Originalien HNO 2014 · 62:443–448 DOI 10.1007/s00106-013-2813-1 Online publiziert: 16. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion

P.K. Plinkert, Heidelberg B. Wollenberg, Lübeck

Hintergrund Das Sprachverstehen ist die wichtigste soziale Funktion des Gehörs und daher ist die Verbesserung des Sprachverstehens eine der primären Aufgaben der Hörgeräteversorgung. Der Erfolg von Hörgeräteversorgungen kann mit dem Freiburger Einsilbertest überprüft werden. Hierzu werden üblicherweise das Tonaudiogramm, das Einsilberverstehen mit Hörgerät und das maximale Einsilberverstehen miteinander verglichen [8]. Eine im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Forderung ist, dass das Einsilberverstehen mit Hörgeräten bei 65 dB möglichst nahe an das maximale Einsilberverstehen aus dem Sprachaudiogramm heranreichen soll [19]. Für eine akzeptable Hörgeräteeinstellung werden dabei Abweichungen von 5% [19] bis 10% [8] toleriert. Die Verwendung des Freiburger Einsilbertests für diese Zwecke wird zwar in verschiedenen Arbeiten kritisiert, er ist jedoch noch immer der Test mit der größten Verbreitung [9, 14]. Zudem war er bis zur letzten Novellierung der Hilfsmittelrichtlinien sogar der einzige Test, der für die Hörgeräteversorgung und deren Überprüfung durch den Hals-Nasen-Ohren(HNO)-Facharzt innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherungen verbindlich war. Außerdem hat er sich in der klinischen Praxis als ein Entscheidungskriterium bei der Indikationsstellung für die Versorgung mit implantierbaren Hörsystemen und zu deren Erfolgskontrollen bewährt [2, 5, 16].

U. Hoppe1 · A. Hast1 · T. Hocke2 1 Audiologische Abteilung, Hals-Nasen-Ohrenklinik, Kopf- und Halschirurgie, Universitätsklinikum Erlangen 2 Cochlear Deutschland GmbH & Co. KG, Hannover

Sprachverstehen mit Hörgeräten in Abhängigkeit vom Tongehör

Obwohl verschiedene Zusammenhänge zwischen Ton- und Sprachaudiogramm existieren [13], können in Einzelfällen erhebliche Abweichungen von diesen Regeln beobachtet werden. Diese werden nicht nur durch statistische Effekte hervorgerufen, sondern repräsentieren die unterschiedlichen Auswirkungen der sensorineuralen Schwerhörigkeit (Frequenzverlauf, unterschiedliche Schädigung der inneren und äußeren Haarzellen, neurale Degeneration usw.) auf das Sprachverstehen. In der vorliegenden Arbeit wurden die Zusammenhänge zwischen Tongehör und Sprachverstehen an einem größeren Kollektiv von Patienten mit sensorineuralen Hörverlusten untersucht. Die Untersuchung hat das Ziel, aus den bekannten qualitativen Zusammenhängen zwischen Ton- und Sprachaudiogramm sowie Sprachverstehen mit Hörgerät unter Einbeziehung eines größeren Datenkollektivs eine für die aktuelle Praxis hilfreiche quantitative Beschreibung abzuleiten. Neben der Darstellung der mittleren Zusammenhänge sollen durch die Darstellung der Streuung eine realistische Abschätzung des Therapieerfolgs ermöglicht werden, aber auch mögliche Ursachen für unerwartet schlechte Versorgungserfolge beleuchtet werden.

Patienten und Methode Die hier vorgestellten Daten wurden im Rahmen von Routinekontrollen von Hörgeräteträgern erhoben und a posteriori zusammengestellt. Entsprechend wurden nur die für die Versorgung rele-

vanten Daten erhoben. Eine Beurteilung durch eine Ethik-Kommission war daher nicht erforderlich. Für die aktuelle Datenauswertung wurden das Tonaudiogramm, das über Kopfhörer gemessene Sprachaudiogramm und das Verstehen mit Hörgerät im Freifeld in Ruhe verwendet. Alle Messungen erfolgten monaural.

Patienten Für diese Studie wurden Untersuchungen von 102 Patienten mit bilateralen sensorineuralen Hörverlusten, die sich zwischen Januar 2011 und Juli 2012 zur Überprüfung der Hörgeräte vorgestellt hatten, ausgewertet. Alle Patienten hatten ihre Hörgeräte über mindestens 3 Monate getragen. Etwa die Hälfte der Versorgungen waren Erstversorgungen (42 Patienten bzw. 74 Ohren). Die Auswahl des Hörgerätes und die technische Anpassung waren zum Zeitpunkt der Untersuchung abgeschlossen. Eine über die Audiometrie hinausgehende Überprüfung von Hörgeräteauswahl und -einstellung wurde nicht durchgeführt. Bei allen Probanden wurde vor der sprachaudiometrischen Testung eine technische Kontrolle der Hörgeräte durchgeführt. Alle waren höchstens 3 Monate vor der Überprüfung bei ihrem Hörgeräteakustiker zur Kontrolle der Hörgeräteeinstellung. Bei keinem der Probanden lagen offensichtliche geistige Einschränkungen vor, die eine sprachaudiometrische Testung beeinträchtigen könnten. Alle hatten Deutsch als Muttersprache. Insgesamt wurden die Daten von 47 Männern und HNO 6 · 2014 

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Datenanalyse

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mEV (%)

70 60 50 40 30 20 10 0

a

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b

0

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55 Frauen analysiert. Von den insgesamt 102 Probanden wurden 79 beidseits mit Hörgeräten versorgt, 23 trugen lediglich ein Hörgerät. Insgesamt wurden daher die Messungen an 181 Ohren in die Studie eingeschlossen. Das Alter variierte von 18 bis 90 Jahren und lag im Mittel bei 61 Jahren.

Messungen Bei allen Patienten lagen tonaudiometrische Tests vor. In die Auswertung wurden für jedes Ohr separat die Luftleitungshörschwellen bei 0,5; 1,2 und 4 kHz einbezogen und deren Mittelwert („four frequency puretone average“, 4FPTA) berechnet. Die Differenz von Luft- und Knochenleitung betrug maximal 5 dB. Aus dem Sprachaudiogramm (Freiburger Einsibertest) wurde insbesondere das maximal erreichbare Einsilberverstehen (mEV) abgelesen. Hierzu wurde zunächst das Einsilberverstehen bei 65 dB bestimmt. Anschließend wurde der Schallpegel um 10 bzw. 15 dB erhöht und erneut gemessen. Dies wurde soweit fortgesetzt bis ein Ver-

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Abb. 1 9 Maximales Einsilberverstehen (mEV, Freiburger Einsilbertest) mit Kopfhörer in Abhängigkeit vom mittleren Tonhörverlust (4FPTA) bei 0,5; 1,2 und 4 kHz als Scatterplot (a). Zusätzlich ist die an die Daten angepasste sigmoide Funktion dargestellt (durchgezogene Linie). b Zusammenfassung der Daten aus (a) als Boxplots mit einer Klassenbreite von 10 dB im Bereich von 25–85 dB. Die Zahlen in den „boxes“ bezeichnen die Größe der zugehörigen Gruppe. HL „hearing level“

stehen von 100% erreicht wurde oder bis der Schallpegel nicht mehr toleriert wurde. Der gerade nicht mehr tolerierte Pegel wurde als Unbehaglichkeitsschwelle definiert. Das Sprachverstehen mit Hörgerät wurde in einer schallisolierten Kabine mit 6∙6 m Grundfläche bei einem Sprachschallpegel von 65 dB im frontalen Schalleinfall gemessen. Der Lautsprecher befand sich dabei 1,5 m entfernt vom Probanden. Von diesen Messungen wurde das Einsilberverstehen in Ruhe bei 65 dB extrahiert. Aus der Literatur sind Schwächen des Freiburger Einsilbertests bekannt, die hier jedoch durch methodische Maßnahmen reduziert wurden: Es wurde die Reihenfolge der Einzelwörter innerhalb einer Testliste randomisiert, um Trainingseffekte zu reduzieren. Außerdem wurden die Listen 1, 3, 5, 14 und 15 nicht verwendet. Die Messungen erfolgten monaural. Für das Gegenohr wurde in aller Regel ein Standardgehörschutz verwendet, bei Seitendifferenzen über 20 dB wurde mittels Kopfhörer vertäubt.

In die primäre Datenanalyse wurde der tonaudiometrische Hörverlust der Hörgeräteträger und das mit Hörgerät bei 65 dB erreichte Einsilberverstehen einbezogen und durch eine sigmoide Funktion repräsentiert. Im Weiteren wurde der Einfluss vom Alter der Patienten auf das Sprachverstehen untersucht. Statistische Vergleiche des Medians wurden mittels Wilcoxon-Rangsummentest durchgeführt. Korrelationen wurden mit dem Verfahren nach Pearson berechnet.

Ergebnisse Einsilberverstehen im Sprachaudiogramm im Vergleich zum Tonaudiogramm In . Abb. 1 ist den Zusammenhang zwischen mEV und tonaudiometrischem Hörverlust als Scatterplot dargestellt. Bis zu Hörverlusten von 60 dB liegen alle mEV-Werte bei ≥60%. Bis zu Hörverlusten von 62 dB wurde noch ein mEV von 100% erreicht. Ab Hörverlusten von 60 dB finden sich Fälle, bei denen das mEV unterhalb von 50% liegt. Die Streuung ist im Bereich zwischen 60 und 70 dB am größten. So werden bei Hörverlusten von z. B. 65 dB mEV von 10 und 95% registriert. Die Abhängigkeit des maximalen Einsilberverstehens vom Hörverlust wurde durch eine sigmoide Funktion angenähert. Mit β0, β1 als Anpassparameter lässt sich das mEV in Abhängigkeit des 4FPTA darstellen als

Für die logistische Regression wurde das Newton-Rhapson-Verfahren verwendet. Dieses liefert für die Parameter

und

Zusammenfassung · Abstract Die Näherungsfunktion erlaubt das Ablesen von mittleren Sprachverstehensleistungen: Bei einem Hörverlust von 50 dB werden z. B. im Mittel 88% der Einsilber verstanden. Bei Hörverlusten von über 75 dB liegt das Sprachverstehen im Mittel unterhalb von 50%. Zwischen den Hörverlustwerten 25 und 85 dB wurden die Daten aus . Abb. 1 zu einem Boxplot von jeweils 10 dB Breite zusammengefasst. Die größten Streuungen liegen bei Hörverlusten von 70– 80 dB: Bei diesen Hörverlusten liegt das maximale Einsilberverstehen zwischen 5 und 95%.

Sprachverstehen mit Hörgerät in Abhängigkeit vom Tongehör Die Abhängigkeit des Einsilberverstehens mit Hörgerät bei 65 dB (EVHG) vom 4FPTA ist in . Abb. 2 als Scatterplot dargestellt. Auch das Sprachverstehen mit Hörgerät hängt im mittleren Hörverlustbereich besonders stark vom Hörverlust ab. Im Bereich um 60 dB streut das EV bei vergleichbarem 4FPTA am meisten. Die Daten wurden durch die oben genannte sigmoide Funktion angepasst. Mit den Parametern

und

ergibt sich die als durchgezogene Linie dargestellte Anpassfunktion. Analog zu .   Abb. 1 wurden die Daten in . Abb. 2 in Boxplots zusammengefasst. Es erlangten 75% der Patienten mit einem Hörverlust kleiner 35 dB über das Hörgerät ein Sprachverstehen von mindestens 85%. Hier wird schon bei Hörverlusten um 60 dB die größte Streuung für das Sprachverstehen mit Hörgerät beobachtet. Die Verstehensleistungen liegen zwischen 0 und 95%. Im Vergleich zum mEV ist das mit Hörgerät bei 65 dB erreichte Sprachverstehen EVHG reduziert. Dieser Unterschied ist aufgrund von Sättigungseffekten bei sehr kleinen und sehr großen Hörverlusten geringer. Bei Hörverlusten von 64,3 dB ist die Differenz der beiden Fitfunktionen mit den

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Sprachverstehen mit Hörgeräten in Abhängigkeit vom Tongehör Zusammenfassung Hintergrund.  Das Sprachverstehen als wichtigste soziale Aufgabe des Gehörs stellt einen wesentlichen Bestandteil in der Überprüfung von Hörgeräten dar. Gegenstand der Studie war die Bestimmung des Zusammenhangs zwischen tonaudiometrischem Hörverlust, maximalem Einsilberverstehen im Sprachaudiogramm und dem mit Hörgerät erreichten Einsilberverstehen bei Umgangssprachpegel. Material und Methoden.  Es wurden retrospektiv die Daten von 102 Patienten mit sensorineuralen Hörverlusten ausgewertet, deren Hörvermögen in der Einrichtung der Autoren überprüft wurden. Neben dem Tonund Sprachaudiogramm wurde das monaurale Einsilberverstehen bei 65 dB gemessen. Ergebnisse.  Das Sprachverstehen lässt sich als sigmoide monoton abnehmende Funktion des Hörverlustes darstellen. Die Abweichungen sind jedoch im Bereich von hoch-

gradigen Hörminderungen sehr groß. Das maximale Verstehen aus dem Sprachaudiogramm wird nur in wenigen Fällen mit Hörgeräten bei Umgangssprache erreicht. Oberhalb eines Lebensalters von 80 Jahren sind diese Diskrepanzen noch größer. Schlussfolgerung.  Das Einsilberverstehen mit Hörgerät lässt sich zwar für das Kollektiv darstellen, kann aber im Individualfall nicht aus dem Tongehör prognostiziert werden. In der Praxis liegt gerade bei höhergradigen Hörverlusten und bei älteren Patienten das Sprachverstehen mit Hörgeräten unter dem, was im Sprachaudiogramm maximal erreicht wird. Schlüsselwörter Freiburger Sprachtest · Hörstimulation · Sprachaudiometrie · Tonhörverlust · Senioren

Speech perception with hearing aids in comparison to pure-tone hearing loss Abstract Background and aim.  Speech perception is the most important social task of the auditory system. Consequently, speech audiometry is essential to evaluate hearing aid benefit. The aim of the study was to describe the correlation between pure-tone hearing loss and speech perception. In particular, pure-tone audiogram, speech audiogram, and speech perception with hearing aids were compared. Materials and methods.  In a retrospective study, 102 hearing aid users with bilateral sensorineural hearing loss were included. Pure-tone loss (PTA) was correlated to monosyllabic perception at 65 dB with hearing aid and with maximum monosyllabic perception with headphones. Results.  Speech perception as a function of hearing loss can be represented by a sigmoid function. However, for higher degrees

obigen Parametern maximal und liegt bei 30,0%. Die Anpassfunktion repräsentiert die mittlere Verstehensleistung mit Hörgerät bei einem bestimmten mittleren Tonhörverlust. Werte oberhalb (unterhalb) dieser Kurve stellen überdurchschnittliche (unterdurchschnittliche) Ergebnisse dar. Von den 74 Erstversorgungen (107 Lang-

of hearing loss, substantial deviations are observed. Maximum monosyllabic perception with headphones is usually not achieved with hearing aids at standard speech levels of 65 dB. Conclusion.  For larger groups, average puretone hearing loss and speech perception correlate significantly. However, prognosis for individuals is not possible. In particular for higher degrees of hearing loss substantial deviations could be observed. Speech performance with hearing aids cannot be predicted sufficiently from speech audiograms. Above the age of 80, speech perception is significantly worse. Keywords Freiburg Speech Test · Auditory stimulation  · Speech audiometry · Hearing loss · Elderly

zeitversorgungen) liegen 48 (46) oberhalb der Funktion und 26 (61) darunter. Diese schlechteren Verstehenswerte der Langzeitversorgten wurden mittels 4-Felder-Test getestet. Der Unterschied ist mit p

[Speech perception with hearing aids in comparison to pure-tone hearing loss].

Speech perception is the most important social task of the auditory system. Consequently, speech audiometry is essential to evaluate hearing aid benef...
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