein einwilligungsfähiger Patient nur untergebracht und verweigert eine Behandlung, dann ist fraglich, ob überhaupt ein Behandlungsvertrag zustande kommt. Daran ändern die Einwilligung von Betreuer und Betreuungsgericht in die Unterbringung und mechanische Beschränkung nichts, weil es sich eben nach medizinischer Definition nicht um eine Behandlung handelt. Rechtlich noch problematischer erscheint es, wenn Medikamente nicht im Kontext einer Behandlung gegeben werden, sondern um z. B. eine mechanische Beschränkung zu vermeiden. In dieser Situation wird das Medikament nicht bestimmungsgemäß angewendet, denn kein Präparat ist zum Zwecke der „chemischen Fixierung“ klinisch getestet oder gar amtlich zugelassen. Damit entfällt die Produkthaftung des Herstellers und eine Haftung des Arzt oder des Krankenhauses besteht – zumindest aus einem Behandlungsvertrag – nicht.

Handelt es sich um eine Maßnahme gegen den freien Willen des Betroffenen?

Ja

Zwangsmaßnahme

Nein Handelt es sich um eine Maßnahme zum Wohle des Betroffenen?

Nein

Zwangsmaßnahme

Ja Entspricht die Maßnahme dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen?

Nein

Zwangsmaßnahme

Ja Zwangsbehandlung

Abb. 2 8 Begriffliche Unterscheidung verschiedener Maßnahmen (Zwangsmaßnahme und Zwangsbehandlung) unter Überwindung des Willens (Freiheitsentziehung, freiheitsbeschränkende Maßnahmen, Verabreichung psychotroper Medikamente)

des Patienten erfolgen und er sie entweder freiwillig akzeptiert, oder, falls der Patient einwilligungsunfähig ist, dieser Schutz seinem mutmaßlichen Willen entspricht. Solche Schutzmaßnahmen sind auch in anderen medizinischen Kontexten üblich und auch dort durchaus als Behandlung bzw. als Teil der Behandlung zu verstehen. Umgekehrt können Maßnahmen, die dem Anschein nach eine „ärztliche Behandlung“ darstellen, bei genauer Betrachtung die moralischen Kriterien für eine Behandlung nicht erfüllen. Genannt sei hier insbesondere die zwangsweise Verabreichung eines Medikaments gegen den freien Willen eines Patienten. Offenbar lässt sich eine medizinethisch begründbare Behandlung von einer nicht medizinethisch begründbaren Maßnahme nicht allein anhand dessen präzise unterscheiden, was der Arzt tut. Somit scheint die juristische, rein phänomenologische Trennung zwischen freiheitsentziehenden Maßnahmen und einer Behandlung aus medizinischer Sicht ungenau, wenn nicht sogar irreführend. Deshalb soll wie schon andernorts [18] vorgeschlagen werden, medizinische Behandlung als die Summe aller Einzelmaßnahmen zu definieren, die dazu dienen, zum Wohle des Patienten eine Erkrankung zu verhüten, zu erkennen, zu bessern, zu heilen oder ihre Folgen zu lindern. Diese Definition umfasst auch Maßnahmen, die dem Schutz des Patienten dienen, wie das Tragen eines Schutzhelms

bei einem Patienten mit Epilepsie, die mechanische Beschränkung eines akut suizidalen Patienten oder seine Unterbringung auf einer geschlossenen Station. Allerdings qualifizieren sich diese Maßnahmen weder per se als Behandlung noch dadurch, dass sie von Ärzten oder Angehörigen anderer Heilberufe durchgeführt werden, sondern erst dadurch, dass sie dem Wohl des Patienten dienen. Dem Wohl des Patienten dienen sie aber nur dann, wenn sie auch im Einklang mit den anderen patientenbezogenen medizinethischen Grundprinzipien stehen, wenn also auch die Autonomie des Patienten respektiert wird und die Maßnahmen mit den Prinzipien des Nichtschadens und der Gerechtigkeit vereinbar sind. Diese Definition einer Behandlung ermöglicht es, die Durchführung medizinischer Maßnahmen zum Wohle des Patienten von der Durchführung derselben Maßnahmen zum Wohle Dritter begrifflich zu trennen. Als Konsequenz dieser begrifflichen Trennung, die auch schon von anderer Seite vorgeschlagen wurde [19], kann eine Zwangsmaßnahme nur dann als Zwangsbehandlung bezeichnet werden, wenn sie dem Wohl des Patienten dient und den anderen genannten medizinethischen Grundprinzipien Rechnung trägt. Damit wäre eine Zwangsbehandlung eines Patienten gegen seinen freien Willen schon begrifflich ausgeschlossen (. Abb. 2: Die begriffliche Unterscheidung zwischen einer Zwangsmaßnahme

und einer Zwangsbehandlung lässt sich anhand eines Entscheidungsbaumes operationalisieren). Ein zusätzlicher Nutzen der Maßnahme für Dritte steht der Qualifikation einer Maßnahme als Behandlung aber nicht grundsätzlich im Wege, wenn Sie eben nur auch unter ausschließlicher Betrachtung des Patientenwohls sinnvoll ist. Eine Zwangsmaßnahme, die nicht dem Wohl des Patienten dient, sondern ausschließlich dem Wohl Dritter, wäre am besten als Sicherungsmaßnahme oder präventive Zwangsmaßnahme zu bezeichnen, die dann allerdings nicht von normativen medizinethischen oder berufsrechtlichen Vorgaben erfasst wird, sondern in den Bereich ethischer Überlegungen zu Verbrechensprävention und Bevölkerungsschutz fällt. Die begriffliche Trennung zwischen Zwangsmaßnahme und Zwangsbehandlung wirft die Frage auf, welche Rolle dem Arzt in der Durchführung, Anordnung und Verantwortung jeweils zukommt. Die Zwangsbehandlung in dem hier dargestellten Sinne ist unzweifelhaft, wie jede andere Art der Behandlung, eine genuin ärztliche Aufgabe, die Durchführung reiner Zwangsmaßnahmen offenkundig nicht; im Gegenteil, ihre Durchführung oder Anordnung widerspricht fundamental dem ärztlichen Ethos, weil Zwangsmaßnahmen das Wohl und unter Umständen sogar den freien Willen des Betroffenen missachten. Für die klinische Psychiatrie steckt hierin ein erhebliches moralisches Konfliktpotenzial, weil en gros und theoretisch die Unterscheidung zwischen Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlung klar und einleuchtend ist, en detail und praktisch aber keineswegs immer.8

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Selbst wenn z. B. bei einem einwilligungsunfähigen, krankheitsbedingt fremdgefährdenden Patienten eine vorübergehende Freiheitsentziehung und die Verabreichung psychotroper Medikamente nach substitutiver Einwilligung durch einen rechtlichen Betreuer im hier verwendeten Sinn eindeutig als Behandlung zu qualifizieren sind, kann der konkrete Nutzen, den einzelne Maßnahmen, wie z. B. eine kurzfristige Fixierung, für den Patienten selbst haben, gegen null tendieren, sodass einzelne Maßnahmen dann unter Umständen doch als Zwangsmaßnahmen zu bezeichnen wären. Der Nervenarzt 9 · 2015 

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Originalien Öffentlichrechtliche Unterbringung und Behandlung Behandlungs- und Schutzinteressen des Patienten Betreuungsrechtliche Unterbringung und Behandlung

Strafrechtliche Unterbringung und Behandlung; Therapieunterbringung

Haft Sicherungsverwahrung Schutzinteressen Dritter

Abb. 3 8 Die Behandlung einwilligungsunfähiger psychiatrischer Patienten wird durch verschiedene rechtliche Normen geregelt. Dabei überlappen die Behandlungs- und Schutzinteressen des Patienten mit den Schutzinteressen Dritter. Nur in diesem Überlappungsbereich, der rot umrandet ist, ist ärztliches Handeln zum Wohle Dritter als Teil der Behandlung des Patienten berufsethisch gerechtfertigt

Praktische Konsequenzen Bevor auf die praktischen Konsequenzen der formulierten moralischen Position eingegangen wird, sollen die wesentlichen Punkte kurz zusammengefasst werden: F Die Psychiatrie ist Teil der Humanmedizin und deshalb gelten für Psychiater dieselben berufsethischen Prinzipien und berufsrechtlichen Verpflichtungen wie für alle anderen Ärzte. F Damit hat sich das Handeln von Psychiatern – wie das aller anderen Ärzte– am Wohl und der Autonomie der Patienten zu orientieren und nicht an den Wünschen und Bedürfnissen Dritter. F Nur solche medizinischen Maßnahmen stellen eine Behandlung dar, die dem Wohl des Patienten dienen und seine Autonomie respektieren. F Auch Sicherungsmaßnahmen, wie die Unterbringung und mechanische Beschränkung, können in diesem Sinne Teil einer Behandlung sein, wenn sie dem Wohl des Patienten dienen und seine Autonomie respektieren. F Maßnahmen gegen den freien Willen des Patienten oder solche im ausschließlichen Interesse Dritter sind nicht im Rahmen medizinethischer Prinzipien moralisch zu rechtfertigen. Diese Grundsätze verorten den Psychiater berufsethisch eindeutig dort, wo alle

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Ärzte moralische verwurzelt sind, bei der Verpflichtung auf das Wohl des Patienten und beim Respekt vor seiner Autonomie. Dies verdeutlicht im Kontext der Behandlung psychiatrischer Patienten und im Spannungsfeld der juristischen Vorschriften . Abb. 3. Darüber hinausgehende, fachspezifische berufsethische Grundsätze, die unter den Ärzten nur den Psychiater im Sinne einer ordnungspolitischen Funktion dazu verpflichten würden, außerhalb seines Behandlungsauftrages, aber im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit Dritte oder die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen, die von psychisch kranken Menschen ausgehen, würden den Psychiater konkurrierenden Interessen verpflichten und ihn zusätzlich berufsethisch außerhalb der Ärzteschaft stellen. Beides wäre gleichermaßen höchst problematisch. Die gleichzeitige Verpflichtung des Psychiaters auf das Wohl des Patienten und die Wahrung der Interessen und Rechte Dritter würde völlig neuartige medizinethische Betrachtungen notwendig machen und wesentliche Kernelemente des klassischen ArztPatienten-Verhältnisses fundamental stören, insbesondere die Verpflichtung zu Wahrhaftigkeit und Verschwiegenheit. Hierbei ginge es wohlgemerkt darum, die konkurrierenden Interessen innerhalb des berufsethischen Rahmens zum Ausgleich zu bringen und nicht um Konflikte zwischen berufsethischen Verpflichtungen

und solchen, die aus anderen moralisch bedeutsamen Rollen erwachsen.9 Die hier vertretende moralische Position, die den Psychiater zusammen mit allen anderen Ärzten an die Seite des Patienten stellt, ist mit der aktuellen Realität psychiatrischen Handelns nicht vollständig kongruent. Am deutlichsten zeigt sich dies in den forensischen Kliniken, wo in der Verantwortung von Psychiatern Menschen für lange Zeit durch Gerichtsbeschluss untergebracht sind, ohne dass in jedem einzelnen Fall eine Behandlungsmöglichkeit und ein Behandlungsauftrag gegeben wäre. Gerade die jüngsten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug haben deutlich gemacht, dass die Behandlung von Patienten gegen ihren freien Willen und zum Wohle Dritter auch bei hochgefährlichen Straftätern äußerst problematisch, wenn nicht gar grundsätzlich verfassungswidrig ist. Wenn nun aber bestimmte schuldunfähige psychisch kranke Rechtsbrecher nicht behandelt werden dürfen, wie rechtfertigt sich dann deren Unterbringung in Krankenhäusern und welche Rolle und moralische Position haben Ärzte gegenüber solchermaßen Untergebrachten? Dürfen Ärzte an freiheitsentziehenden Maßnahmen mitwirken, die keinem Behandlungszweck dienen, sondern ausschließlich dem Schutz Dritter vor gefährlichen Straftätern, die psychisch krank sind? Müsste es einem bezüglich seiner Erkrankung einsichtsfähigen Patienten nicht frei gestellt sein, trotz seiner Schuldunfähigkeit bezüglich des Deliktes eine Gefängnisstrafe einer Unterbringung in einer forensischen Klinik vorzuziehen? Auch in allgemeinpsychiatrischen Krankenhäusern stellen sich ähnliche Fragen und zwar nicht nur dann, wenn Patienten öffentlich-rechtlich aufgrund einer Fremdgefährdung untergebracht werden, sondern selbst dann, wenn es sich 9

Jeder Arzt kann in eine Situation geraten, in der seine berufsethischen Verpflichtungen mit moralischen Verpflichtungen konkurrieren, die aus seiner Rolle z. B. als Staatsbürger resultieren. Solche Konflikte betreffen häufig die Schweigepflicht, z. B. wenn ein Arzt bei seiner Tätigkeit Hinweise auf Verbrechen erhält oder, im Bereich der Psychiatrie, Situationen, in denen ein Patient andere Patienten oder Mitarbeiter gefährdet.

um eine betreuungsrechtliche Unterbringung handelt, die nur zur Abwehr von Gefahren für den Patienten zulässig ist. Wodurch rechtfertigen sich Zwangsmaßnahmen wie Unterbringung auf einer geschlossenen Station oder freiheitsentziehende Maßnahmen, wenn zwar eine Selbstgefährdung vorliegt, aber die Voraussetzungen für eine Behandlung des Patienten gegen seinen Willen nicht gegeben sind? Wie lange darf ein Patient, der nicht behandelt werden darf, gegen seinen Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus festgehalten werden? Dürfen einem Patienten einerseits Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen, die ihn dauerhaft schädigen und traumatisieren können, zugemutet, eine Behandlung im medizinischen Sinne aber vorenthalten werden? Dürfen Psychiater Zwangsmaßnahmen ohne Behandlungscharakter überhaupt durchführen? Die vorliegende Arbeit und die darin formulierte berufsethische Position führen zur Formulierung dieser Fragen, aber nicht zu ihrer Beantwortung. Die dargestellte Position soll vor allem ein Plädoyer für eine eindeutige moralische Verortung der Psychiatrie als medizinischer Disziplin sein, die eine Doppelmoral verhindert, welche den Psychiater anders als andere Ärzte dem Patienten und der Gesellschaft verpflichten will. Dabei handelt es sich aber zunächst um die persönliche Position des Autors.

Fazit Gerade weil die entsprechende Realität komplex ist, scheint es dringend notwendig, dass innerhalb der klinischen Psychiatrie eine offene, intensive und möglichst vorurteilsfreie Debatte über ihr medizinethisches Selbstverständnis sowie die sich daraus ergebenden Verpflichtungen und deren Grenzen gegenüber den Patienten, Dritten und der gesamten Gesellschaft begonnen wird. Diese Debatte sollte zur Beantwortung der Frage führen, ob die klinische Psychiatrie sich – wie alle anderen Fachgebiete der Medizin – wirklich und immer dem Patienten verpflichtet fühlt oder ob sie doch in der Lage und willens ist, das moralische Dilemma einer Doppelfunktion zu akzeptieren, welche sie auch zum

Sachwalter der Interessen Dritter und der Gesellschaft macht.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. T. Pollmächer Zentrum für psychische Gesundheit,   Klinikum Ingolstadt, Krumenauerstr. 25, 85049 Ingolstadt [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  Der Autor ist Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz, Mitglied des Vorstandes der DGPPN und deren Taskforce Ethik. Er war auch an der Erstellung der ethischen Stellungnahme zum Thema Zwangsbehandlung [5] beteiligt. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

13. Peters L (2013) Was meinen wir, wenn wir Patientenautonomie sagen? Ein kritischer Blick auf die Verwendung des Autonomiebegriffs in der Medizinethik. In: Ach JS (Hrsg) Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin. Mentis, Münster, S 13– 28 14. Klee E (2001) Deutsche Medizin im Dritten Reich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 15. Hegel GWF (1970) Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reclam, Stuttgart 16. Vollmann J (2000) Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie. Steinkopf, Darmstadt 17. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013) Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen. Dtsch Ärzteblatt 110:A1334– A1338 18. Pollmächer T (2014) Die Behandlung Einwilligungsunfähiger gegen ihren natürlichen Willen aus medizinischer Sicht. In: Henking T, Vollmann J (Hrsg) Gewalt und Psyche. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S 169–185 19. Henking T, Mittag M (2013) Die Zwangsbehandlung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Juristische Rundschau 8:341–351

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Der Nervenarzt 9 · 2015 

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[Single or double moral standards? Professional ethics of psychiatrists regarding self-determination, rights of third parties and involuntary treatment].

The current intensive discussion on the legal and moral aspects of involuntary treatment of psychiatric patients raises a number of ethical issues. Ph...
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