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Sitz‑Hock‑Gips zur biomechanischen Behandlung dezentrierter Hüftgelenke Squatting Cast for Biomechanical Treatment of Decentred Hip Joints

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Sogenannte kongenitale Hüftgelenksluxationen kommen in Mitteleuropa mit einer Häufigkeit von ca. 0,5–1 % vor, wobei das Verhältnis Mädchen zu Jungen etwa 4 : 1 beträgt. Die Rate der „physiologisch“ unreifen Hüftgelenke bei Geburt beträgt bis zu 30 %. Durch die in den 80er‑Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Hüftsonografie nach Graf [1] kann ein Großteil der Folgeschäden durch eine frühzeitige Diagnostik und darauf aufbauende „sonografiegesteuerte“ konservative Behandlung [2] verhindert werden. Einen wesentlichen Bestandteil in der Behandlung dezentrierter Hüftgelenke stellt der Sitz‑Hock‑Gips dar. Er wurde in den 60er‑Jahren des 20. Jahrhunderts von Ewald Fettweis [3] pionierhaft eingeführt und basierend auf den pathomorphologischen Erkenntnissen der Hüftsonografie von Graf modifiziert. Der Sitz‑Hock‑Gips hilft, das Repositionsergebnis zu halten und somit eine weitere Nachreifung der Hüfte zu fördern und damit größere gelenkerhaltende Folgeoperationen [4] oder gar einen frühzeitigen endoprothetischen Ersatz zu vermeiden.

Einleitung !

Bei der häufigsten Form der sog. kongenitalen Hüftluxation dezentriert der Hüftkopf nach kraniolateral und verdrängt das knorpelige Pfannendach vorwiegend nach proximal, ein kleinerer Teil ist in Richtung Urpfanne deplatziert (Typ 3 nach Graf), die Kapsel ist locker.

Behandlungsphase 1: Reposition Im 1. Schritt ist es wichtig, den Hüftkopf wieder in der Urpfanne zu platzieren – als Hindernis kann der nach kaudal verdrängte Anteil des knorpeligen Pfannendachs den Eingang in die Urpfanne verengen. Als Mindestanforderung bei der Reposition ist zu verlangen, dass der Hüftkopf vor der Urpfanne platziert wird. Ohne Fixierung des Hüftkopfs vor der Ur-

pfanne kommt es sofort zur Reluxation: Der Hüftkopf springt wieder in die deformierte knorpelige Sekundärpfanne zurück.

Behandlungsphase 2: Retention Die Retention ist prinzipiell durch verschiedene Mittel möglich, wie z. B. die Pavlik‑Bandage oder – klassisch – der Sitz‑Hock‑Gips nach Fettweis‑Graf [3]. Die Mittelmeier‑Graf‑Spreizhose („Superior“) oder die Tübinger‑Schiene können in Ausnahmefällen bei ganz kleinen Babys versuchsweise zur Retention verwendet werden. Entscheidend ist, dass die gebeugte Repositionsstellung dauerhaft fixiert wird und zwischendurch die Beinchen nicht gestreckt werden können; d. h. der Kraftfluss darf nicht von kaudal nach proximal gehen, wie z. B. durch Extension des Beines. Aus diesem Grund bevorzugen wir in der biomechanisch heiklen Retentionsphase den Sitz‑Hock‑Gips, weil er unabhängig von der Compliance der Eltern ist und von diesen nicht heimlich entfernt werden kann! Der Hüftkopf kann in Abduktion in die Urpfanne gedrückt werden. Je mehr Abduktion, umso mehr Druck kommt auf den Femurkopf. Bei zu starker Kompression kommt es zu einem Zusammendrücken der Sinusoide im Femurkopf und im knorpeligen Pfannendach, wodurch eine Femurkopfnekrose provoziert werden kann. Die sogenannte Lorenz‑Stellung mit 90° Abduktion zerstört den Hüftkopf. Keine Abduktion führt zur Reluxation. Der Kompromiss liegt somit bei 45–50° (sog. „safe zone“). Besser ist es, den Hüftkopf von proximal nach kaudal zu lenken. Der Hüftkopf wird kaum gegen den hyalinen Knorpel gedrückt. Daraus folgt, dass es notwendig ist, die Hüfte zu beugen. Das Bein muss mindestens 100°, besser 110° flektiert werden, wodurch eine Abduktion von ca. 50–55° ohne nennenswertes Nekroserisiko möglich wird. Diese Sitz‑Hock‑Stellung (angloamerikanisch „Human Position“ nach Salter) oder Fettweis‑Stellung muss für 4 Wochen aufrechterhalten werden.

Video !

Das Kind wird in einer Allgemeinnarkose mit Maskenbeatmung vorbereitet. Für die korrekte Positionierung des Säuglings wird ein Lagerungsbehelf vorbereitet. Auf eine ausreichende Hautpflege (Babyöl) sollte vor Beginn der Gipsanlage geachtet werden. Es erfolgt die vorübergehende Einlage eines sog. „Fresspakets“ im Nabelbereich, um ausreichende Atemexkursionen und die Nahrungsaufnahme zu gewährleisten. Anschließend wird die Rollwatte angewickelt, wobei darauf zu achten ist, dass keine Falten entstehen. Es sollte etwas über die Kniekehle hinaus wattiert werden, um die Watte später für einen gepolsterten Gipsabschluss umbiegen zu können. Schaumstoff wird um den distalen Abdominalbereich gelegt, wobei darauf geachtet wird, dass er bis in Leistenbeuge geht. Anschließend erfolgt Umwickeln mit einer Lage Krepp, dieses kann und soll straff angewickelt werden. Die Wickeltechnik der Gipsbinden ist im Video im Detail nachvollziehbar: Die Binden werden zirkulär angewickelt, wobei zwischen beiden Oberschenkeln in Achtertouren abwechselnd ventral und dorsal gekreuzt wird und darauf zu achten ist, dass in den Leistenbeugen besonders gut anmodelliert wird. Je eine Longuette wird von vorne und von hinten angelegt und an die Oberschenkel parallel zur Analfalte anmodelliert. Zirkuläre Binden werden beginnend von kranial nach kaudal angewickelt. Diese fassen den Oberschenkel bis zum Knie ein. Die Unterschenkel ab der Kniekehle sollten dabei unbedingt frei gelassen werden, um Mikrobewegungen " Abb. 1). in der Hüfte zuzulassen (l Diese Mikrobewegungen fördern die Reposition des Hüftkopfs und vermeiden Nekrosen. Die Unterschenkel hängen, der Schwerkraft folgend, nach unten – dadurch kommt es zu einer tendenziellen Innenrotation und Kaudalposition des Hüftkopfs in der Pfanne; der Hüftkopf positioniert sich individuell selbst in die stabilste Position.

Mühlbacher E et al. Sitz-Hock-Gips zur biomechanischen …

Z Orthop Unfall 2014; 152: 551–552

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

Zusammenfassung

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Abstract !

The so-called “congenital” luxation of the hip joint is endemic in Central Europe and occurs in about 1 % of all newborn infants. By the means of ultrasonographic diagnosis according to the Graf method an early detection instantly after birth has become a good clinical routine in the German-speaking countries. Sonography-based conservative treatment has become the gold standard. The cast in squatting (“human”)

Abb. 1 Anmodellieren des Gipses.

ten Tag (nach vollständiger Trocknung des Gipses) noch ein MRI zur genaueren Kontrolle des Repositionsergebnisses durchgeführt werden.

E. Mühlbacher, W. Lick-Schiffer, M. Lojpur, F. Baumgartner, T. Spieß, C. Tschauner Orthopädie, LKH Stolzalpe, Österreich Literatur

Abb. 2 Halteposition zum Aushärten des Gipses.

Nachbehandlung !

Vor dem Aushärten ist es essenziell, in die Sitz‑Hock‑Stellung zu gehen und durch Hebelbewegung das korrekte Repositionsergebnis zu erreichen. Ein leichter Gipseindruck wird dorsal durch das Repositionsmanöver und die Hebelbewegung erreicht. In dieser Repositionsstellung (100 ° Flexion und 50° Abduktion) sollten nun die Beine bis zum vollständigen Aushär" Abb. 2). ten festgehalten werden (l Es ist dabei auf jeden Fall darauf zu achten, dass die Flexion von ca. 100–110° und die Abduktion von ca. 50–55° eingehalten werden. Wenn der Gips ausgehärtet ist, wird das „Fresspaket“ entfernt. Inzwischen wird der Gips ausgefertigt und mit einer Lage Kunststoffbinden verstärkt. Scharfe Kanten werden entfernt, die Glutealregion ausgeschnitten, um die Körperpflege zu gewährleisten. Optional erfolgt unmittelbar postoperativ eine nativ‑radiologische (2‑dimensional) oder sonografische (Gipsfenster) Kontrolle, ob das Repositionsergebnis zufriedenstellend ist. Wenn verfügbar, kann am nächs-

position is a standard procedure in order to retain the originally decentred or unstable hip joints in the reduced position: 100° flexion and 50° abduction are necessary to fix the hip joint in the reduced position without the risk of avascular necrosis. After the fixation in a squatting-cast, a period of functional bracing in flexed position enhances bony maturation. This two-phase functional conservative treatment can avoid later osteotomies or even early total hip replacement.

Der Sitz‑Hock‑Gips nach Fettweis‑Graf wird routinemäßig für 4 Wochen belassen. Nach Gipsabnahme erfolgt eine Sonografiekontrolle und eventuell die Anlage eines 2. Sitz‑Hock‑Gipses je nach Nachreifungsergebnis.

Verlaufskontrollen

1 Graf R, Lercher K, Tschauner C et al. Sonographie der Säuglingshüfte und therapeutische Konsequenzen. Ein Kompendium. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2010 2 Tschauner C. Was ist von einer standardisierten sonographiegesteuerten Therapie zu erwarten? Jatros 2010; 15: 22–23 3 Fettweis E. [Sit‑crouch‑position‑plaster in hip joint dysplasies]. Arch Orthop Unfallchir 1968; 63: 38–51 4 Tschauner C. [The biomechanics of coxarthrosis in the young adult–prevention joint preserving and therapeutic options]. Z OrthopUnfall 2007; 145: 369–386

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Nach Abschluss jeder biomechanischen Behandlung sollten standardisierte Beckenübersichtsröntgen bei Gehbeginn, vor Einschulung und vor dem pubertären Wachstumsschub (sog. „Meilensteinröntgen“) durchgeführt werden. Ein Abschlussröntgen mit 18 Jahren soll die (erwünschte) knöcherne Ausreifung abschließend dokumentieren. Der Link zum Video: http://tiny.cc/ zfou_video_6_2014

Interessenkonflikt: Nein

Mühlbacher E et al. Sitz-Hock-Gips zur biomechanischen …

Z Orthop Unfall 2014; 152: 551–552

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-1383102 Z Orthop Unfall 2014; 152: 551–552 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 1864‑6697 Korrespondenzadresse Dr. Eva Mühlbacher Orthopädie LKH Stolzalpe Stolzalpe 38 A‑8852 Stolzalpe Österreich Tel.: + 43/35 32/2 42 40 Fax: + 43/35 32/24 24 34 00 eva.mühlbacher@lkh‑stolzalpe.at

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[Squatting cast for biomechanical treatment of decentred hip joints].

The so-called "congenital" luxation of the hip joint is endemic in Central Europe and occurs in about 1% of all newborn infants. By the means of ultra...
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